Zu Silvester 2009 verabreden sich im Hotel "Waldhaus" zu Sils Maria (Engadin) Gerhard Richter und Alexander Kluge zu einer Zusammenarbeit. Richter friert die dezemberliche Natur des graubündischen Hochgebirges in 39 Farbfotografien ein. Kluge stellt diesen kontemplativen Bildern seine Texte gegenüber. So nähern sich beide dem Phänomen Dezember. Dieses Buch enthält 39 Bilder und 39 Kalendergeschichten plus einer Coda, mit subversiven Moralitäten und Lehren aus der Geschichte, die alles andere versuchen als einzulullen in die kindheitsseligen Verlockungen eines für die globale, nationale und private Geschichte Jahr für Jahr fatalen Monats. Ein Dezemberbuch, ein Buch zu Weihnachten, ein Buch für alle Zeiten des Jahres.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2010Dezember,
rot angelaufen
Kluges Texte, Richters Bilder
Auf dem Umschlag des Buches fällt es nicht sogleich ins Auge, im Innern schon: Die verschneiten Bäume sind rot angelaufen. Nicht auf den Schnee, der sie bedeckt, hat sich das dunkle Rot gelegt (dann wäre es ein kitschiger Blutstropfen), es läuft wie ein dünner Faden an den Ästen und Zweigen der Nadelbäume entlang, wo sie kahl sind. Und wenn an den Laubbäumen noch welke Blätter hängen, färbt das Rot sie insgesamt. Wie ein Weihnachtsschmuck sieht das nicht aus. Dass der Wald aus Scham rot angelaufen ist, mag man auch nicht recht glauben. Wahrscheinlich ist das Rot, dem das Auge beim Wandern durch die Schneebilder gerne folgt, einfach: Kunst.
Die Fotografien stammen von Gerhard Richter. Sie sind Ende Dezember 2009 im Engadin entstanden, als der Künstler sich zu Silvester im Hotel „Waldhaus“ in Sils Maria mit dem Autor und Filmemacher Alexander Kluge getroffen hat. Die beiden sind, so sagen sie, „Zeitverwandte“, der Maler ist am 9. Februar 1932 in Dresden, der Autor und Filmemacher am 14. Februar 1932 in Halberstadt geboren. Zu den 39 Bildern Richters hat Kluge 39 Geschichten beigesteuert, und schon diese Zahl verrät, dass er zwar gern mit der Form der Kalendergeschichte hantiert, sich aber nur selten an sie hält. Denn er hat mehr zu erzählen, als der Kalender verlangt und die Nachrichtenagenturen hergeben.
Ehe er von der Entstehung des Dezember, Kalendern überhaupt und den Tücken von Kalenderreformen erzählt, öffnet Kluge vom 1. bis zum 31. Dezember Türchen, durch die Kluge-Geschichten eintreten. Sie handeln von aussichtslosen Projekten an der Ostfront im Winter 1941, von Gorbatschow vor seinem Rücktritt im Dezember 1991, von einem Fast-Unfall Hitlers 1931 bei der Rückfahrt von Goebbels’ Hochzeit in Mecklenburg. Sie koppeln die Lage der griechischen Staatsfinanzen im Dezember 2009 mit den Stabilisierungsintrigen der Deutschen für die Drachme im besetzten Griechenland im Dezember 1941. Sie schmuggeln fiktive Personen, Ereignisse und Nachrichten in die Kalender der Vergangenheit und jüngsten Gegenwart.
Die Religion wird hier von außen betrachtet. Darum gibt es keinen Advent. Aber unter dem Datum des 24. Dezember die Geschichte einer Zangengeburt, die glückt, obwohl der Arzt schon vier Schnäpse intus hat. Vorbildlich ist die sachliche Anteilnahme an den Bewegungen der Hohen Zange gegen alle Sentimentalität abgedichtet. Aber dann ist auch bei Alexander Kluge Heiligabend: „Die Hebamme, die, wie ein Hirte auf dem Felde, mit Tüchern und Heißwasser im Umkreis gewartet hat, ergreift das Bündel, hält es senkrecht, erzwingt den Schrei. Kindspech tropft.“ Die Hirten Hebammen, die Hebamme ein Hirte – so ist der Dezember.
LOTHAR MÜLLER
Alexander Kluge / Gerhard Richter
Dezember
39 Geschichten. 39 Bilder.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
126 Seiten, 19,90 Euro.
Eine Zangengeburt am
24. Dezember glückt, obwohl
der Arzt vier Schnäpse hatte
Nein, das ist kein Lametta. Fotos: Gerhard Richter / Suhrkamp
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rot angelaufen
Kluges Texte, Richters Bilder
Auf dem Umschlag des Buches fällt es nicht sogleich ins Auge, im Innern schon: Die verschneiten Bäume sind rot angelaufen. Nicht auf den Schnee, der sie bedeckt, hat sich das dunkle Rot gelegt (dann wäre es ein kitschiger Blutstropfen), es läuft wie ein dünner Faden an den Ästen und Zweigen der Nadelbäume entlang, wo sie kahl sind. Und wenn an den Laubbäumen noch welke Blätter hängen, färbt das Rot sie insgesamt. Wie ein Weihnachtsschmuck sieht das nicht aus. Dass der Wald aus Scham rot angelaufen ist, mag man auch nicht recht glauben. Wahrscheinlich ist das Rot, dem das Auge beim Wandern durch die Schneebilder gerne folgt, einfach: Kunst.
Die Fotografien stammen von Gerhard Richter. Sie sind Ende Dezember 2009 im Engadin entstanden, als der Künstler sich zu Silvester im Hotel „Waldhaus“ in Sils Maria mit dem Autor und Filmemacher Alexander Kluge getroffen hat. Die beiden sind, so sagen sie, „Zeitverwandte“, der Maler ist am 9. Februar 1932 in Dresden, der Autor und Filmemacher am 14. Februar 1932 in Halberstadt geboren. Zu den 39 Bildern Richters hat Kluge 39 Geschichten beigesteuert, und schon diese Zahl verrät, dass er zwar gern mit der Form der Kalendergeschichte hantiert, sich aber nur selten an sie hält. Denn er hat mehr zu erzählen, als der Kalender verlangt und die Nachrichtenagenturen hergeben.
Ehe er von der Entstehung des Dezember, Kalendern überhaupt und den Tücken von Kalenderreformen erzählt, öffnet Kluge vom 1. bis zum 31. Dezember Türchen, durch die Kluge-Geschichten eintreten. Sie handeln von aussichtslosen Projekten an der Ostfront im Winter 1941, von Gorbatschow vor seinem Rücktritt im Dezember 1991, von einem Fast-Unfall Hitlers 1931 bei der Rückfahrt von Goebbels’ Hochzeit in Mecklenburg. Sie koppeln die Lage der griechischen Staatsfinanzen im Dezember 2009 mit den Stabilisierungsintrigen der Deutschen für die Drachme im besetzten Griechenland im Dezember 1941. Sie schmuggeln fiktive Personen, Ereignisse und Nachrichten in die Kalender der Vergangenheit und jüngsten Gegenwart.
Die Religion wird hier von außen betrachtet. Darum gibt es keinen Advent. Aber unter dem Datum des 24. Dezember die Geschichte einer Zangengeburt, die glückt, obwohl der Arzt schon vier Schnäpse intus hat. Vorbildlich ist die sachliche Anteilnahme an den Bewegungen der Hohen Zange gegen alle Sentimentalität abgedichtet. Aber dann ist auch bei Alexander Kluge Heiligabend: „Die Hebamme, die, wie ein Hirte auf dem Felde, mit Tüchern und Heißwasser im Umkreis gewartet hat, ergreift das Bündel, hält es senkrecht, erzwingt den Schrei. Kindspech tropft.“ Die Hirten Hebammen, die Hebamme ein Hirte – so ist der Dezember.
LOTHAR MÜLLER
Alexander Kluge / Gerhard Richter
Dezember
39 Geschichten. 39 Bilder.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
126 Seiten, 19,90 Euro.
Eine Zangengeburt am
24. Dezember glückt, obwohl
der Arzt vier Schnäpse hatte
Nein, das ist kein Lametta. Fotos: Gerhard Richter / Suhrkamp
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