Diane Arbus (1923-1971) gehört mit ihren verstörenden Bildern von physisch und psychisch deformierten Menschen, Freaks und Außenseitern der Gesellschaft heute zu den Klassikern der amerikanischen Photographie. Als sie Ende der 50er Jahre ihren eigenen Weg zu gehen begann, der sie in die amerikanische Provinz, in Nudistencamps, Irrenanstalten und andere Tabuzonen der Gesellschaft führte, reagierte die Öffentlichkeit mit Empörung und Ablehnung. Diane Arbus, die ihrer Generation den Blick auf eine gemeinhin verleugnete Realität öffnete, erfuhr erst posthum die ihr gebührende Anerkennung.Die berühmte erste Monographie - mit 81 Abbildungen ein repräsentativer Überblick über ihr Werk - erschien 1972 in den USA, ein Jahr nach ihrem Freitod. Zusammengestellt von ihrer Tochter Doon und dem New Yorker Künstler Marvin Israel und ergänzt durch Schriften und Interview-Passagen der Photographin, wurde das Buch bald selbst zum Klassiker, den wir 2003 in deutscher Übersetzung herausbrachten und jetzt in der 2. Auflage anbieten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.1996Diane Arbus und die Maskenspiele des Halloween
Wo befinden wir uns? Auf freiem Feld oder in einem Park in der Stadt? Herrscht Abenddämmerung, oder ist es tiefe Nacht? Woher kommt das grelle Licht ganz vorne, das die tiefen Schatten in die Landschaft wirft? Von einem Blitzlicht? Aber warum schaut dann keiner den Fotografen an? Hatte ihn keiner bemerkt, war er vielleicht in der Gruppe mitmarschiert? Was sind das überhaupt für Menschen, die sich so ungeschickt verkleidet haben und die so munter draufloswandern, als gehörten sie zum Personal von Bruegels Blindensturz? Einer folgt dem anderen, und keiner weiß, wohin das führen soll. Das Licht ist unwirklich wie in Vollmondnächten, und die grotesken Figuren, aus der schützenden Normalität herausgetreten, sind von Geheimnis umgeben. Nichts ist so, wie es normalerweise sein sollte, wir blicken auf ein Rätselbild.
Diane Arbus, die berühmteste Fotografin der sechziger Jahre, hat in ihren letzten Lebensjahren - sie nahm sich, achtundvierzig Jahre alt, 1971 in New York das Leben - in Heimen für geistig Behinderte fotografiert. Sie nahm die Menschen - fast ausschließlich Frauen - vorzugsweise bei Ritualen auf, die auch bei Nichtbehinderten gelegentlich absurd wirken: die Verrenkungen der Gymnastik, die Maskenspiele der Halloween-Parties. Durch diese Verdoppelung des Grotesken erscheinen die Behinderten vergleichsweise normal. Sie mögen verrückt sein, aber so verrückt sind wir auch, zumindest beim Halloween. Das Gelächter, das einige dieser Bilder auslösen, dient der gleichen Abwehr, mit dem wir lachend manche unserer privaten Erinnerungsbilder kommentieren: Das darf doch nicht wahr sein!
Aber es ist wahr. Es ist wahr durch die großformatigen, prachtvoll gedruckten Aufnahmen von Diane Arbus, von denen die meisten bislang noch nie publiziert waren. Hier wird eine Welt entdeckt, von der wir alle wußten, daß es sie irgendwo am Rande der unseren gibt, die aber kaum je so beharrlich aus einer so menschlichen Perspektive erforscht wurde. Diane Arbus bricht das Tabu, das unsere Wahrnehmung eingeengt hatte. Sie leugnet das Humorverbot, gibt das Groteske dem Gelächter preis und verschwistert uns im Lachen mit den Menschen auf ihren Bildern. Es ist kein böses Lachen über andere, es ist das verlegene Lachen, mit dem wir unser Spiegelbild zu bannen versuchen, wohl wissend, daß es uns die Wahrheit zeigt.
Wie Diane Arbus immer wieder auf das Leitmotiv der Maske zurückkommt, wie sie das simple Blitzlicht für eine beschwörende Lichtregie nutzt - das beweist perfektes Fotohandwerk, geniales Kunstkalkül. Der Bilderzyklus von Diane Arbus, etwas prätentiös "Ohne Titel" genannt, gehört zu den künstlerisch herausragenden Reportagen der modernen Fotografie. Die sachlichen Aufnahmen von August Sander, damals wiederentdeckt, wurden das entscheidende Vorbild. Aber Diane Arbus sucht nicht mehr das Bündnis mit der Wissenschaft. Sie dokumentiert nicht, sie erzählt, und man wird nicht müde, ihr zuzuhören. (Diane Arbus: "Ohne Titel". Mit einem Nachwort von Doon Arbus. Verlag Zweitausendundeins, Frankfurt am Main 1995. 108 S., 52 Tafeln, geb., 50,- DM.) WILFRIED WIEGAND
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wo befinden wir uns? Auf freiem Feld oder in einem Park in der Stadt? Herrscht Abenddämmerung, oder ist es tiefe Nacht? Woher kommt das grelle Licht ganz vorne, das die tiefen Schatten in die Landschaft wirft? Von einem Blitzlicht? Aber warum schaut dann keiner den Fotografen an? Hatte ihn keiner bemerkt, war er vielleicht in der Gruppe mitmarschiert? Was sind das überhaupt für Menschen, die sich so ungeschickt verkleidet haben und die so munter draufloswandern, als gehörten sie zum Personal von Bruegels Blindensturz? Einer folgt dem anderen, und keiner weiß, wohin das führen soll. Das Licht ist unwirklich wie in Vollmondnächten, und die grotesken Figuren, aus der schützenden Normalität herausgetreten, sind von Geheimnis umgeben. Nichts ist so, wie es normalerweise sein sollte, wir blicken auf ein Rätselbild.
Diane Arbus, die berühmteste Fotografin der sechziger Jahre, hat in ihren letzten Lebensjahren - sie nahm sich, achtundvierzig Jahre alt, 1971 in New York das Leben - in Heimen für geistig Behinderte fotografiert. Sie nahm die Menschen - fast ausschließlich Frauen - vorzugsweise bei Ritualen auf, die auch bei Nichtbehinderten gelegentlich absurd wirken: die Verrenkungen der Gymnastik, die Maskenspiele der Halloween-Parties. Durch diese Verdoppelung des Grotesken erscheinen die Behinderten vergleichsweise normal. Sie mögen verrückt sein, aber so verrückt sind wir auch, zumindest beim Halloween. Das Gelächter, das einige dieser Bilder auslösen, dient der gleichen Abwehr, mit dem wir lachend manche unserer privaten Erinnerungsbilder kommentieren: Das darf doch nicht wahr sein!
Aber es ist wahr. Es ist wahr durch die großformatigen, prachtvoll gedruckten Aufnahmen von Diane Arbus, von denen die meisten bislang noch nie publiziert waren. Hier wird eine Welt entdeckt, von der wir alle wußten, daß es sie irgendwo am Rande der unseren gibt, die aber kaum je so beharrlich aus einer so menschlichen Perspektive erforscht wurde. Diane Arbus bricht das Tabu, das unsere Wahrnehmung eingeengt hatte. Sie leugnet das Humorverbot, gibt das Groteske dem Gelächter preis und verschwistert uns im Lachen mit den Menschen auf ihren Bildern. Es ist kein böses Lachen über andere, es ist das verlegene Lachen, mit dem wir unser Spiegelbild zu bannen versuchen, wohl wissend, daß es uns die Wahrheit zeigt.
Wie Diane Arbus immer wieder auf das Leitmotiv der Maske zurückkommt, wie sie das simple Blitzlicht für eine beschwörende Lichtregie nutzt - das beweist perfektes Fotohandwerk, geniales Kunstkalkül. Der Bilderzyklus von Diane Arbus, etwas prätentiös "Ohne Titel" genannt, gehört zu den künstlerisch herausragenden Reportagen der modernen Fotografie. Die sachlichen Aufnahmen von August Sander, damals wiederentdeckt, wurden das entscheidende Vorbild. Aber Diane Arbus sucht nicht mehr das Bündnis mit der Wissenschaft. Sie dokumentiert nicht, sie erzählt, und man wird nicht müde, ihr zuzuhören. (Diane Arbus: "Ohne Titel". Mit einem Nachwort von Doon Arbus. Verlag Zweitausendundeins, Frankfurt am Main 1995. 108 S., 52 Tafeln, geb., 50,- DM.) WILFRIED WIEGAND
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