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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.1997

Gustav Landauer will kein Nassauer sein
Ein Anarchist fordert Luxus / Von Thomas Sparr

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bildet sich ein Typus von Intellektuellen heraus, der nicht auf einen Nenner zu bringen ist, weil ihn gerade das Eigensinnige und Widerständige der einzelnen auszeichnet. Zwischen allen Stühlen ihrer Zeit, den Lehrstühlen und Redaktionssesseln, den Kaffeehauspolstern und Schemeln des Broterwerbs, schaffen sie einen nie zuvor vermessenen geistigen Raum. Es sind, um einige zu nennen, Georg Simmel, der junge Georg Lukács, Ernst Bloch, Margarete Susman, Martin Buber, Walter Benjamin, Gershom Scholem in seinen Anfängen und Gustav Landauer, die Schlüsselgestalt des deutschen Anarchismus. Zwischen einzelnen in dieser erlauchten Reihe liegen Welten. In der Gebärde aber des Platzschaffens, in der Souveränität, mit der sie neuen Formen und Inhalten den Boden bereiten, ähneln sie einander.

Allesamt sind Juden im wilhelminischen Deutschland. Gustav Landauer, 1870 in Karlsruhe geboren, schreibt 1913 über seine dezidiert doppelte Identität als Deutscher und als Jude, er kenne in diesem seltsamen und doch vertrauten Nebeneinander nichts Primäres oder Sekundäres: "Ich habe nie das Bedürfnis gehabt, mich zu simplifizieren oder durch Verleugnung meiner selbst zu unifizieren, ich akzeptiere den Komplex, der ich bin, und hoffe noch vielfältiger eins zu sein als ich weiß."

In Kategorien des einander Ausschließenden zu denken, hielt er für eine unzulässige Übertragung aus der Raumwelt: "Da muß einer gehen, damit ein anderer Platz hat; im Geist geht es anders zu." In diesem Geist hat Landauer mehrere Berufe nebeneinander - den des Kritikers, des Redakteurs, des Übersetzers sowie die Arbeit des Philosophen und Dramaturgen - ausgeübt. Seine Essays und Reden bezeugen das Prinzip der vielfältigen Einheit: Es sind Reflexionen über den Krieg und die Nation, Essays und Reden über Goethe, Hölderlin, Notizen zu Spinoza, Porträts von Strindberg, Tolstoi und Walt Whitman.

Diese Texte fassen ihre Zeit in Gedanken und weisen doch zugleich weit darüber hinaus. Die Nation etwa hat Landauer mitten im Ersten Weltkrieg nicht als eine absolute Substanz, sondern als eine vielfältige Relation gedeutet, die man erst durch die Sprache und ihre Idiomatik annäherungsweise verstehen könne. Er wollte wissen, ob die Sprache nun Symptom des in der Nation waltenden Geistes oder Ursache eines "Volksgeistes" sei, und beschloß: "diese Frage löse ich nicht, weil ich auf dem Gebiet lebendiger Kräfte, die in Symbiose stehen, mit dem Begriff erster Ursachen nicht operiere." Die lakonische Antwort besagt viel über die geistige Physiognomie Landauers. Sein Augenmerk richtet sich auf das Nebeneinander von Phänomenen, nicht deren Hierarchie, auf Widersprüche, nicht auf Ausschlüsse.

Zu Recht haben die Herausgeber die Essays und Reden an den Beginn der Ausgabe von Landauers Werken gestellt. Sie geben ein besonders anschauliches Bild ihres Verfassers. An Strindberg rühmt Landauer, "daß er nicht seine Ideen in Gestalten einkleidet, sondern daß er sich von den lebendig, allseitig, reich, wimmelnd geschauten Gestalten von Ideen entbinden läßt"; an Georg Kaiser, "daß er geistige Probleme als Bewegung, als Dialektik, als Auseinandersetzung und Geschehnis anschaulich, ja gerade aus einem Raumverhältnis heraus erlebt"; an Walt Whitman liebt er die Verbindung von visionärer Phantasie und nüchterner Sachlichkeit; und Oscar Wilde ist ihm in der aphoristischen Zuspitzung, die aufs Prinzipielle zielt, besonders nahe.

All dies sind Qualitäten, die auch Landauers Schriften auszeichnen. Und noch der hohe idealistische Ton seiner Goethe-Schriften, der manchmal auf Stelzen daherkommt, bittet um einen Goethe für die Nöte der Gegenwart. "Goethe sei Euch ein Ziel und eine Mahnung", ruft er den Lesern seiner anarchistischen Monatsschrift "Der Sozialist" 1899 zu: "Laßt Euch nicht aussperren von den Palästen des Lebens und der Größe! Seid Begehrliche, empfindet es schmerzlich und voll leidenschaftlicher Bitterkeit, wie viel Euren Seelen und Euren Leibern mangelt. Ihr braucht nicht bloß Nahrung und Wohnung, ihr braucht Luxus in Fülle, Reichtum und Muße!"

Landauers Texte sind von großer Gegenwärtigkeit. Aber es ist eine Gegenwart, die in Deutschland keine Zukunft hatte. In seinem einleitenden Porträt spricht Gert Mattenklott von der Resonanzlosigkeit Landauers, in Deutschland, in Frankreich, in der Geschichte des internationalen Anarchismus überhaupt. Er sei ein sehr deutscher Autor geblieben. Von den bedeutenden jüngeren Schriftstellern ist es wohl einzig Paul Celan gewesen, den Landauer geprägt hatte.

Den breitesten Raum nehmen in diesem Band Landauers Schriften zum Judentum ein. Hanna Delf hat sie vorzüglich kommentiert. Man kann diese Schriften wie Kapitel der deutsch-jüdischen Geschichte von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg lesen, als Reflexionen übers "Deutschtum" und "Judentum" - "weil auch in Deutschland selbst unter den Allerbesten die Eigenschaft der Jüdischen nicht natürlich erkannt und nicht so natürlich genommen wird wie jede andere geistig-nationelle Differenzierung". Die Texte handeln von Landauers Nähe und Distanz zu Martin Buber, vor dessen Wohlklang und allzu gefühlvoller Rezeption er ahnungsvoll warnt, von seiner Verknüpfung von Sozialismus und Judentum, seiner Deutung des Antisemitismus, seinem Verständnis des Ostjudentums, des Zionismus; sie bezeugen seine Parteinahme bei innerjüdischen Auseinandersetzungen und seine Aversion gegen Walther Rathenau.

In seinem großen Aufsatz über Shakespeares "Kaufmann von Venedig" greift Landauer eine Beobachtung des Philologen Julius Leopold Klein aus dem Jahr 1876 auf: Shakespeares Bösewichter - Jago, Edmund, Richard III., Macbeth - halten alle Monologe. Nur Shylock tut es nicht. "Wir sehen ihn", folgert Landauer, "nur als einen, der reagiert; als den Juden im Verkehr mit der Welt, die ihn zu dem gemacht hat, was er ist. Er ist nichts mehr als Verkehr; er kann nicht mit sich allein umgehen. Vermöchte er es, täte er es, er mit seinen reichen verschütteten Gaben wäre ein anderer als der er erscheint, er wäre er selbst, er käme zu sich. Ein bloßes Mittel - Geld - ist ihm Zweck geworden, weil ihm die Welt nicht erlaubt, er selbst zu sein und sich von sich aus in die Welt hinein Aufgaben zu setzen. Und was für seine Psychologie gilt, trifft auch seine Rolle in der Ökonomie des Stücks; er ist nur das grobe Mittel, um das Zarte, Feine, Duftige, um das es im übrigen geht, in Bewegung zu setzen."

Das scheinbar beiläufige philologische Detail steht für einen ganzen Zusammenhang: Man könnte die deutsch-jüdische Literatur- und Geistesgeschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts von dem einen Motiv des unendlich erschwerten Monologs von Juden und ihres leidenschaftlichen Verlangens nach einem Dialog, nach einer Aussprache über sich als Juden, entwickeln. Wir finden dieses Motiv bei Heinrich Heine, bei Jakob Wassermann, Berthold Auerbach, in Martin Bubers Philosophie des Dialogs, in Franz Rosenzweigs Übersetzungstheorie, noch in Gershom Scholems Widerlegung des Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch. Und vielleicht ist es das innerste Motiv von Gustav Landauer, dessen Schriften so stark nach einer Selbstverständigung suchen und gerade darum den Leser mit einer eigenen Lebhaftigkeit von Frage und Antwort, These und Gegenthese einbeziehen.

Dieser Autor hat seine Schriften wie Briefe entworfen. Landauers Essays haftet nichts Papierenes, historisch Entrücktes an. Wenn man sie liest, hört man Gustav Landauers Stimme, die uns nicht überliefert ist. Es muß eine zarte und deshalb um so eindringlichere Stimme gewesen sein, nicht zögerlich, sondern mit einem zügigen, lebhaften Erzählduktus. Weitschweifigkeit ist seine Sache nicht.

Den Ausdruck "deutscher Jude" oder "jüdischer Deutscher" empfinde er als schief, bekannte Landauer 1913 in dem berühmten Sammelband "Vom Judentum" des Vereins jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag: "Ich weiß da von keinem Abhängigkeits- oder Adjektivitätsverhältnis; die Schickungen nehme und bin ich, wie sie sind, und mein Deutschtum und Judentum tun einander nichts zuleid und vieles zulieb."

Im Rückblick lesen sich Gustav Landauers Sätze anders. Am 2. Mai 1919 wurde das ehemalige Mitglied der Regierung Eisner bei der Zerschlagung der Münchner Räterepublik ermordet. Martin Buber bemühte sich in den zwanziger Jahren um die Herausgabe seiner Schriften und Briefe. Nach 1933 wurde Landauers Nachlaß vernichtet oder verstreut, sein Name blieb verbannt, seine Bedeutung verkannt. Die Ausgabe seiner Schriften setzt, zusammen mit der Veröffentlichung von Landauers Briefwechsel mit Fritz Mauthner, einen Anfang.

Gustav Landauer: "Dichter, Ketzer, Außenseiter". Essays und Reden zu Literatur, Philosophie, Judentum. Herausgegeben von Hanna Delf. Gustav Landauer Werkausgabe, Band 3. Akademie Verlag, Berlin 1997. 290 S., geb., 78,- DM.

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