Was heißt das eigentlich, Deutschsein? Wald und Eichenlaub, Goethe und Schiller, Zivilisationsbruch und alte Schuld? Jeder Deutsche hat Bilder von Deutschland im Kopf, doch kaum einer hat eine Sprache für das diffus empfundene, halb verdrängte, halb ersehnte Nationalgefühl.Was bedeutet deutsch? Zafer Senocak wagt sich an diese Frage, der wir viel zu lange ausgewichen sind. Sie mag unangenehm sein, in Wahrheit ist sie aber längst überfällig - wie die Hitzigkeit und Hilflosigkeit der Integrationsdebatten zeigen. Weil die Deutschen keinen positiven Begriff davon haben, wer sie sind, haben sie auch keine Vision für eine offene Gesellschaft, die sich nicht über die Abgrenzung des Fremden definiert. Die politische Korrektheit des Amtsdeutschen ersetzt noch immer den Willkommensgruß an jene, die im Einwanderungsland Deutschland längst ein Zuhause gefunden haben.Was könnte deutsch sein? Zafer Senocak ruft uns die universellen Werte der Aufklärung in Erinnerung: Statt weiterhin auf Ängsten und Vorur teilen zu beharren, wird man mit dem Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, eine bessere Basis für das Zusammenleben finden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2011Farbklänge
Das Projekt Integration
"Sprache fließt, berührt und erzeugt Lust. Nichts ist von dieser Lust spürbar, wenn in Deutschland über Integration und Sprachdefizite gesprochen wird. Es herrscht die kühle Atmosphäre eines Labors." Der in der Türkei als Sohn türkischer Eltern geborene, seit dem achten Lebensjahr in Deutschland lebende "deutsche Schriftsteller" Zafer Senocak, der erst in Deutschland dessen Sprache lernte, wählte mit der Analyse der Sprache einen originellen Zugang zum Thema der Integration - und dies in brillanter Diktion. In immer neuen Anläufen kommt er zu dem Ergebnis, dass die Deutschen selbst nur "gebrochenes Deutsch" sprechen. Er meint damit die Ausklammerung von Tabufeldern aus der Identitätsfindung. Dies wiederum fördere die selektive Wahrnehmung einer homogenen Volkseinheit. Aus Psychosen erwächst die Angst vor dem Fremden. Der Verfasser konstatiert zu recht die Fortdauer einer "völkischen, abstammungszentrierten Grundlage des deutschen Selbstverständnisses", die selbst eine "assimilatorische Integration verhindere". Er erinnert stattdessen an das kosmopolitische Erbe aus der vornationalistischen Epoche, der Aufklärung, als die Werte der "westlichen Zivilisation" keine nationalen Grenzen kannten und als sich - wie bei Goethe und Kant - viele Berührungspunkte zur islamischen Kultur fanden. Ein schönes Kapitel ist Thomas Manns Läuterung von einem deutschen Kulturbegriff zur Weltbürgerschaft gewidmet.
Besonders spannend ist die biographische Darstellung der Symbiose von Deutschsein und Türkischsein des Autors: einmal die Dialektik der Zweisprachigkeit des Autors, der deutsch schreibt, aber mit "türkischen Farbklängen im Ohr", und zum andern die Entwicklung seiner "Bikulturalität". Als er sich nämlich im Alter von 30 Jahren in Deutschland einbürgerte, sei die Entfremdung von Deutschland, mit dem er sich eindeutig identifizierte, stufenweise gewachsen. Immer wieder sei er als Türke betrachtet worden. Er aber habe sich als "Teil eines innerdeutschen Dialogs" gefühlt. Seit er Deutscher sei, kümmere er sich viel stärker um sein "türkisches Potential" und sehe darin keinen Widerspruch. An dieser Stelle wird deutlich, welche Bereicherung Migration für Deutschland bedeuten kann. Senocak verweist auf die Vielfalt des Islam und ist besonders stolz auf die Modernisierungsgeschichte der Türkei, einen "Zivilisationsentwurf" und "eine der großen Kulturrevolutionen der Menschheitsgeschichte" - allerdings auch mit negativen Begleiterscheinungen wie dem Nationalismus und seinen mörderischen Folgen. Diese Seite einer ebenfalls gebrochenen türkischen Identität kommt in dem Buch allerdings zu kurz. Insgesamt gelingt es dem Autor jedoch, das Thema der Integration als großartiges Menschheitsprojekt zu präsentieren - als Vermächtnis seiner eigenen Herkunft.
WOLFGANG JÄGER
Zafer Senocak: Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift. Edition Körber Stiftung, Hamburg 2011. 190 S., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Projekt Integration
"Sprache fließt, berührt und erzeugt Lust. Nichts ist von dieser Lust spürbar, wenn in Deutschland über Integration und Sprachdefizite gesprochen wird. Es herrscht die kühle Atmosphäre eines Labors." Der in der Türkei als Sohn türkischer Eltern geborene, seit dem achten Lebensjahr in Deutschland lebende "deutsche Schriftsteller" Zafer Senocak, der erst in Deutschland dessen Sprache lernte, wählte mit der Analyse der Sprache einen originellen Zugang zum Thema der Integration - und dies in brillanter Diktion. In immer neuen Anläufen kommt er zu dem Ergebnis, dass die Deutschen selbst nur "gebrochenes Deutsch" sprechen. Er meint damit die Ausklammerung von Tabufeldern aus der Identitätsfindung. Dies wiederum fördere die selektive Wahrnehmung einer homogenen Volkseinheit. Aus Psychosen erwächst die Angst vor dem Fremden. Der Verfasser konstatiert zu recht die Fortdauer einer "völkischen, abstammungszentrierten Grundlage des deutschen Selbstverständnisses", die selbst eine "assimilatorische Integration verhindere". Er erinnert stattdessen an das kosmopolitische Erbe aus der vornationalistischen Epoche, der Aufklärung, als die Werte der "westlichen Zivilisation" keine nationalen Grenzen kannten und als sich - wie bei Goethe und Kant - viele Berührungspunkte zur islamischen Kultur fanden. Ein schönes Kapitel ist Thomas Manns Läuterung von einem deutschen Kulturbegriff zur Weltbürgerschaft gewidmet.
Besonders spannend ist die biographische Darstellung der Symbiose von Deutschsein und Türkischsein des Autors: einmal die Dialektik der Zweisprachigkeit des Autors, der deutsch schreibt, aber mit "türkischen Farbklängen im Ohr", und zum andern die Entwicklung seiner "Bikulturalität". Als er sich nämlich im Alter von 30 Jahren in Deutschland einbürgerte, sei die Entfremdung von Deutschland, mit dem er sich eindeutig identifizierte, stufenweise gewachsen. Immer wieder sei er als Türke betrachtet worden. Er aber habe sich als "Teil eines innerdeutschen Dialogs" gefühlt. Seit er Deutscher sei, kümmere er sich viel stärker um sein "türkisches Potential" und sehe darin keinen Widerspruch. An dieser Stelle wird deutlich, welche Bereicherung Migration für Deutschland bedeuten kann. Senocak verweist auf die Vielfalt des Islam und ist besonders stolz auf die Modernisierungsgeschichte der Türkei, einen "Zivilisationsentwurf" und "eine der großen Kulturrevolutionen der Menschheitsgeschichte" - allerdings auch mit negativen Begleiterscheinungen wie dem Nationalismus und seinen mörderischen Folgen. Diese Seite einer ebenfalls gebrochenen türkischen Identität kommt in dem Buch allerdings zu kurz. Insgesamt gelingt es dem Autor jedoch, das Thema der Integration als großartiges Menschheitsprojekt zu präsentieren - als Vermächtnis seiner eigenen Herkunft.
WOLFGANG JÄGER
Zafer Senocak: Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift. Edition Körber Stiftung, Hamburg 2011. 190 S., 16,- [Euro].
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