Dialektik und Rhetorik waren im mittelalterlichen Alltag allgegenwärtig. Die klassischen Schuldisziplinen, Grundlage scholastischer Wissenschaft, stehen im Zentrum dieses Sammelbandes. Die Autoren beschäftigen sich jeweils exemplarisch damit, welche sozialen, politischen aber auch moralischen Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung die Omnipräsenz der rhetorischen und dialektischen Methoden hatte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.1997Bürokratie mit Stil
Die mittelalterliche Rhetorik in Briefen und Streitschriften
Dialektik und Rhetorik sind dem Begriff und der Sache nach Errungenschaften des griechisch-römischen Altertums, eingebettet in das damalige System höherer Bildung, die politische und gerichtliche Praxis wie auch den literarischen Betrieb. Jede ihrer späteren "Renaissancen" setzte den Zugang zur antiken Überlieferung wie auch einen praktischen Zweck voraus, der die Mühe der Aneignung lohnte. Beiden Aspekten widmet sich mit Bezug auf die Zeitspanne von etwa 800 bis 1200 der vorliegende Sammelband, der aus einem von Johannes Fried konzipierten internationalen Kolloquium während seines Gastjahres am Historischen Kolleg in München erwachsen ist.
Vom neunten und vom zwölften Jahrhundert handelt David E. Luscombe, der in seinem Auftaktreferat darlegt, der Rückgriff auf Dialektik und Rhetorik im Rahmen des klassischen Schulkanons der "Sieben Freien Künste" habe im Hochmittelalter große Breitenwirkung und vielfältige praktische Konsequenzen, etwa in Briefkultur und Dichtungstheorie, gezeitigt, sei aber auch bereits in Konkurrenz zu anderen Konzepten der Wissensorganisation geraten. Auf die karolingische Epoche blickt Claudio Leonardi. Er befaßt sich mit Alkuins "Dialog über die Rhetorik und die Tugenden", in dem Karl der Große im fiktiven Lehrgespräch kritisiert, Xenophon sei nicht rechtgläubig gewesen. Als Alkuin entgegnet, er sei zwar nicht rechtgläubig, aber ein Rhetoriker gewesen, macht Karl den Einwand: "Warum glauben wir ihm dann?", und erhält zur Antwort: "Er ist seiner Kunst (ars) gefolgt."
Um die konsequente, Schritt für Schritt methodisch kontrollierte Anwendung eines Regelsystems ging es im späteren neunten Jahrhundert auch dem Iren Johannes Eriugena, der nach der Analyse von Gangolf Schrimpf die als Logik verstandene Dialektik dazu benutzte, autoritative Aussagen der Bibel (etwa zum Problem der Eschatologie) mit rein begrifflichen Schlußfolgerungen in Einklang zu bringen. John Marenbon zeigt die handschriftlichen Spuren der frühen tastenden Versuche zur Adaptation des Überkommenen: glossierende Erläuterungen in Manuskripten zu den von Boethius ins Lateinische übersetzten Kategorien und Hermeneutika des Aristoteles, die durchaus Wandlungen im Interesse und Verständnis der Benutzer erkennen lassen.
Der Streitschriftenliteratur aus dem Investiturstreit schenkt Wilfried Hartmann Aufmerksamkeit. Er kommt zu dem Befund, daß die Verwendung dialektischer oder rhetorischer Grundbegriffe keineswegs im ganzen kennzeichnend für den Denkstil der Gattung gewesen sei, denn sie habe zum Arsenal nur weniger Autoren gehört, während andere Schriftsteller sichtliche Distanz etwa zum syllogistischen Polemisieren wahrten, wenn sie sich nicht gar ausdrücklich dagegen erklärten. Den Weg zur rhetorischen Renaissance des zwölften Jahrhunderts zeichnet dann aber John Van Engen mit einer sehr dichten Untersuchung der Briefliteratur nach. Hier ging die Saat des Unterrichts in Grammatik, Dialektik und Rhetorik auf, und eine Kultur des Austauschs einer internationalen Bildungselite trat zutage.
Peter von Moos behandelt dasselbe Phänomen mehr aus dem Blickwinkel der zahlreichen didaktischen Anleitungen zum rechten Briefstil, zur Predigt und zur öffentlichen Rede, die manchen Einblick in die schulmäßige Vermittlung solcher Fertigkeiten wie auch die gewandelten gesellschaftlichen Bedürfnisse im zwölften Jahrhundert gewähren. Letztlich waren es gesteigerte Ansprüche an eine überzeugende Argumentation, die diese Anspannung der Kräfte auslösten. Von speziellerem Interesse sind die Beiträge von Gerhard Otte über den Nutzen, den frühe Glossatoren des wiederentdeckten römischen Rechts bei der Durchdringung der Quellenmassen aus ihrer dialektischen Schulung zogen, sowie von Franz Kerff, der an Urkunden aus dem Bistum Tournai eine fortschreitende Fähigkeit zur begrifflichen Differenzierung kirchlicher Besitz- und Zuständigkeitsverhältnisse beobachtet.
Am originellsten ist Ludolf Kuchenbuchs Beschäftigung mit den Schriftzeugnissen aus ländlichen Grundherrschaften. Diese vermeintlich dürren Aufzeichnungen von Orts- und Personennamen, verknüpft mit Zahlen über Erträge und Abgaben, mehr zum Nachschlagen als zum Lesen gedacht, unterlagen freilich manchem Wandel in ihrem Erscheinungsbild. Kuchenbuch bringt drei Tendenzen auf den Begriff: "deskriptive Konkretion" (wachsende Genauigkeit in der Bezeichnung der Objekte, ihrer Bewirtschaftung und Rechtsverhältnisse), "begriffliche und ordinative Systematik" (ein steigendes Maß an praxisorientierter Übersichtlichkeit) und "domaniale Rechenhaftigkeit", die Rückschlüsse auf zielgerichtetes ökonomisches Denken nahelegt. Kuchenbuch vermutet, daß auch dieser historische Fortschritt "ohne die Wirkungen jahrhundertelanger Schulung (in Grammatik, Dialektik, Rhetorik) kaum denkbar" wäre. RUDOLF SCHIEFFER
Johannes Fried (Hrsg.): "Dialektik und Rhetorik im früheren und hohen Mittelalter". Rezeption, Überlieferung und gesellschaftliche Wirkung antiker Gelehrsamkeit vornehmlich im 9. und 12. Jahrhundert. Oldenbourg Verlag, München 1997. XXI, 304 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die mittelalterliche Rhetorik in Briefen und Streitschriften
Dialektik und Rhetorik sind dem Begriff und der Sache nach Errungenschaften des griechisch-römischen Altertums, eingebettet in das damalige System höherer Bildung, die politische und gerichtliche Praxis wie auch den literarischen Betrieb. Jede ihrer späteren "Renaissancen" setzte den Zugang zur antiken Überlieferung wie auch einen praktischen Zweck voraus, der die Mühe der Aneignung lohnte. Beiden Aspekten widmet sich mit Bezug auf die Zeitspanne von etwa 800 bis 1200 der vorliegende Sammelband, der aus einem von Johannes Fried konzipierten internationalen Kolloquium während seines Gastjahres am Historischen Kolleg in München erwachsen ist.
Vom neunten und vom zwölften Jahrhundert handelt David E. Luscombe, der in seinem Auftaktreferat darlegt, der Rückgriff auf Dialektik und Rhetorik im Rahmen des klassischen Schulkanons der "Sieben Freien Künste" habe im Hochmittelalter große Breitenwirkung und vielfältige praktische Konsequenzen, etwa in Briefkultur und Dichtungstheorie, gezeitigt, sei aber auch bereits in Konkurrenz zu anderen Konzepten der Wissensorganisation geraten. Auf die karolingische Epoche blickt Claudio Leonardi. Er befaßt sich mit Alkuins "Dialog über die Rhetorik und die Tugenden", in dem Karl der Große im fiktiven Lehrgespräch kritisiert, Xenophon sei nicht rechtgläubig gewesen. Als Alkuin entgegnet, er sei zwar nicht rechtgläubig, aber ein Rhetoriker gewesen, macht Karl den Einwand: "Warum glauben wir ihm dann?", und erhält zur Antwort: "Er ist seiner Kunst (ars) gefolgt."
Um die konsequente, Schritt für Schritt methodisch kontrollierte Anwendung eines Regelsystems ging es im späteren neunten Jahrhundert auch dem Iren Johannes Eriugena, der nach der Analyse von Gangolf Schrimpf die als Logik verstandene Dialektik dazu benutzte, autoritative Aussagen der Bibel (etwa zum Problem der Eschatologie) mit rein begrifflichen Schlußfolgerungen in Einklang zu bringen. John Marenbon zeigt die handschriftlichen Spuren der frühen tastenden Versuche zur Adaptation des Überkommenen: glossierende Erläuterungen in Manuskripten zu den von Boethius ins Lateinische übersetzten Kategorien und Hermeneutika des Aristoteles, die durchaus Wandlungen im Interesse und Verständnis der Benutzer erkennen lassen.
Der Streitschriftenliteratur aus dem Investiturstreit schenkt Wilfried Hartmann Aufmerksamkeit. Er kommt zu dem Befund, daß die Verwendung dialektischer oder rhetorischer Grundbegriffe keineswegs im ganzen kennzeichnend für den Denkstil der Gattung gewesen sei, denn sie habe zum Arsenal nur weniger Autoren gehört, während andere Schriftsteller sichtliche Distanz etwa zum syllogistischen Polemisieren wahrten, wenn sie sich nicht gar ausdrücklich dagegen erklärten. Den Weg zur rhetorischen Renaissance des zwölften Jahrhunderts zeichnet dann aber John Van Engen mit einer sehr dichten Untersuchung der Briefliteratur nach. Hier ging die Saat des Unterrichts in Grammatik, Dialektik und Rhetorik auf, und eine Kultur des Austauschs einer internationalen Bildungselite trat zutage.
Peter von Moos behandelt dasselbe Phänomen mehr aus dem Blickwinkel der zahlreichen didaktischen Anleitungen zum rechten Briefstil, zur Predigt und zur öffentlichen Rede, die manchen Einblick in die schulmäßige Vermittlung solcher Fertigkeiten wie auch die gewandelten gesellschaftlichen Bedürfnisse im zwölften Jahrhundert gewähren. Letztlich waren es gesteigerte Ansprüche an eine überzeugende Argumentation, die diese Anspannung der Kräfte auslösten. Von speziellerem Interesse sind die Beiträge von Gerhard Otte über den Nutzen, den frühe Glossatoren des wiederentdeckten römischen Rechts bei der Durchdringung der Quellenmassen aus ihrer dialektischen Schulung zogen, sowie von Franz Kerff, der an Urkunden aus dem Bistum Tournai eine fortschreitende Fähigkeit zur begrifflichen Differenzierung kirchlicher Besitz- und Zuständigkeitsverhältnisse beobachtet.
Am originellsten ist Ludolf Kuchenbuchs Beschäftigung mit den Schriftzeugnissen aus ländlichen Grundherrschaften. Diese vermeintlich dürren Aufzeichnungen von Orts- und Personennamen, verknüpft mit Zahlen über Erträge und Abgaben, mehr zum Nachschlagen als zum Lesen gedacht, unterlagen freilich manchem Wandel in ihrem Erscheinungsbild. Kuchenbuch bringt drei Tendenzen auf den Begriff: "deskriptive Konkretion" (wachsende Genauigkeit in der Bezeichnung der Objekte, ihrer Bewirtschaftung und Rechtsverhältnisse), "begriffliche und ordinative Systematik" (ein steigendes Maß an praxisorientierter Übersichtlichkeit) und "domaniale Rechenhaftigkeit", die Rückschlüsse auf zielgerichtetes ökonomisches Denken nahelegt. Kuchenbuch vermutet, daß auch dieser historische Fortschritt "ohne die Wirkungen jahrhundertelanger Schulung (in Grammatik, Dialektik, Rhetorik) kaum denkbar" wäre. RUDOLF SCHIEFFER
Johannes Fried (Hrsg.): "Dialektik und Rhetorik im früheren und hohen Mittelalter". Rezeption, Überlieferung und gesellschaftliche Wirkung antiker Gelehrsamkeit vornehmlich im 9. und 12. Jahrhundert. Oldenbourg Verlag, München 1997. XXI, 304 S., geb., 98,- DM.
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