Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2015Peter Pans listiger Bruder
Serielle Kunst: "Gregs Tagebuch" ist eine der erfolgreichsten Kinderbuchserien der Welt. Gerade ist der zehnte Band erschienen. Eine Begegnung mit dem Autor Jeff Kinney.
Diesmal droht ihm sein wütender Vater nicht wie sonst gern mit dem Drill der Militärschule. Diesmal ist er zum Glück verreist, als seinem Sohn das Unglück mit dem Auto passiert, in dem sich Greg versteckt, versehentlich die Handbremse löst und den Wagen so in den Graben bugsiert. Aber weil der Vater schon bald zurückkommen wird, meldet sich Greg doch noch zur Klassenfahrt in die wegen ihrer spartanischen Ausstattung gefürchtete "Schweiß-und-Fleiß-Farm" an. Nach einer Woche, so kalkuliert er, wird der Zorn des Vaters über die verbeulte Stoßstange verraucht sein. Und begibt sich damit in eine Hölle, aus der ihn dann erst sein Vater wieder rettet, ohne es recht zu wollen.
Die Kinderbuchserie "Diary of a Wimpy Kid" (auf Deutsch: "Gregs Tagebuch"), geschrieben und gezeichnet von dem amerikanischen Autor Jeff Kinney, ist beispiellos auf dem aktuellen Buchmarkt für junge Leser. Nicht nur wegen der Absatzzahlen: Von den bisherigen Bänden, einschließlich des gerade erschienenen zehnten, wurden weltweit 160 Millionen verkauft, davon etwa dreizehn Millionen in Deutschland. Das sind zwar noch nicht die Dimensionen der "Harry Potter"-Serie, deren Gesamtauflage 450 Millionen beträgt, aber die ist vor acht Jahren an ihr vorläufiges Ende gekommen, während "Gregs Tagebuch" noch aufholen kann.
Vor allem aber ist die Serie ein Phänomen der Leseförderung. Eltern, Buchhändler und Lehrer berichten von eigentlich wenig buchaffinen Kindern, die über diese Bände doch noch zum Lesen kommen. Ein Grund liegt sicher darin, dass "Gregs Tagebuch" eine Mischung aus Comic und erzähltem Text ist, was Kinney durchaus kalkuliert einsetzt: "Die Kinder schwimmen im Text", sagt er im Gespräch, "und dann finden sie in den Bildern eine Insel." Ziemlich viele Inseln, pro Doppelseite unterbrechen drei bis vier Zeichnungen des Autors den Lesefluss. Dabei illustrieren sie nur in den seltensten Fällen das, was man gerade gelesen hat, sondern erzählen die Geschichte weiter: Der Tagträumer Greg malt sich dort beispielsweise aus, wie er eine ungünstige Situation für sich ins Gegenteil wenden kann, oder er spinnt umgekehrt bildkräftig aus, welchen Schrecken er aus einer bestimmten Konstellation erwartet.
Das Konzept wurde vielfach kopiert, seit Kinney nach achtjähriger Arbeit daran 2007 den ersten Band von "Gregs Tagebuch" publizierte - eigentlich sollte es ein Comic-Roman für Erwachsene über seine eigene Kindheit werden, aber er ließ sich vom Verleger überzeugen, dass die eigentliche Zielgruppe für diesen Humor und diese Erzählweise jünger sei. Kinney, der als sein großes Vorbild den legendären Dagobert-Duck-Zeichner Carl Barks nennt, beließ es aber beim Namen der Hauptfigur, die dem eigenen auffällig ähnelt: Greg Heffley.
Und er gab seiner Serie eine Reihe von Stacheln mit, die mit seiner pointenorientierten Erzählweise eine für die Kinderliteratur seltene Symbiose eingehen: Sein Held, gebeutelt von je einem älteren und einem jüngeren Bruder, erzählt seine Geschichte aus einem Universum ausgesprochen unzuverlässiger Erwachsener. Nicht nur Gregs Vater predigt Enthaltsamkeit und lässt sich von seinem Sohn nachts im Keller beim Diebstahl von Süßigkeiten erwischen. Auch Gregs Mutter führt einerseits einen Feldzug gegen elektronische Geräte und stattet andererseits ihren Sohn zur besseren Überwachung mit einem GPS-Chip aus. Gregs Großvater führt sich wie ein Teenager auf, der die sturmfreie Bude zum Feiern nutzt und dafür von Gregs Vater in die Ecke gestellt wird. Und gar die Lehrer: Verspricht einer, dass es bei der Aufklärung einer Untat nur darauf ankomme, dass sich der Schuldige dazu bekenne, es werde ihm schon nichts geschehen - dann weiß jeder in der Klasse, dass darauf nicht zu bauen ist. Oder wenn im Aufklärungsunterricht die Fürsorge für ein anderes Wesen geübt wird, indem jeder und jede ein rohes Ei erhält, das an die Stelle eines Säuglings tritt (Gregs Mutter macht unwissentlich Rührei aus dem Schützling ihres Sohns), dann lobt die Lehrerin diejenigen, die am nächsten Tag das Ei unversehrt wieder in die Klasse bringen, und entsorgt anschließend die Ersatzkinder vor aller Augen in einen Mülleimer.
Es sind groteske Szenen wie diese, die eine Kinderbuchserie vor Niedlichkeit bewahren können und zugleich für mitlesende Eltern interessant halten. Dabei ist Gregs Welt, ganz wie es der Zeitungscomic-Ästhetik entspricht, in einer Art Zeitblase gefangen: Greg, so scheint es, bleibt mit allen Verwandten und Freunden immer gleich alt, und nichts geschieht, was über die Bandgrenzen hinweg großartige Folgen hätte: "Um ehrlich zu sein, kommt es mir vor, als würde ich schon mein ganzes Leben lang auf die Mittelschule gehen", heißt es entlarvend im zehnten Band. Für Kinney, der sein erstes Greg-Buch mit 28 Jahren begann, damals noch kinderlos, heißt das, von einer angehaltenen Zeit zu erzählen, während ihm selbst zwei Söhne geboren wurden, von denen der erste mittlerweile dreizehn Jahre alt ist. Er wisse schon, sagt Kinney, dass seine Kinder eines Tages der Greg-Welt entwachsen werden. "Ich werde ein Buch schreiben, das sie nicht lesen werden, und es wird mir vorkommen, als ließen sie mich zurück. Ich muss sie wohl ermutigen, möglichst schnell eigene Kinder zu kriegen", sagt er.
So rettete sich einst auch J. M. Barries ewig junger Peter Pan durch die Einsamkeit, wenn ihm - wie seine Freundin Wendy - wieder mal eine Spielgefährtin an die Welt der Erwachsenen abhandengekommen war. Kinder wachsen schließlich nach und spiegeln sich in ihren Eltern wie Greg in seinem Vater. Das bislang letzte Buch von Kinneys Reihe trägt die Widmung: "Für Dad".
TILMAN SPRECKELSEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Serielle Kunst: "Gregs Tagebuch" ist eine der erfolgreichsten Kinderbuchserien der Welt. Gerade ist der zehnte Band erschienen. Eine Begegnung mit dem Autor Jeff Kinney.
Diesmal droht ihm sein wütender Vater nicht wie sonst gern mit dem Drill der Militärschule. Diesmal ist er zum Glück verreist, als seinem Sohn das Unglück mit dem Auto passiert, in dem sich Greg versteckt, versehentlich die Handbremse löst und den Wagen so in den Graben bugsiert. Aber weil der Vater schon bald zurückkommen wird, meldet sich Greg doch noch zur Klassenfahrt in die wegen ihrer spartanischen Ausstattung gefürchtete "Schweiß-und-Fleiß-Farm" an. Nach einer Woche, so kalkuliert er, wird der Zorn des Vaters über die verbeulte Stoßstange verraucht sein. Und begibt sich damit in eine Hölle, aus der ihn dann erst sein Vater wieder rettet, ohne es recht zu wollen.
Die Kinderbuchserie "Diary of a Wimpy Kid" (auf Deutsch: "Gregs Tagebuch"), geschrieben und gezeichnet von dem amerikanischen Autor Jeff Kinney, ist beispiellos auf dem aktuellen Buchmarkt für junge Leser. Nicht nur wegen der Absatzzahlen: Von den bisherigen Bänden, einschließlich des gerade erschienenen zehnten, wurden weltweit 160 Millionen verkauft, davon etwa dreizehn Millionen in Deutschland. Das sind zwar noch nicht die Dimensionen der "Harry Potter"-Serie, deren Gesamtauflage 450 Millionen beträgt, aber die ist vor acht Jahren an ihr vorläufiges Ende gekommen, während "Gregs Tagebuch" noch aufholen kann.
Vor allem aber ist die Serie ein Phänomen der Leseförderung. Eltern, Buchhändler und Lehrer berichten von eigentlich wenig buchaffinen Kindern, die über diese Bände doch noch zum Lesen kommen. Ein Grund liegt sicher darin, dass "Gregs Tagebuch" eine Mischung aus Comic und erzähltem Text ist, was Kinney durchaus kalkuliert einsetzt: "Die Kinder schwimmen im Text", sagt er im Gespräch, "und dann finden sie in den Bildern eine Insel." Ziemlich viele Inseln, pro Doppelseite unterbrechen drei bis vier Zeichnungen des Autors den Lesefluss. Dabei illustrieren sie nur in den seltensten Fällen das, was man gerade gelesen hat, sondern erzählen die Geschichte weiter: Der Tagträumer Greg malt sich dort beispielsweise aus, wie er eine ungünstige Situation für sich ins Gegenteil wenden kann, oder er spinnt umgekehrt bildkräftig aus, welchen Schrecken er aus einer bestimmten Konstellation erwartet.
Das Konzept wurde vielfach kopiert, seit Kinney nach achtjähriger Arbeit daran 2007 den ersten Band von "Gregs Tagebuch" publizierte - eigentlich sollte es ein Comic-Roman für Erwachsene über seine eigene Kindheit werden, aber er ließ sich vom Verleger überzeugen, dass die eigentliche Zielgruppe für diesen Humor und diese Erzählweise jünger sei. Kinney, der als sein großes Vorbild den legendären Dagobert-Duck-Zeichner Carl Barks nennt, beließ es aber beim Namen der Hauptfigur, die dem eigenen auffällig ähnelt: Greg Heffley.
Und er gab seiner Serie eine Reihe von Stacheln mit, die mit seiner pointenorientierten Erzählweise eine für die Kinderliteratur seltene Symbiose eingehen: Sein Held, gebeutelt von je einem älteren und einem jüngeren Bruder, erzählt seine Geschichte aus einem Universum ausgesprochen unzuverlässiger Erwachsener. Nicht nur Gregs Vater predigt Enthaltsamkeit und lässt sich von seinem Sohn nachts im Keller beim Diebstahl von Süßigkeiten erwischen. Auch Gregs Mutter führt einerseits einen Feldzug gegen elektronische Geräte und stattet andererseits ihren Sohn zur besseren Überwachung mit einem GPS-Chip aus. Gregs Großvater führt sich wie ein Teenager auf, der die sturmfreie Bude zum Feiern nutzt und dafür von Gregs Vater in die Ecke gestellt wird. Und gar die Lehrer: Verspricht einer, dass es bei der Aufklärung einer Untat nur darauf ankomme, dass sich der Schuldige dazu bekenne, es werde ihm schon nichts geschehen - dann weiß jeder in der Klasse, dass darauf nicht zu bauen ist. Oder wenn im Aufklärungsunterricht die Fürsorge für ein anderes Wesen geübt wird, indem jeder und jede ein rohes Ei erhält, das an die Stelle eines Säuglings tritt (Gregs Mutter macht unwissentlich Rührei aus dem Schützling ihres Sohns), dann lobt die Lehrerin diejenigen, die am nächsten Tag das Ei unversehrt wieder in die Klasse bringen, und entsorgt anschließend die Ersatzkinder vor aller Augen in einen Mülleimer.
Es sind groteske Szenen wie diese, die eine Kinderbuchserie vor Niedlichkeit bewahren können und zugleich für mitlesende Eltern interessant halten. Dabei ist Gregs Welt, ganz wie es der Zeitungscomic-Ästhetik entspricht, in einer Art Zeitblase gefangen: Greg, so scheint es, bleibt mit allen Verwandten und Freunden immer gleich alt, und nichts geschieht, was über die Bandgrenzen hinweg großartige Folgen hätte: "Um ehrlich zu sein, kommt es mir vor, als würde ich schon mein ganzes Leben lang auf die Mittelschule gehen", heißt es entlarvend im zehnten Band. Für Kinney, der sein erstes Greg-Buch mit 28 Jahren begann, damals noch kinderlos, heißt das, von einer angehaltenen Zeit zu erzählen, während ihm selbst zwei Söhne geboren wurden, von denen der erste mittlerweile dreizehn Jahre alt ist. Er wisse schon, sagt Kinney, dass seine Kinder eines Tages der Greg-Welt entwachsen werden. "Ich werde ein Buch schreiben, das sie nicht lesen werden, und es wird mir vorkommen, als ließen sie mich zurück. Ich muss sie wohl ermutigen, möglichst schnell eigene Kinder zu kriegen", sagt er.
So rettete sich einst auch J. M. Barries ewig junger Peter Pan durch die Einsamkeit, wenn ihm - wie seine Freundin Wendy - wieder mal eine Spielgefährtin an die Welt der Erwachsenen abhandengekommen war. Kinder wachsen schließlich nach und spiegeln sich in ihren Eltern wie Greg in seinem Vater. Das bislang letzte Buch von Kinneys Reihe trägt die Widmung: "Für Dad".
TILMAN SPRECKELSEN
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