In Leticia, einem kolumbianischen Dorf am Amazonas, trifft der Autor auf einen alten Herrn aus Santo Domingo, der ihn in ein Gespräch über die Grundlagen der Moral verwickelt. Den Ort gibt es wirklich, der alte Herr und das Gespräch dagegen sind fiktiv. Der Dialog entzündet sich zunächst an Tugendhats bisheriger Moralphilosophie, insbesondere am Begründungsbegriff, den er in seinen Vorlesungen über Ethik entwickelt hat. Moralische Normen, so erklärt der alte Herr, seien per definitionem Handlungsregeln, die als begründungsbedürftig angesehen werden, aber sie können nicht an und für sich begründet werden, sondern sie sind gegenüber den Betroffenen zu begründen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs geht es um den Gerechtigkeitsbegriff und den moralischen Universalismus, um Sitten und Konventionen, um moralische Motive und schließlich auch um die »Blutrünstigkeit« der Moral: Die Moral der Herzensgüte wird als hölzernes Eisen verworfen. Am Ende des Gesprächs wenden sie sich dem Problem der Korruption in modernen Gesellschaften zu und erwägen den Vorschlag, Korruption zu entmoralisieren und nur durch externe Sanktionen zu unterbinden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.1997Moral ist ziemlich blutrünstig
Wo es um Gut und Böse geht, ist Ernst Tugendhat nicht zimperlich
Schulpflichtige, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen wollen, werden in einen Ethik-Unterricht geschickt, nicht in einen Moral-Unterricht. Einen Moral-Unterricht verbäten sich die meisten Eltern, weil ihre Kinder immer schon moralisch sind. Zwar muß der Mensch auch Moral lernen, wie die Kulturabhängigkeit der Moralität beweist. Aber er lernt sie von Eltern, Geschwistern, Spiel- und Schulkameraden, Arbeitskollegen, vielleicht sogar von dem einen oder anderen Schullehrer, mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch nicht von dem, der Ethik unterrichtet.
Ethische Sätze bewirken vor allem Beifall. Denn gegen Ethik kann man schlecht etwas sagen, die anderen Leute haben sie auch nötig, und Beifall braucht man nicht zu begründen. Daneben bewirken ethische Sätze Langeweile. Ihr Prinzip ist seit dem Alten Testament bekannt: "Was du verabscheust, tu keinem anderen an" (Tobias 4,15). Kant hat diese goldene Regel zum kategorischen Imperativ verfeinert. Heute fordern die Philosophen, ethische Normen müßten universal für alle Menschen begründbar sein. Aber eine universalistische Moral ist paradox, weil sich die Menschen nur darin gleichen, daß sie verschieden sind. Ist man zum Handeln gezwungen, muß man die Paradoxie daher verkleinern oder vernebeln, indem man mit Einzelfällen, Einschränkungen, Ausnahmen oder leeren Abstraktionen arbeitet. Muß man nicht handeln, kann man das Kleinarbeiten der Paradoxie sogar beobachten.
Der Berliner Philosoph Ernst Tugendhat will moralisches Verhalten nicht distanziert beobachten, er will richtige ethische Sätze aufstellen, gleichsam für die Handelnden argumentieren. Aber - und das unterscheidet ihn von den meisten Ethikern - er spürt den kalten Hauch der Paradoxie im Nacken. Denn er ist es leid, sich immer wieder revidieren zu müssen. Deshalb unterwirft er eigene frühere Überlegungen einer Kritik, die sich keine Lauheit gestattet. Der Dialog mit einem alten Lehrer, der nicht vor den Nazis, sondern vor einer dominikanischen Schreckensherrschaft geflohen ist, schließt Totschlagsargumente ("faschistoid"), und der Ort des Dialoges, Leticia am Amazonas, eine Stadt zwischen zwei Welten, schließt kulturelle Relativierungen moralischer Normen von vornherein weitgehend aus.
Hat man sich klargemacht, daß Tugendhats Ethik nicht einfach eine auf Widerspruchsfreiheit zielende Kombination ethischer Sätze ist, sondern mit höchsten moralischen Ansprüchen auftritt, wird das Buch zu einer spannenden Lektüre und der Leser Teilnehmer des Dialogs der beiden Ethik-Experten: Natürlich muß man sprachanalytisch ansetzen, weil man nicht mehr als Sprache hat. Natürlich werden Begründungen wichtig. Ungleichbehandlungen müssen immer begründet werden. Natürlich muß man sich über Unmoral empören. Sonst wäre sie folgenlos. Und natürlich steckt in der Empörung eine "tendenzielle Exkommunikation" des Übeltäters. Deshalb ist Moral "eine ziemlich blutrünstige Angelegenheit".
Der Clou ist Tugendhats Vorschlag, "Korruption" zu entmoralisieren und dafür mit schärferen formalen Sanktionen zu belegen. "Korruption" steht hier für all die Normverstöße, die, obwohl schädlich und unerwünscht, weder Empörung noch Schuldgefühle auslösen, weil sie niemanden individuell schädigen, wie Schwarzfahren in der U-Bahn. Das bekannte Stasi-IM-Argument: "Ich habe niemanden geschädigt", ist damit nicht länger gerechtfertigt. Ein Vertrauensbruch schädigt die hintergangenen Individuen. Tugendhats Vorschlag hat den Vorteil, daß er den Anwendungsbereich der Ethik auf Person-zu-Person-Verhältnisse beschränkt und den einzelnen von der Verantwortung für Organisationsfunktionen entlastet, die er ohnehin nicht allein tragen kann.
Tugendhat will mit diesem Gedanken jedoch auch die Moral gegen die Politik verteidigen. Formale Sanktionen haben nur eine begrenzte Reichweite und werden oft durch moralischen Druck ergänzt. Genau das hält Tugendhat für eine unmoralische Instrumentalisierung der Moral. Diese Theorie der unbefleckten Moral muß sich allerdings fragen lassen, wie man Korruption mit schärferen formalen Sanktionen bekämpfen kann, wenn die Reichweite solcher Sanktionen begrenzt ist. Mehr noch: Befleckt nicht schon der Gedanke, man könne Moral durch Recht ersetzen, die Reinheit der Moral? Aber der Dialog ist nicht beendet, nur abgebrochen. Hoffen wir, daß Tugendhat dem alten Lehrer bald wieder begegnet. GERD ROELLECKE
Ernst Tugendhat: "Dialog in Leticia". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 143 S, br., 16,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wo es um Gut und Böse geht, ist Ernst Tugendhat nicht zimperlich
Schulpflichtige, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen wollen, werden in einen Ethik-Unterricht geschickt, nicht in einen Moral-Unterricht. Einen Moral-Unterricht verbäten sich die meisten Eltern, weil ihre Kinder immer schon moralisch sind. Zwar muß der Mensch auch Moral lernen, wie die Kulturabhängigkeit der Moralität beweist. Aber er lernt sie von Eltern, Geschwistern, Spiel- und Schulkameraden, Arbeitskollegen, vielleicht sogar von dem einen oder anderen Schullehrer, mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch nicht von dem, der Ethik unterrichtet.
Ethische Sätze bewirken vor allem Beifall. Denn gegen Ethik kann man schlecht etwas sagen, die anderen Leute haben sie auch nötig, und Beifall braucht man nicht zu begründen. Daneben bewirken ethische Sätze Langeweile. Ihr Prinzip ist seit dem Alten Testament bekannt: "Was du verabscheust, tu keinem anderen an" (Tobias 4,15). Kant hat diese goldene Regel zum kategorischen Imperativ verfeinert. Heute fordern die Philosophen, ethische Normen müßten universal für alle Menschen begründbar sein. Aber eine universalistische Moral ist paradox, weil sich die Menschen nur darin gleichen, daß sie verschieden sind. Ist man zum Handeln gezwungen, muß man die Paradoxie daher verkleinern oder vernebeln, indem man mit Einzelfällen, Einschränkungen, Ausnahmen oder leeren Abstraktionen arbeitet. Muß man nicht handeln, kann man das Kleinarbeiten der Paradoxie sogar beobachten.
Der Berliner Philosoph Ernst Tugendhat will moralisches Verhalten nicht distanziert beobachten, er will richtige ethische Sätze aufstellen, gleichsam für die Handelnden argumentieren. Aber - und das unterscheidet ihn von den meisten Ethikern - er spürt den kalten Hauch der Paradoxie im Nacken. Denn er ist es leid, sich immer wieder revidieren zu müssen. Deshalb unterwirft er eigene frühere Überlegungen einer Kritik, die sich keine Lauheit gestattet. Der Dialog mit einem alten Lehrer, der nicht vor den Nazis, sondern vor einer dominikanischen Schreckensherrschaft geflohen ist, schließt Totschlagsargumente ("faschistoid"), und der Ort des Dialoges, Leticia am Amazonas, eine Stadt zwischen zwei Welten, schließt kulturelle Relativierungen moralischer Normen von vornherein weitgehend aus.
Hat man sich klargemacht, daß Tugendhats Ethik nicht einfach eine auf Widerspruchsfreiheit zielende Kombination ethischer Sätze ist, sondern mit höchsten moralischen Ansprüchen auftritt, wird das Buch zu einer spannenden Lektüre und der Leser Teilnehmer des Dialogs der beiden Ethik-Experten: Natürlich muß man sprachanalytisch ansetzen, weil man nicht mehr als Sprache hat. Natürlich werden Begründungen wichtig. Ungleichbehandlungen müssen immer begründet werden. Natürlich muß man sich über Unmoral empören. Sonst wäre sie folgenlos. Und natürlich steckt in der Empörung eine "tendenzielle Exkommunikation" des Übeltäters. Deshalb ist Moral "eine ziemlich blutrünstige Angelegenheit".
Der Clou ist Tugendhats Vorschlag, "Korruption" zu entmoralisieren und dafür mit schärferen formalen Sanktionen zu belegen. "Korruption" steht hier für all die Normverstöße, die, obwohl schädlich und unerwünscht, weder Empörung noch Schuldgefühle auslösen, weil sie niemanden individuell schädigen, wie Schwarzfahren in der U-Bahn. Das bekannte Stasi-IM-Argument: "Ich habe niemanden geschädigt", ist damit nicht länger gerechtfertigt. Ein Vertrauensbruch schädigt die hintergangenen Individuen. Tugendhats Vorschlag hat den Vorteil, daß er den Anwendungsbereich der Ethik auf Person-zu-Person-Verhältnisse beschränkt und den einzelnen von der Verantwortung für Organisationsfunktionen entlastet, die er ohnehin nicht allein tragen kann.
Tugendhat will mit diesem Gedanken jedoch auch die Moral gegen die Politik verteidigen. Formale Sanktionen haben nur eine begrenzte Reichweite und werden oft durch moralischen Druck ergänzt. Genau das hält Tugendhat für eine unmoralische Instrumentalisierung der Moral. Diese Theorie der unbefleckten Moral muß sich allerdings fragen lassen, wie man Korruption mit schärferen formalen Sanktionen bekämpfen kann, wenn die Reichweite solcher Sanktionen begrenzt ist. Mehr noch: Befleckt nicht schon der Gedanke, man könne Moral durch Recht ersetzen, die Reinheit der Moral? Aber der Dialog ist nicht beendet, nur abgebrochen. Hoffen wir, daß Tugendhat dem alten Lehrer bald wieder begegnet. GERD ROELLECKE
Ernst Tugendhat: "Dialog in Leticia". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 143 S, br., 16,80 DM.
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