Nur noch acht Tage bis zur Abitursfeier. Acht Tage, in denen nichts Besonderes mehr passieren kann. Und doch ändert sich einiges. Alles fängt an mit der Idee von Geschichtslehrer Dr. Rullon, eine Projektwoche über die Zeit der Renaissance abzuhalten. Svenja, Johannes, Paul, Matz und Angela suchen sich unterschiedliche Themen aus, und auf einmal wird eine vergangene Zeit lebendig. Ein philosophischer Roman über junge Leute, die am Ende ihrer Schulzeit versuchen, neue Standpunkte zu finden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.10.1996Svenjas wohlunterrichtete Welt
Immer die richtigen Entscheidungen: Andrea Hensgens Bildungsroman
Zunächst freut es den Leser, daß der erste Eindruck, den Andrea Hensgens Buch "Dich habe ich in die Mitte der Welt gestellt" macht, täuscht: Die Halbleinenbindung, die gedeckten Farben, das träumerische Titelbild und vor allem die Kurzbeschreibung auf der Rückseite ("Am Ende wissen sie alle mehr über die Renaissance und vor allem über sich selbst") - alles gemahnt an ein anderes überaus erfolgreiches Jugendbuch der letzten Jahre.
Doch Svenjas Welt sieht anders aus als erwartet. Hier führt nicht ein weiser Briefpartner ein junges Mädchen in die Geschichte der Philosophie ein, sondern der Geschichtskurs eines Abiturientenjahrgangs beschäftigt sich in einer Projektwoche mit einer einzigen Epoche, eben dem Beginn der Neuzeit. Die Konstellation ist interessant. Schulabgänger stehen schließlich selber an der Schwelle zu einer neuen Zeit, in der sie die Behaglichkeit eines festgefügten Weltbildes verlieren werden und sich neuen Entwicklungen zu stellen haben. Sie vollziehen im persönlichen Bereich nach, was an der Wende vom fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert die europäische Gesellschaft erlebte.
Erzählt wird aus der Sicht von Svenja, die sich zu Beginn des Buchs weder über ihre Gefühle zu den Jungen ihrer Jahrgangsstufe noch über ihre Stellung im Schülerkreis klar ist. Sie ist nur die "liebe, kleine Svenja", ein anbetungswürdiges, aber eitles Mädchen mit sprunghaften Launen. Durch die Beschäftigung ihres Geschichtskurses mit der Renaissance erkennt sie die Grundstimmung dieser Epoche als die ihre und kann sich dadurch Rechenschaft über ihre Gefühle und vor allem über ihre Selbsteinschätzung ablegen. Am Schluß steht sie zwar zwischen zwei Jungen, deren einen sie lieben, den anderen respektieren gelernt hat, aber der Leser kann überzeugt sein, daß sie die richtige Entscheidung treffen wird. Daß das Ende offenbleibt, entspricht ja auch nur wieder dem unabgeschlossenen Projekt der Neuzeit, das dem ganzen Text sein Gerüst leiht.
Was indes dieses Buch seltsam unbefriedigend macht, ist sein Anspruch. Jugendbücher werden selten mit Gattungsbezeichnungen versehen, doch wären sie üblich, müßte der Titel die Unterzeile "Ein Bildungsroman" tragen. Allerdings nicht nur wegen der verblüffenden Erkenntnisfortschritte, die Svenja während der acht Tage umfassenden Handlung vollzieht, sondern mehr noch wegen der unablässigen Bemühungen der Autorin, ihre Protagonisten Bildungsgut der Renaissance vermitteln zu lassen. Auch wenn man die Konstruktion der Geschichte akzeptiert, daß die Projektwoche jedem Schüler eine selbständige Darbietung zu diesem Thema abverlangt, so ist es mehr als unwahrscheinlich, daß irgendwo ein Gymnasium existiert, das so sprachgewandte, originelle und in dieser einheitlichen Brillanz zugleich wieder langweilige Abiturienten versammelt, wie sie sich in Svenjas Geschichtskurs finden. Diese Schüler sprechen wie Gelehrte der Jahrhundertwende und bieten bühnenreife Vorführungen nach wenigen Stunden Vorbereitungszeit. Alle haben etwas zur Renaissance zu sagen, aber niemand auch nur das Geringste zu so schalen Genüssen wie Musik, Sport, Reisen oder Sex. Wenn Svenja (18) in einem Bett mit ihrem Schwarm Mats (20) schläft, passiert nichts. Wer soll das glauben?
Wohl kaum die "jungen und junggebliebenen Erwachsenen", für die das Buch geschrieben wurde. Die werden auch merken, daß sich Andrea Hensgens Schulerinnerungen noch aus der Zeit vor der reformierten Oberstufe speisen; heutige Schüler werden also eher von einem nostalgischen Phänomen berührt werden. Die romantischen Gefühle Svenjas mag man nachvollziehen können, ihre wachsende Abgeklärtheit schon weniger, ihre Harmlosigkeit als Tochter oder Freundin gar nicht. Es ist das ideale Mädchen, was uns da begegnet: natürlich blond und klug, ein Engel, der auch mal zuschlägt, wenn ein Junge ihm frech kommt. Aber Achtzehnjährige prügeln sich nicht mehr so oft, und "Rollbretter" heißen bei Jugendlichen immer noch "Skateboards". So ist das schöne Buch voller Gefühle doch ziemlich leer, wenn es um Welthaltigkeit und Authentizität geht.
ANDREAS PLATTHAUS Andrea Hensgen: "Dich habe ich in die Mitte der Welt gestellt". C. Bertelsmann Verlag, München 1996. 288 S., geb., 29,80DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Immer die richtigen Entscheidungen: Andrea Hensgens Bildungsroman
Zunächst freut es den Leser, daß der erste Eindruck, den Andrea Hensgens Buch "Dich habe ich in die Mitte der Welt gestellt" macht, täuscht: Die Halbleinenbindung, die gedeckten Farben, das träumerische Titelbild und vor allem die Kurzbeschreibung auf der Rückseite ("Am Ende wissen sie alle mehr über die Renaissance und vor allem über sich selbst") - alles gemahnt an ein anderes überaus erfolgreiches Jugendbuch der letzten Jahre.
Doch Svenjas Welt sieht anders aus als erwartet. Hier führt nicht ein weiser Briefpartner ein junges Mädchen in die Geschichte der Philosophie ein, sondern der Geschichtskurs eines Abiturientenjahrgangs beschäftigt sich in einer Projektwoche mit einer einzigen Epoche, eben dem Beginn der Neuzeit. Die Konstellation ist interessant. Schulabgänger stehen schließlich selber an der Schwelle zu einer neuen Zeit, in der sie die Behaglichkeit eines festgefügten Weltbildes verlieren werden und sich neuen Entwicklungen zu stellen haben. Sie vollziehen im persönlichen Bereich nach, was an der Wende vom fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert die europäische Gesellschaft erlebte.
Erzählt wird aus der Sicht von Svenja, die sich zu Beginn des Buchs weder über ihre Gefühle zu den Jungen ihrer Jahrgangsstufe noch über ihre Stellung im Schülerkreis klar ist. Sie ist nur die "liebe, kleine Svenja", ein anbetungswürdiges, aber eitles Mädchen mit sprunghaften Launen. Durch die Beschäftigung ihres Geschichtskurses mit der Renaissance erkennt sie die Grundstimmung dieser Epoche als die ihre und kann sich dadurch Rechenschaft über ihre Gefühle und vor allem über ihre Selbsteinschätzung ablegen. Am Schluß steht sie zwar zwischen zwei Jungen, deren einen sie lieben, den anderen respektieren gelernt hat, aber der Leser kann überzeugt sein, daß sie die richtige Entscheidung treffen wird. Daß das Ende offenbleibt, entspricht ja auch nur wieder dem unabgeschlossenen Projekt der Neuzeit, das dem ganzen Text sein Gerüst leiht.
Was indes dieses Buch seltsam unbefriedigend macht, ist sein Anspruch. Jugendbücher werden selten mit Gattungsbezeichnungen versehen, doch wären sie üblich, müßte der Titel die Unterzeile "Ein Bildungsroman" tragen. Allerdings nicht nur wegen der verblüffenden Erkenntnisfortschritte, die Svenja während der acht Tage umfassenden Handlung vollzieht, sondern mehr noch wegen der unablässigen Bemühungen der Autorin, ihre Protagonisten Bildungsgut der Renaissance vermitteln zu lassen. Auch wenn man die Konstruktion der Geschichte akzeptiert, daß die Projektwoche jedem Schüler eine selbständige Darbietung zu diesem Thema abverlangt, so ist es mehr als unwahrscheinlich, daß irgendwo ein Gymnasium existiert, das so sprachgewandte, originelle und in dieser einheitlichen Brillanz zugleich wieder langweilige Abiturienten versammelt, wie sie sich in Svenjas Geschichtskurs finden. Diese Schüler sprechen wie Gelehrte der Jahrhundertwende und bieten bühnenreife Vorführungen nach wenigen Stunden Vorbereitungszeit. Alle haben etwas zur Renaissance zu sagen, aber niemand auch nur das Geringste zu so schalen Genüssen wie Musik, Sport, Reisen oder Sex. Wenn Svenja (18) in einem Bett mit ihrem Schwarm Mats (20) schläft, passiert nichts. Wer soll das glauben?
Wohl kaum die "jungen und junggebliebenen Erwachsenen", für die das Buch geschrieben wurde. Die werden auch merken, daß sich Andrea Hensgens Schulerinnerungen noch aus der Zeit vor der reformierten Oberstufe speisen; heutige Schüler werden also eher von einem nostalgischen Phänomen berührt werden. Die romantischen Gefühle Svenjas mag man nachvollziehen können, ihre wachsende Abgeklärtheit schon weniger, ihre Harmlosigkeit als Tochter oder Freundin gar nicht. Es ist das ideale Mädchen, was uns da begegnet: natürlich blond und klug, ein Engel, der auch mal zuschlägt, wenn ein Junge ihm frech kommt. Aber Achtzehnjährige prügeln sich nicht mehr so oft, und "Rollbretter" heißen bei Jugendlichen immer noch "Skateboards". So ist das schöne Buch voller Gefühle doch ziemlich leer, wenn es um Welthaltigkeit und Authentizität geht.
ANDREAS PLATTHAUS Andrea Hensgen: "Dich habe ich in die Mitte der Welt gestellt". C. Bertelsmann Verlag, München 1996. 288 S., geb., 29,80DM.
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