Bettina von Arnim war ein besonders unruhiger Geist, ein „Feuergeist“, wie sie sich selbst in einem Text für die Presse 1847 bezeichnete, als sie sich vor Gericht verteidigen musste. 2010 jährte sich der Geburtstag dieses „Feuergeistes“ zum 225. Mal und wurde zum Anlass genommen, im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf, ihrem zeitweiligen Lebens- und Arbeitsort, in dem öffentlichen Symposion Dialog und Bewegung. Bettina von Arnim als Kommunikationsexpertin ihre literarischen und politischen Strategien erneut vorzustellen und zu befragen, insbesondere im Hinblick auf die Relevanz ihrer „Dialogizität“ im Zeitalter der neuen Medien. Denn es ist immer das Dialogische – sei es in der intimen Briefform oder im sokratischen Dialog – das als „Hebammenkunst“ in der Hervorbringung von Aufklärung und Erkenntnis dient und den Charakter des literarischen wie politischen Werkes von Bettina von Arnim ausmacht. An Bettina von Arnim zu erinnern und sie zu vergegenwärtigen, erfordert ein Nachdenken über die Kraft des Dialogischen, eines Dialogs, der immer das Du, den Anderen mitdenkt. Ob in ihren Briefen oder in ihren Salons, sie kreierte Netzwerke – Formen, die als social networking heute gang und gäbe sind. Und außerdem: Sie schrieb an „ihren König“. Ausgehend von diesem Befund und mit Blick nach vorn ist zu fragen: Wie findet heute Kommunikation mit der politischen Macht statt? Was brauchen wir aktuell für den politischen Diskurs in Deutschland? Entsteht aus dem Geist des bürgerlichen Salons eine demokratische Kultur, die auch den Dialog mit der politischen Macht nicht scheut? Welche Rollen spielen dabei die neuen Medien, die Foren im Internet und die social networks? Stehen sie nicht womöglich als auf Individuen bezogene Phänomene dem Anspruch der Aufklärung einer breiten Öffentlichkeit entgegen? Lassen sich Parallelen ziehen zwischen der Dialogkultur des Briefes, den bürgerlichen Salons des 19. Jahrhunderts und den sozialen Netzwerken im World Wide Web? 1919 – 60 Jahre nach ihrem Tod – erschienen in der soeben gegründeten, ersten deutschen Demokratie die Gespräche mit Dämonen, der zweite Teil ihres Königsbuches, unter dem Titel Bettina von Arnims Aufruf zur Revolution und zum Völkerbunde. Als „Geistesbibel der Zukunft“ galt ihr Königsbuch bereits zu ihren Lebzeiten. Am Dialogischen hält sie auch noch fest, als die demokratischen Hoffnungen von 1848 und ihr Vertrauen in Friedrich Wilhelm IV. gescheitert waren. Der „schlafenden Vernunft“, dem „schlafenden König“ gesellt sie den guten Dämon der Wahrheit hinzu. „Ein König hört alles nur wie im Traum! Schlafend dringt die Wahrheit heller ihm ins Ohr als wachend.“ 90 Jahre nach dem Tod Bettina von Arnims gelingt der zweite Anlauf zur Gründung der Demokratie: 1859, 1919, 1949 – wo stehen wir 2010 im Verhältnis zu ihr? In der ersten Sektion des Symposions Historie – Bettina von Arnim als Kommunikationsexpertin entfaltet Wolfgang Bunzel in Im Gespräch. Dialogizität bei Bettine von Arnim das schillernde Spektrum der „Brief-Politik“ Bettina von Arnims und belegt, dass sie, indem sie die gesellschaftlichen Grenzen von Privatheit und Öffentlichkeit gezielt missachtete, insbesondere im von der Zensur bestimmten Preußen der Vormärzzeit erstaunliche Wirkungen erzielt habe. Die von ihr bevorzugt verwendeten „lebensweltlichen Ausdrucksformen“ Brief und Gesprächsbuch seien zwar dialogische Textsorten, die beim Lesen (oder Hören) Präsenz suggerierten, aber als klassische Überbrückungsmedien blieben sie letztlich – wie die SMS oder die E-Mail heute – „kommunikative Brückenschläge“ zu einem stets absenten Gegenüber, das von Bettina von Arnim nicht selten zum machtvollen Instrument wurde, um politisch Einfluss zu nehmen. Aus der Perspektive des beginnenden 21. Jahrhunderts gesehen, scheint Bettina von Arnims literarische Tätigkeit, die teilweise hinter der stilisierenden Maske eines schreibenden Kindes (Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde) stattfindet, strukturelle Parallelen zur networking-Kultur der heutigen Internetgesellschaft aufzuweisen. Ulrike Landfester illustriert mit ihrem Vortrag Jugend-Bewegung. Bettine von Arnims Netzwerk-Pädagogik, wie Bettina von Arnim gezielt Daten, die sie in ihren kommunikativen Netzwerken gewonnen hat, sammelt und literarisch modifiziert. Durch ihre Technik, frei mit den dialogischen Formen des Gesprächs und des Briefwechsels zu operieren, bricht sie mit den literarischen Gepflogenheiten der Zeit. In den beiden folgenden Sektionen Digitale Kommunikationswege im Web 2.0 / Web-Präsentation und Soziale Strukturen und Interaktionen im Web 2.0: Blogs/Foren/Digitale Soziale Netzwerke wird der Sprung von den analogen Kommunikationsformen des 19. Jahrhunderts zu den digitalen Möglichkeiten der politischen und journalistischen Einflussnahme gewagt und aktuelle Dialogformen und Möglichkeiten der Einflussnahme im Internet werden präsentiert. Georg Kolb stellt die Web-Plattform www.direktzurkanzlerin.de vor, die Bürgern durch ein System der Sammlung von Fragen und Beiträgen die Möglichkeit gibt, sich mit ihren Anliegen direkt an die deutsche Bundeskanzlerin richten zu können. Somit stellt direktzu gewissermaßen eine moderne Variation von Bettina von Arnims Briefen an den König dar. Wie grundlegend sich der Journalismus und die Modi der Berichterstattung durch die kommunikationstechnologische Revolution der Medien geändert haben, zeichnet Klaus Hübner an seinem eigenen Werdegang vom klassisch ausgebildeten Journalisten über die Gründung der Netzzeitschrift EVOLVER bis hin zum Nutzer der performativen Möglichkeiten durch sein Online-Video-Kunstprojekt KASTING nach. Sein aktuelles Web2.0-Großprojet nutzt in Anlehnung an die Kunstrichtung DaDa die performativen Möglichkeiten des Netzes und spielt mit der Naivität jener Nutzer, die unkritisch auch frei Erfundenes für faktisch halten. Das Internet hat nicht allein ganz neue Dimensionen der Presse- und Meinungsfreiheit eröffnet, es bietet auch virtuelle Spielplätze verschiedenster Art, wo sich die User beliebige und beliebig viele Identitäten wählen können. Philipp Albers konstatiert im Beitrag Offene Korrespondenz. Anmerkungen zur Kommunikation in sozialen Netzwerken, dass sich in den digitalen sozialen Netzwerken die Sphären von Privatem und Öffentlichem überlagern und somit gänzlich neue Formen des wechselseitigen sozialen Austauschs entstehen, für die Albers den Begriff der „offenen Korrespondenz“ vorschlägt. Als eine Plattform der Selbstäußerung wird das Internet von Ute Schirmack in ihrem Blog www.frau-indica.de – Letzte Abfahrt vor der Bundesgrenze genutzt. Ihre Online-Text-Bild-Chronik der „Absurditäten des Alltags“ ist terminologisch analog zum Verkehr auf der Autobahn strukturiert, womit sie die Tatsache, dass es auf der „Datenautobahn“ des World Wide Web tendenziell keine Grenzen gibt, konterkariert. In ihrem virtuellen „Abzweig“ nach Wiepersdorf wird auch das Künstlerhaus zum Ort für Frau Indicas Alltagsbeobachtungen. In der vierten Sektion des Symposions Kommunikationswandel durch Technikwandel / Ethik der neuen Medien wird ausgehend von den historischen Formen von Kommunikation und den unterschiedlichen Angeboten der Online-Kommunikation eine kritische Auseinandersetzung mit dem Vernetzungsmedium Computer angestrebt. Hendrik Speck illustrierte in seinem Vortrag Identität und Gesellschaft – Technologischer Wandel und Systemträgheit, wie sich der Begriff Identität durch Internetplattformen wie u. a. Facebook gewandelt hat, weil diese nicht allein Kommunikationsplattformen sind, sondern ihren Usern auch die Möglichkeit bieten, als Avatare aufzutreten und mithin Schein-Identitäten aufzubauen. Kritik an Medien ist nicht neu. Anders als ein aktiver Meinungsaustausch, wie ihn Bettina von Arnim in ihren Salons praktizierte, war ein geschriebener Text ehemals nur ein hinlängliches Surrogat für einen lebendigen Dialog. Der Dialog ist zum Maß geworden, an dem sich jeweils neue Medien messen müssen, so konstatiert Rainer Leschke in Dialoge in Mediengewittern. Zur normativen Funktion des Dialogs und zur Teleologie des Medialen. Mit dem Aufkommen vernetzter Computer schienen die kommunikativen Defizite anderer Massenmedien wie Schrift oder Film, die immer einen Mangel an Interaktivität auszeichnete, aufgehoben. Rainer Leschke hinterfragt den Dialog als Norm für die Bewertung neuer Medien und beruhigt zugleich die allenthalben aufkommenden Untergangsszenarien des modernen Subjekts, die das gegenwärtige Mediensystem mit seinen zahllosen Möglichkeiten der performativen Selbsterfindung heraufbeschwöre. Der technologische Wandel treibe weniger eine Auflösung der unverwechselbaren Identität des Subjektes voran als vielmehr eine neue Ästhetik der Inszenierung im Spiel mit der eigenen Identität. Zum sehr guten Gelingen des Symposions hat der Philosoph, Literaturwissenschaftler und Komponist Asmus Trautsch, derzeit Fellow an der Akademie Schloss Solitude, Stuttgart, mit seiner äußerst fachkundigen und sehr klugen Moderation beigetragen – ihm sei an dieser Stelle ganz besonders herzlich gedankt.