Geschichte und Bedeutung der Ideologiegespräche zwischen SPD und SED in den achtziger Jahren.
Während heute Koalitionsregierungen von SPD und PDS fast schon selbstverständlich sind, provozierte der Dialog von SPD und SED vor 1989 heftige Reaktionen. Rolf Reißig rekonstruiert erstmals diesen Dialog und seine Folgen. In einer Zeit scharfer Ost-West-Konfrontation fanden - initiiert von Willy Brandt - zwischen 1982 und 1989 zum ersten Mal in der Geschichte regelmäßige Gespräche zwischen SPD und SED statt. Bei Akzeptanz der unterschiedlichen Identitäten und Zielvorstellungen ging es in erster Linie um den Versuch einer Verständigung über die grundlegenden ideologischen Streitfragen zwischen Ost und West. 1987 präsentierten beide Parteien ein gemeinsames Ideologiepapier, auf das die Öffentlichkeit heftig reagierte. Rolf Reißig, der damals als reformorientierter DDR-Wissenschaftler an den Gesprächen mit der SPD-Grundwertekommission teilnahm, rekonstruiert erstmals diesen Dialog, seine Vorgeschichte und seine Ergebnisse. Er beschreibt, welche Rolle Willy Brand für das Zustandekommen des Dialogs spielte und zeigt, wie der Grundsatzdialog um Friedens- und Reformfähigkeit der beiden gesellschaftlichen Systeme, um Demokratie, Menschenrechte und gesellschaftlichen Wandel in Ost und West verlief. Reißig rekonstruiert detailliert, wie in diesem Kontext das "Ideologiepapier" entstand und welch heftige Reaktionen es in der Bundesrepublik, der DDR aber auch international auslöste. Reißig stützt sich auf empirische Untersuchungen, eigene Erfahrungen, Studien bislang verschlossener oder unerschlossener Quellen und nicht zuletzt auf rund fünfzig Interviews mit Beteiligten und Zeitzeugen, Befürwortern und Gegnern dieses Dialogs. Dadurch wird eine sehr genaue Rekonstruktion der Zeitgeschichte ermöglicht, deren Verständnis nicht nur für die gegenwärtig wieder verstärkt geführte Diskussion um das künftige Verhältnis von SPD und PDS von großer Bedeutung ist.
Während heute Koalitionsregierungen von SPD und PDS fast schon selbstverständlich sind, provozierte der Dialog von SPD und SED vor 1989 heftige Reaktionen. Rolf Reißig rekonstruiert erstmals diesen Dialog und seine Folgen. In einer Zeit scharfer Ost-West-Konfrontation fanden - initiiert von Willy Brandt - zwischen 1982 und 1989 zum ersten Mal in der Geschichte regelmäßige Gespräche zwischen SPD und SED statt. Bei Akzeptanz der unterschiedlichen Identitäten und Zielvorstellungen ging es in erster Linie um den Versuch einer Verständigung über die grundlegenden ideologischen Streitfragen zwischen Ost und West. 1987 präsentierten beide Parteien ein gemeinsames Ideologiepapier, auf das die Öffentlichkeit heftig reagierte. Rolf Reißig, der damals als reformorientierter DDR-Wissenschaftler an den Gesprächen mit der SPD-Grundwertekommission teilnahm, rekonstruiert erstmals diesen Dialog, seine Vorgeschichte und seine Ergebnisse. Er beschreibt, welche Rolle Willy Brand für das Zustandekommen des Dialogs spielte und zeigt, wie der Grundsatzdialog um Friedens- und Reformfähigkeit der beiden gesellschaftlichen Systeme, um Demokratie, Menschenrechte und gesellschaftlichen Wandel in Ost und West verlief. Reißig rekonstruiert detailliert, wie in diesem Kontext das "Ideologiepapier" entstand und welch heftige Reaktionen es in der Bundesrepublik, der DDR aber auch international auslöste. Reißig stützt sich auf empirische Untersuchungen, eigene Erfahrungen, Studien bislang verschlossener oder unerschlossener Quellen und nicht zuletzt auf rund fünfzig Interviews mit Beteiligten und Zeitzeugen, Befürwortern und Gegnern dieses Dialogs. Dadurch wird eine sehr genaue Rekonstruktion der Zeitgeschichte ermöglicht, deren Verständnis nicht nur für die gegenwärtig wieder verstärkt geführte Diskussion um das künftige Verhältnis von SPD und PDS von großer Bedeutung ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.2003Dialog oder Geplänkel?
Aus unterschiedlicher Ostberliner Zeitzeugen-Perspektive: Annäherung von SED und SPD
Rolf Reißig: Dialog durch die Mauer. Die umstrittene Annäherung von SPD und SED. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2002. 449 Seiten, 29,90 [Euro].
Erich Hahn: SED und SPD. Ein Dialog. Die Gespräche zwischen 1984 und 1987. edition ost, Berlin 2002. 280 Seiten, 14,90 [Euro].
In den achtziger Jahren wurde die Stabilität des ostdeutschen Staates erheblich überschätzt. Nur wenige Deutsche haben daher den schnellen Zusammenbruch der DDR im Jahr 1989 vorhergesehen. Das hatte damit zu tun, daß die Diktatur inzwischen allein durch die Macht des Faktischen zu einem fast "normalen" Staat geworden war, der sich selbst zu den am weitesten entwickelten Industrienationen rechnete. Im Westen waren viele, besonders im linken Meinungsspektrum, geneigt, der DDR den Status eines modernen Industriestaates zuzubilligen und der SED-Führung ein gewachsenes Problembewußtsein und Kompetenz zu attestieren.
Nach 1989 erwies sich, daß die rosarot gezeichneten Aussagen über die Zukunftsaussichten und die Reformierbarkeit des sozialistischen Systems und der DDR falsch gewesen waren. Die ungenügende Prognosefähigkeit von Politik und Wissenschaft hat zudem die - für manche politischen Kommentatoren und Publizisten unbequeme - Frage aufgeworfen, ob die mit immer größerer Selbstverständlichkeit gewährte Bereitschaft zum Dialog dem ostdeutschen Unrechtsregime nicht unnötig Legitimität und Stabilität verschafft und das Bild des Mauerstaates schöngefärbt habe. Ins Kreuzfeuer der Kritik geriet dabei vor allem die Politik der SPD, die sich in den achtziger Jahren in ihrer Rolle als Oppositionspartei besonders intensiv dem deutsch-deutschen Verhältnis gewidmet und der DDR gegenüber "Dialogbereitschaft" signalisiert hatte.
Ihren Höhepunkt erreichten die innerparteilichen Kontakte zwischen SPD und SED in einem 1987 gemeinsam von der Grundwertekommission der SPD und der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED beschlossenen Papier "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit". Das Dokument, das in der Bundesrepublik vom Vorstand der SPD herausgegeben und in der DDR am 28. August 1987 im "Neuen Deutschland" veröffentlicht wurde, thematisierte unter anderem Ziele in den Fragen der Friedenssicherung durch gemeinsame Sicherheit, den friedlichen Wettbewerb der Gesellschaftssysteme und die Notwendigkeit einer Kultur des politischen Streits und des Dialogs.
Über das Papier, das schon damals im christlich-liberalen Regierungslager auf vehemente Kritik stieß und auch in der SPD nicht unumstritten war, ist nach dem Ende der DDR besonders erbittert debattiert worden, weil offenkundig geworden war, in welcher Weise es die SED verstanden hatte, die Politik der Sozialdemokraten propagandistisch auszunutzen. Die westdeutschen Sozialdemokraten, die auch aus der Opposition heraus ihre Ostpolitik weiterzuführen gewünscht und eine "Sicherheitspartnerschaft" mit der DDR erhofft hatten, waren dem Charme der ostdeutschen Entspannungsschalmeien erlegen und - so hat vor allem Timothy Garton Ash immer wieder betont - hatten damit der reformunfähigen DDR noch für eine gewisse Zeit unverdiente Legitimität verschafft.
Die Hintergründe dieser kontrovers diskutierten Annäherung in den letzten Jahren der DDR sind inzwischen von sozialdemokratischen Beteiligten mehrfach geschildert worden. Jetzt liegen mit den Darstellungen von Rolf Reißig und Erich Hahn gleich zwei Erinnerungsberichte von damals beteiligten SED-Funktionären vor, die interessante Einblicke in die Überlegungen der DDR-Führung bieten. Reißig, damals Professor an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Ostberlin, war seit Anfang der achtziger Jahre an den Kontakten mit westdeutschen Sozialdemokraten beteiligt und seit dem Frühjahr 1986 aktiv in die Entscheidungen und den Verlauf der Beratungen um das Strategiepapier einbezogen. Hahn war als Direktor des Instituts für marxistisch-leninistische Philosophie der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in der Hierarchie noch eine Stufe über Reißig eingeordnet. Er unterstand direkt dem SED-Chefideologen Otto Reinhold, der wiederum die Dialoggruppe der DDR zusammenstellte und direkt an Erich Honecker berichtete, sich aber mit Detailinformationen über die Verhandlungen bewußt zurückhielt.
Insofern bieten beide Berichte eine interessante Ergänzung zu den bisher vorliegenden Überlieferungen zur Genese des umstrittenen Gemeinschaftswerkes von SPD und SED. Eine objektive Darstellung wird man von beteiligten Zeitzeugen kaum erwarten können, aber vor allem Reißig verschweigt durchaus nicht, daß das gesamte Projekt von Beginn an auch in Ostberlin kontrovers beurteilt wurde. Vor allem die Hardliner im Politbüro befürchteten stets Aufweichungstendenzen, weil sie wußten, daß die Aufrechterhaltung des ideologischen Gegensatzes zwischen Ost- und Westdeutschland für die DDR überlebensnotwendig war und nicht durch Konzessionen in Frage gestellt werden durfte. Seitens der DDR-Kader wurde daher kaum das heikle Thema berührt, welche potentiellen Folgen der Verzicht auf die ideologischen Komponenten im Kampf zwischen Ost und West hätte haben können.
Reißig, der für sich die Rolle eines kompromißbereiten Reformers reklamiert, konzediert freilich, daß die Wissenschaftler der DDR-Delegation "Nomenklaturkader" waren und sich der Disziplin der Einheitspartei verpflichtet sahen. Damit thematisiert er ein grundlegendes Problem der DDR in den letzten Jahren ihres Bestandes. Es mag zwar im bürokratischen Apparat und in wissenschaftlichen Instituten einige Funktionäre gegeben haben, die ein realistisches Bild der politischen Lage der DDR zeichneten, aber Aussprachen darüber fanden, wenn überhaupt, nur in kleinen Kreisen statt. Dem unnachgiebigen Kurs Honeckers paßten sich auch diejenigen ostdeutschen Gesellschaftswissenschaftler an, die das Ideologiepapier zum Anlaß nehmen wollten, vorsichtig für einen Reformkurs zu plädieren. Ob es aber überhaupt einen solchen moderaten Kurs gegeben hat, ist keineswegs erwiesen, wenn man sich nicht auf die nachträglichen Erinnerungen der Beteiligten verlassen möchte. Die bisweilen geäußerte Ansicht, es habe - auf unterer Parteiebene - beispielsweise in Fragen der Sicherheitspolitik wirklich Absetzungstendenzen und eine Art politische Erosion gegeben, ist noch nicht aus den zeitgenössischen Akten nachgewiesen worden. Auch Reißig geht diesem Problem nicht gründlich nach. Ein wirklicher "Dialog" konnte mit den DDR-Funktionären nicht geführt werden, weil diese dadurch den Bestand der DDR und ihre eigene Machtposition gefährdet hätten.
Einen etwas anderen Zugriff bietet Erich Hahn. Während Reißig die reformerischen Ansätze des Ideologiepapiers herausstellt und ihre Folgen für die DDR betont, bestreitet Hahn in seinen Erinnerungen eine solche Entwicklung. In der DDR sei das Dokument zwar in wissenschaftlichen Kreisen kontrovers diskutiert worden, aber Hahn betrachtet diese Debatten als unwichtiges Geplänkel. Einen subversiven Charakter des Dokuments für die DDR vermag er auch deshalb nicht zu erkennen, weil es im Juli 1987 im Politbüro ausführlich behandelt und ohne Gegenstimmen akzeptiert wurde. Man muß zwar hinzufügen, daß das Politbüro unter Honecker ein reines Akklamationsorgan war, aber in der Sache argumentiert Hahn durchaus schlüssig, wenn er feststellt, daß Reformabsichten jenseits der SED-Führung oder gar gegen sie "im kollektiven Selbstverständnis und Auftreten der Delegation der Akademie für Gesellschaftswissenschaften keine Rolle gespielt" haben.
Das Strategiepapier war unter diesem Aspekt eine Totgeburt. Die wirklichen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen wurden von denjenigen erreicht, die im Dialog zwischen SPD und SED überhaupt nicht vorkamen: von Gorbatschow, der die DDR aufgab, um die Sowjetunion zu retten, und von der DDR-Opposition, die der eigentliche Verhandlungspartner der westdeutschen Sozialdemokratie hätte sein müssen. Aus heutiger Sicht ist deshalb noch augenfälliger, was von Hellsichtigen schon damals erkannt wurde: daß das Strategiepapier letztlich dazu beitrug, die grundlegende Differenz zwischen Diktatur und Freiheit zu verschleiern. Der "Dialog" wurde mit den Repräsentanten jener Staatspartei geführt, die an den Veränderungen, die schließlich zum Ende der DDR beigetragen haben, am wenigsten beteiligt waren. Das mißlungene Zwiegespräch zwischen SPD und SED und das meiste, was darüber veröffentlicht worden ist, wird daher mit historischer Berechtigung kaum mehr als eine Fußnote in der Geschichte eines vom Willen seiner Bevölkerung nicht legitimierten Kunststaates bleiben.
JOACHIM SCHOLTYSECK
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus unterschiedlicher Ostberliner Zeitzeugen-Perspektive: Annäherung von SED und SPD
Rolf Reißig: Dialog durch die Mauer. Die umstrittene Annäherung von SPD und SED. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2002. 449 Seiten, 29,90 [Euro].
Erich Hahn: SED und SPD. Ein Dialog. Die Gespräche zwischen 1984 und 1987. edition ost, Berlin 2002. 280 Seiten, 14,90 [Euro].
In den achtziger Jahren wurde die Stabilität des ostdeutschen Staates erheblich überschätzt. Nur wenige Deutsche haben daher den schnellen Zusammenbruch der DDR im Jahr 1989 vorhergesehen. Das hatte damit zu tun, daß die Diktatur inzwischen allein durch die Macht des Faktischen zu einem fast "normalen" Staat geworden war, der sich selbst zu den am weitesten entwickelten Industrienationen rechnete. Im Westen waren viele, besonders im linken Meinungsspektrum, geneigt, der DDR den Status eines modernen Industriestaates zuzubilligen und der SED-Führung ein gewachsenes Problembewußtsein und Kompetenz zu attestieren.
Nach 1989 erwies sich, daß die rosarot gezeichneten Aussagen über die Zukunftsaussichten und die Reformierbarkeit des sozialistischen Systems und der DDR falsch gewesen waren. Die ungenügende Prognosefähigkeit von Politik und Wissenschaft hat zudem die - für manche politischen Kommentatoren und Publizisten unbequeme - Frage aufgeworfen, ob die mit immer größerer Selbstverständlichkeit gewährte Bereitschaft zum Dialog dem ostdeutschen Unrechtsregime nicht unnötig Legitimität und Stabilität verschafft und das Bild des Mauerstaates schöngefärbt habe. Ins Kreuzfeuer der Kritik geriet dabei vor allem die Politik der SPD, die sich in den achtziger Jahren in ihrer Rolle als Oppositionspartei besonders intensiv dem deutsch-deutschen Verhältnis gewidmet und der DDR gegenüber "Dialogbereitschaft" signalisiert hatte.
Ihren Höhepunkt erreichten die innerparteilichen Kontakte zwischen SPD und SED in einem 1987 gemeinsam von der Grundwertekommission der SPD und der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED beschlossenen Papier "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit". Das Dokument, das in der Bundesrepublik vom Vorstand der SPD herausgegeben und in der DDR am 28. August 1987 im "Neuen Deutschland" veröffentlicht wurde, thematisierte unter anderem Ziele in den Fragen der Friedenssicherung durch gemeinsame Sicherheit, den friedlichen Wettbewerb der Gesellschaftssysteme und die Notwendigkeit einer Kultur des politischen Streits und des Dialogs.
Über das Papier, das schon damals im christlich-liberalen Regierungslager auf vehemente Kritik stieß und auch in der SPD nicht unumstritten war, ist nach dem Ende der DDR besonders erbittert debattiert worden, weil offenkundig geworden war, in welcher Weise es die SED verstanden hatte, die Politik der Sozialdemokraten propagandistisch auszunutzen. Die westdeutschen Sozialdemokraten, die auch aus der Opposition heraus ihre Ostpolitik weiterzuführen gewünscht und eine "Sicherheitspartnerschaft" mit der DDR erhofft hatten, waren dem Charme der ostdeutschen Entspannungsschalmeien erlegen und - so hat vor allem Timothy Garton Ash immer wieder betont - hatten damit der reformunfähigen DDR noch für eine gewisse Zeit unverdiente Legitimität verschafft.
Die Hintergründe dieser kontrovers diskutierten Annäherung in den letzten Jahren der DDR sind inzwischen von sozialdemokratischen Beteiligten mehrfach geschildert worden. Jetzt liegen mit den Darstellungen von Rolf Reißig und Erich Hahn gleich zwei Erinnerungsberichte von damals beteiligten SED-Funktionären vor, die interessante Einblicke in die Überlegungen der DDR-Führung bieten. Reißig, damals Professor an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Ostberlin, war seit Anfang der achtziger Jahre an den Kontakten mit westdeutschen Sozialdemokraten beteiligt und seit dem Frühjahr 1986 aktiv in die Entscheidungen und den Verlauf der Beratungen um das Strategiepapier einbezogen. Hahn war als Direktor des Instituts für marxistisch-leninistische Philosophie der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in der Hierarchie noch eine Stufe über Reißig eingeordnet. Er unterstand direkt dem SED-Chefideologen Otto Reinhold, der wiederum die Dialoggruppe der DDR zusammenstellte und direkt an Erich Honecker berichtete, sich aber mit Detailinformationen über die Verhandlungen bewußt zurückhielt.
Insofern bieten beide Berichte eine interessante Ergänzung zu den bisher vorliegenden Überlieferungen zur Genese des umstrittenen Gemeinschaftswerkes von SPD und SED. Eine objektive Darstellung wird man von beteiligten Zeitzeugen kaum erwarten können, aber vor allem Reißig verschweigt durchaus nicht, daß das gesamte Projekt von Beginn an auch in Ostberlin kontrovers beurteilt wurde. Vor allem die Hardliner im Politbüro befürchteten stets Aufweichungstendenzen, weil sie wußten, daß die Aufrechterhaltung des ideologischen Gegensatzes zwischen Ost- und Westdeutschland für die DDR überlebensnotwendig war und nicht durch Konzessionen in Frage gestellt werden durfte. Seitens der DDR-Kader wurde daher kaum das heikle Thema berührt, welche potentiellen Folgen der Verzicht auf die ideologischen Komponenten im Kampf zwischen Ost und West hätte haben können.
Reißig, der für sich die Rolle eines kompromißbereiten Reformers reklamiert, konzediert freilich, daß die Wissenschaftler der DDR-Delegation "Nomenklaturkader" waren und sich der Disziplin der Einheitspartei verpflichtet sahen. Damit thematisiert er ein grundlegendes Problem der DDR in den letzten Jahren ihres Bestandes. Es mag zwar im bürokratischen Apparat und in wissenschaftlichen Instituten einige Funktionäre gegeben haben, die ein realistisches Bild der politischen Lage der DDR zeichneten, aber Aussprachen darüber fanden, wenn überhaupt, nur in kleinen Kreisen statt. Dem unnachgiebigen Kurs Honeckers paßten sich auch diejenigen ostdeutschen Gesellschaftswissenschaftler an, die das Ideologiepapier zum Anlaß nehmen wollten, vorsichtig für einen Reformkurs zu plädieren. Ob es aber überhaupt einen solchen moderaten Kurs gegeben hat, ist keineswegs erwiesen, wenn man sich nicht auf die nachträglichen Erinnerungen der Beteiligten verlassen möchte. Die bisweilen geäußerte Ansicht, es habe - auf unterer Parteiebene - beispielsweise in Fragen der Sicherheitspolitik wirklich Absetzungstendenzen und eine Art politische Erosion gegeben, ist noch nicht aus den zeitgenössischen Akten nachgewiesen worden. Auch Reißig geht diesem Problem nicht gründlich nach. Ein wirklicher "Dialog" konnte mit den DDR-Funktionären nicht geführt werden, weil diese dadurch den Bestand der DDR und ihre eigene Machtposition gefährdet hätten.
Einen etwas anderen Zugriff bietet Erich Hahn. Während Reißig die reformerischen Ansätze des Ideologiepapiers herausstellt und ihre Folgen für die DDR betont, bestreitet Hahn in seinen Erinnerungen eine solche Entwicklung. In der DDR sei das Dokument zwar in wissenschaftlichen Kreisen kontrovers diskutiert worden, aber Hahn betrachtet diese Debatten als unwichtiges Geplänkel. Einen subversiven Charakter des Dokuments für die DDR vermag er auch deshalb nicht zu erkennen, weil es im Juli 1987 im Politbüro ausführlich behandelt und ohne Gegenstimmen akzeptiert wurde. Man muß zwar hinzufügen, daß das Politbüro unter Honecker ein reines Akklamationsorgan war, aber in der Sache argumentiert Hahn durchaus schlüssig, wenn er feststellt, daß Reformabsichten jenseits der SED-Führung oder gar gegen sie "im kollektiven Selbstverständnis und Auftreten der Delegation der Akademie für Gesellschaftswissenschaften keine Rolle gespielt" haben.
Das Strategiepapier war unter diesem Aspekt eine Totgeburt. Die wirklichen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen wurden von denjenigen erreicht, die im Dialog zwischen SPD und SED überhaupt nicht vorkamen: von Gorbatschow, der die DDR aufgab, um die Sowjetunion zu retten, und von der DDR-Opposition, die der eigentliche Verhandlungspartner der westdeutschen Sozialdemokratie hätte sein müssen. Aus heutiger Sicht ist deshalb noch augenfälliger, was von Hellsichtigen schon damals erkannt wurde: daß das Strategiepapier letztlich dazu beitrug, die grundlegende Differenz zwischen Diktatur und Freiheit zu verschleiern. Der "Dialog" wurde mit den Repräsentanten jener Staatspartei geführt, die an den Veränderungen, die schließlich zum Ende der DDR beigetragen haben, am wenigsten beteiligt waren. Das mißlungene Zwiegespräch zwischen SPD und SED und das meiste, was darüber veröffentlicht worden ist, wird daher mit historischer Berechtigung kaum mehr als eine Fußnote in der Geschichte eines vom Willen seiner Bevölkerung nicht legitimierten Kunststaates bleiben.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.06.2000Mauer im Wald
Eine Mauer, die spazieren geht: Für den Landart-Künstler Andy Goldsworthy bilden die steinernen Gebilde keine starren Grenzen, die Grundstücke trennen oder gar Frontlinien zwischen verfeindeten Nachbarn bilden. Goldsworthy macht die Mauern beweglich und lebendig – er schickt sie auf Wanderschaft. Sie laufen über Hügel und Täler, tauchen in Seen ein und legen sich in üppigen Kurven um die Baumstämme eines Waldes. Aus der Schlangenform von Goldworthys Mauern spricht „Respekt vor der Priorität der Bäume, die vor ihnen da waren”, meint der Kunstkritiker Kenneth Baker. Goldworthys 760 Meter lange Steinmauer im Skulpturenpark des Storm King Art Center im Staat New York ist die Hauptattraktion seines Buches mit dem einfachen Titel Mauer, das bei Zweitausendeins erschien (60 Farbfotos, 94 S. , 33 Mark).
ajh/Foto: Verlag
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Eine Mauer, die spazieren geht: Für den Landart-Künstler Andy Goldsworthy bilden die steinernen Gebilde keine starren Grenzen, die Grundstücke trennen oder gar Frontlinien zwischen verfeindeten Nachbarn bilden. Goldsworthy macht die Mauern beweglich und lebendig – er schickt sie auf Wanderschaft. Sie laufen über Hügel und Täler, tauchen in Seen ein und legen sich in üppigen Kurven um die Baumstämme eines Waldes. Aus der Schlangenform von Goldworthys Mauern spricht „Respekt vor der Priorität der Bäume, die vor ihnen da waren”, meint der Kunstkritiker Kenneth Baker. Goldworthys 760 Meter lange Steinmauer im Skulpturenpark des Storm King Art Center im Staat New York ist die Hauptattraktion seines Buches mit dem einfachen Titel Mauer, das bei Zweitausendeins erschien (60 Farbfotos, 94 S. , 33 Mark).
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Christoph Dieckmann erklärt zu allererst, worum es geht. Als "SPD-SED-Papier" sei ein am 27. August 1987 von der SPD und der SED gemeinsam veröffentlichtes Manifest in die Geschichte eingegangen, in dem beide Parteien Kritik aneinander formuliert, sich aber "wechselseitig Existenzrecht zugesprochen" hätten. Zwei Bücher, so Dieckmann, sind nun zu diesem Thema erschienen, und sie "ergänzen sich" auf, wie er findet, "erfreuliche" Weise. In der Tat habe Rolf Reißig, der an vier der sieben "SPD-SED-Gespräche" teilgenommen habe, die Resonanzräume des Papiers rekonstruiert - in Kirchenkreisen und SED-Führung - sowie die darauffolgenden "Tauwetterzeichen". Erich Hahn dagegen, der bei allen Gesprächen anwesend war, verstehe sich als Zeitzeuge. Seine Mitschriften der "Grundsatzdebatten über Menschenrechte, Fortschrittsglauben und das Wesen von Geschichte" lesen sich für Dieckmann "so sperrig wie interessant".
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