Wollte man sich die Bewegung der historischen Avantgardekunst in einer Geste emblematisch zusammengefaßt vorstellen, so wäre das die Geste von jemandem, der bis dahin längere Zeit im Schatten der Selbsterhaltung, auf den dämmrigen Wegen der Vernunft und des Sinns ordentlich voranschritt, und der nun plötzlich der Sonne oder der Gorgo Medusa ins Gesicht sieht. Die Grenzen der Dinge und seiner selbst werden sich verflüssigen, auflösen, und er wird entweder erstarren und versteinern oder in eine rasende, fiebrige, ekstatische Erregung verfallen. Die für die historische Avantgarde so charakteristische "Negativität des Triebverwerfens", welche zur "Subversion der symbolischen Funktion" der Sprache drängt (Kristeva), verwirklicht sich nicht zuletzt in dieser ästhetischen Lust am Überschreiten der Grenzen der semantischen Felder und Kategorien, in der Lust an ästhetischen Konstellationen, die den sie bildenden Zeichenelementen eine solch gewaltsame Übertretung abverlangen. Doch die innovativen poetischen Gleichungen setzen, gerade um die Negativität ihres Verfahrens zu erhalten, ihr ekstatisches Feuer in der Sprachordnung lodern zu lassen, zwingend voraus, daß die Differenzen noch in der Negation wirksam, spürbar und zugänglich bleiben. Sie unterstellen eine dynamische Kultur der Differenzen und Grenzziehungen, welche - statt naturwüchsig, traditional oder kollektiv verbindlich vorgegeben zu sein - ständig in Frage gestellt, verwandelt und verschoben werden. Ihre Spannung und Dynamik schließt ein dialektisches Spiel von Grenze und Übertretung, Differenz und Identität, Sinn und Un-Sinn zwingend ein. Über die geschichtliche Kluft hinweg versuchen die vorliegenden Aufsätze, Impulse, Atmosphären, Muster, den 'lebendigen Geist' des Projekts der radikalen Moderne wachzuhalten, ausgehend von ihren Herolden, Hegel, Poe und Baudelaire, über Symbolisten und Surrealisten, über Klassiker der deutschen literarischen Avantgarde, wie Rilke, Benn, Döblin, Kafka bis hin zu zeitgenössischen Autoren wie Kluge und Handke.