Marktplatzangebote
4 Angebote ab € 3,55 €
  • Gebundenes Buch

Eine Bilanz der europäischen Geschichte und Politik vom Ersten Weltkrieg bis heute liefert Thierry de Montbrial. Aus dem historischen Konflikt zwischen Selbstbestimmung der Völker und kollektivem Sicherheitsstreben entwickelt der französische Experte für internationale Beziehungen eine Analyse des heutigen Europas und seiner Chance zur Selbstbehauptung in der Zukunft.

Produktbeschreibung
Eine Bilanz der europäischen Geschichte und Politik vom Ersten Weltkrieg bis heute liefert Thierry de Montbrial. Aus dem historischen Konflikt zwischen Selbstbestimmung der Völker und kollektivem Sicherheitsstreben entwickelt der französische Experte für internationale Beziehungen eine Analyse des heutigen Europas und seiner Chance zur Selbstbehauptung in der Zukunft.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.08.1998

Wagnis des Lebens
Thierry de Montbrials Denkschrift zur Zukunft Europas

Thierry de Montbrial: Dialog am Ende des Jahrhunderts. Der europäische Gedanke als Selbstbehauptung eines Kontinents. Aus dem Französischen von Karola Bartsch. Europaverlag, München und Wien 1998. 320 Seiten, 46,- Mark.

Thierry de Montbrial ist Franzose und Optimist. Zu einem Zeitpunkt, da in Deutschland die Diskussion um die Risiken der Atomenergie neu entbrannt ist, setzt der Leiter des "Institut Français des Relations Internationales" und Mitherausgeber der Tageszeitung "Le Figaro" alle Hoffnungen auf diese Energieform, die er als die "Hauptentdeckung" des zwanzigsten Jahrhunderts feiert. Schwierigkeiten wie etwa die Entsorgung abgebrannter Brennelemente hält er für technisch lösbar. Der Anteil der Atomenergie an der Stromversorgung werde in den kommenden Jahrzehnten noch erheblich wachsen.

Wie im Detail der Atomenergie zeigt sich Montbrial überhaupt zuversichtlich für die Zukunft unseres Planeten. "Dialog am Ende des Jahrhunderts" lautet der programmatische deutsche Titel seines Buches, das zuerst 1996 in Frankreich als "Mémoire du temps présent" erschienen ist. Eine Denkschrift will dieses Buch demnach sein, die aus den historischen Erfahrungen der letzten hundert Jahre Handlungsmuster für die kommenden Aufgaben der internationalen Politik ableitet, für Europa im besonderen. Dabei setzt sich Montbrial entschieden von der Prognose des amerikanischen Politologen Samuel Huntington ab, der die Entwicklung der internationalen Beziehungen auf einen "Kampf der Kulturen" hinauslaufen sieht. Dem setzt Montbrial die Hoffnung auf einen Dialog zwischen den drei großen Kulturen entgegen, die seiner Ansicht nach die Geschicke der Welt bestimmen werden: Europa, die Vereinigten Staaten und Asien.

Zwar teilt Montbrial mit Huntington die Einschätzung, nicht alle Werte der westlichen Demokratien würden sich als universell erweisen. Gleichwohl glaubt er an einen allgemeingültigen Maßstab für "gute Regierung", die sich durch Förderung von Bildung, wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Gerechtigkeit sowie durch außenpolitische Stabilität auszeichne. Wenn ein Staat die Rechte anderer Staaten oder ethnischer Minderheiten innerhalb der eigenen Grenzen verletze, solle die internationale Gemeinschaft, also die Vereinten Nationen, eingreifen - es sei denn, die betroffene Region finde von selbst zu einem neuen Gleichgewicht. Daß ein solches Programm kollektiver Sicherheit von den Beteiligten "einen enormen Durchsetzungswillen" erfordert, gibt der Autor zu. Woher er kommen soll, sagt er nicht.

Keinen Zweifel läßt Montbrial allerdings an seinem Glauben an die Idee der Gemeinschaft europäischer Staaten. Die Europäische Union (EU) sei eben nicht die Verwirklichung eines imperialistischen Traums im Sinne Napoleons. Vielmehr sei der europäische Gedanke eine "geniale Flucht nach vorn" gewesen, nachdem sich der Kontinent im Zweiten Weltkrieg selbst zerfleischt hatte: Da das Ruhrgebiet bei Deutschland bleiben mußte, sei Monnets Idee richtungweisend gewesen, es durch die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl einer übernationalen Aufsicht zu unterstellen. Kohle und Stahl, bis dahin Kernstücke der Kriegsindustrie, seien so zum Grundstein eines friedlichen Zusammenlebens in Europa verwandelt worden, auf dem sich eine erfolgreiche gemeinsame Wirtschaftspolitik habe aufbauen lassen.

Die eigentlich politische Zusammenarbeit habe dagegen bisher weniger Erfolge gezeitigt. Montbrials Hoffnungen ruhen auf den Verträgen von Maastricht, die neben der Währungsunion eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik vorsehen. Falls es die EU allerdings nicht schaffe, sich auf eine gemeinsame Außenpolitik zu einigen, sei die Stabilität in Europa gefährdet. Seiner europäischen Lageschilderung gibt Montbrial eine amerikakritische Wendung, wenn er die Europäische Union auffordert, die diplomatische Bühne den Vereinigten Staaten nicht kampflos zu überlassen, die ihren politischen und militärischen Vorrang für wirtschaftliche Zwecke nutzten.

Vage bleiben Montbrials Ausführungen zur Zukunft der Nationalstaatsidee. Ihr prophezeit er ein "langes Leben", und er hofft dabei, daß sie sich als offen für einen toleranten Umgang mit ethnischen Minderheiten erweisen werde. Dieses Kapitel schließt er unvermittelt mit dem pathetischen Appell an die Nationen, "rückwärtsgewandten Visionen" abzuschwören und das "Wagnis des Lebens" einzugehen.

Daß die Menschheit dieses Wagnis bestehen wird, daran gibt es für Montbrial keinen Zweifel. Wissenschaft und Technik würden die Mittel bereitstellen, mit denen im kommenden Jahrhundert zehn Milliarden Menschen umweltverträglich zu ernähren seien. Montbrial möchte verzagten Europäern Mut machen. Doch sein ungebrochener Optimismus wirkt befremdlich, da es der Autor an schlüssigen Begründungen fehlen läßt. Statt dessen marschiert er mit Siebenmeilenstiefeln durch das zwanzigste Jahrhundert und jongliert mit Schlagworten aus der Geschichte der internationalen Politik. Tautologien verderben seinen Stil. Noch schwerer wiegt, daß der Autor historische Darstellung und politische Absichtsbekundung miteinander vermischt.

SANDRA KEGEL

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr