Die bewegte Lebensgeschichte eines Heimatlosen zwischen Krieg, Kunst, Wissenschaft und Weltumseglung
Als Flüchtling kam Adelbert von Chamisso in den Wirren der französischen Revolution nach Deutschland. Seine Heimat und seine Sprache hatte er verloren - in der Fremdsprache Deutsch begann er zu dichten, erfand die Gestalt des schattenlosen Peter Schlemihl und wurde damit berühmt.
Aber damit war er nicht angekommen, im Gegenteil: In einer Zeit, in der selbst die Fahrt zur nächsten Stadt noch ein Abenteuer war, zog es ihn hinaus in die Welt. Als Mitglied einer Forschungsreise auf der Suche nach der legendären Nordostpassage fand er als Naturkundler unbekannte Pflanzenarten und deckte Naturgesetze auf, die noch Darwin beeindruckten. Seinem Schlemihl nicht unähnlich verfasste er glänzende, poetische Berichte über seine dreijährige Weltreise.
Matthias Glaubrecht hebt bei seiner detektivischen Spurensuche in Museumssammlungen und in Chamissos Nachlass einen bisheute übersehenen Schatz. In dieser Biographie eines Heimatlosen können wir endlich den ganzen Chamisso entdecken. Er zeigt erstmals in aller Deutlichkeit, wie bei dieser Ausnahmegestalt zugleich Literatur und naturkundliche Erkenntnis entstanden, was Chamisso selbst aus seiner Weltreise machte und was die Nachwelt aus ihm.
Als Flüchtling kam Adelbert von Chamisso in den Wirren der französischen Revolution nach Deutschland. Seine Heimat und seine Sprache hatte er verloren - in der Fremdsprache Deutsch begann er zu dichten, erfand die Gestalt des schattenlosen Peter Schlemihl und wurde damit berühmt.
Aber damit war er nicht angekommen, im Gegenteil: In einer Zeit, in der selbst die Fahrt zur nächsten Stadt noch ein Abenteuer war, zog es ihn hinaus in die Welt. Als Mitglied einer Forschungsreise auf der Suche nach der legendären Nordostpassage fand er als Naturkundler unbekannte Pflanzenarten und deckte Naturgesetze auf, die noch Darwin beeindruckten. Seinem Schlemihl nicht unähnlich verfasste er glänzende, poetische Berichte über seine dreijährige Weltreise.
Matthias Glaubrecht hebt bei seiner detektivischen Spurensuche in Museumssammlungen und in Chamissos Nachlass einen bisheute übersehenen Schatz. In dieser Biographie eines Heimatlosen können wir endlich den ganzen Chamisso entdecken. Er zeigt erstmals in aller Deutlichkeit, wie bei dieser Ausnahmegestalt zugleich Literatur und naturkundliche Erkenntnis entstanden, was Chamisso selbst aus seiner Weltreise machte und was die Nachwelt aus ihm.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Wolfgang Schneider liest Matthias Glaubrechts Chamisso-Biografie mit Spannung. Erscheint ihm Glaubrechts Erzählweise anfangs etwas allzu detailliert, erkennt er bald deren Vorzüge: Auch die weniger bekannten Leistungen des Dichters als Expeditionsbegleiter und Naturwissenschaftler kann ihm der Autor nahebringen. Im Zentrum steht hier laut Rezensent die Rurik-Expedition, die Glaubrecht auf faszinierende Weise schildert, indem er Schiffsbaudetails und Chamissos Wissen über Wale und Korallen erörtert. Die Kontextualisierung Chamissos und seines Denkens in den Diskursen seiner Zeit gelingt dem Autor gleichfalls überzeugend, findet Schneider.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2023Ein Mann zweier Welten
Alexander von Humboldt um einen Schritt voraus: Eine Biographie Adelbert von Chamissos und eine Edition der Tagebücher seiner Forschungsreise um die Welt.
Heute ist der als Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt (1781 bis 1838) geborene Adelbert von Chamisso weithin nur noch als Verfasser der romantischen Märchennovelle "Peter Schlemihl's wundersame Geschichte" und allenfalls noch durch einige seiner Gedichte präsent. Als Reiseschriftsteller, vor allem aber als Naturforscher ist er weitgehend vergessen. Der nicht unbeträchtlichen Chamisso-Literatur der DDR, wo der von der Sowjetunion restituierte Nachlass seit 1957 lagerte, blieb es verwehrt, aus dem Schatten des Kalten Krieges herauszutreten. Mit der nun erfolgten Digitalisierung von Chamissos Nachlass in der Berliner Staatsbibliothek und der in diesem Zusammenhang erfolgten "Wiederentdeckung" seiner Tagebücher von der 1815 bis 1818 auf der Brigg Rurik unternommenen Weltumseglung hat sich dies zu ändern begonnen.
Nun sind gleichzeitig zwei gewichtige Publikationen erschienen, zum einen eine umfangreiche, mit wertvollen Details gespickte Biographie Chamissos von Matthias Glaubrecht, zum anderen eine kommentierte Transkription der beiden großen Schiffstagebücher des Weltreisenden.
Es darf als Glücksfall bezeichnet werden, dass ein gelernter Naturwissenschaftler mit literarischem Gespür die Aufgabe übernommen hat, sich der Biographie dieser bemerkenswerten Figur zwischen Romantik und Empirie, Naturkunde und Literatur anzunehmen. Dem früheren Kurator am Naturkundemuseum in Berlin und jetzigen Leiter des Museums für Natur in Hamburg ist eine exzellente Lebensbeschreibung gelungen, voll von akribisch recherchierten Einzelheiten und dennoch nie die großen Linien aus den Augen verlierend, so wie die politischen Umwälzungen der Zeit um 1800, die Geschichte der weltumspannenden Entdeckungsreisen und ihre kolonialen Hintergründe. Und Glaubrecht verbindet seine Sympathie für Chamisso mit einem kritischen Blick heutiger Wissenschaft auf vergangene Praktiken und ehemals oft gar nicht als solche wahrgenommene Vorurteile.
Altem Adel in der Champagne angehörig, verlor die Familie des 1781 geborenen Chamisso durch die Französische Revolution ihren Besitz und flüchtete nach Preußen. Er verbrachte den zweiten Teil seiner Kindheit und seine Jugendjahre in Berlin, wo er zum Offizier ausgebildet und preußischer Staatsbürger wurde, quittierte jedoch früh seinen Dienst, fühlte sich zur Schriftstellerei berufen und führte ein unstetes Leben zwischen Berlin, Frankreich und der Schweiz. Dort, am Genfer See, fasste der nunmehr Dreißigjährige den Entschluss, sich der Naturkunde zuzuwenden und an der neu gegründeten Berliner Universität ein entsprechendes Studium zu absolvieren.
Noch ohne dieses abgeschlossen zu haben und nachdem er seine phantastische Erzählung des Peter Schlemihl auf den Weg gebracht hatte, ergriff er die Gelegenheit, sich der unter russischer Flagge segelnden, dem Kommando von Otto von Kotzebue unterstellten Rurik als Titulargelehrter anzuschließen und zu einer dreijährigen Weltumseglung aufzubrechen. Sie führte quer über den Atlantik nach Brasilien, um das Kap Hoorn nach Chile und von dort in den Pazifik, von der Osterinsel bis in die Beringstraße zwischen Kamtschatka und Alaska, nach Kalifornien, Hawaii, die Atolle der Ratak-Kette und schließlich über die Philippinen und die Südspitze von Afrika zurück nach Sankt Petersburg. Ihr eigentliches Ziel, die Erkundung einer nördlichen Passage zwischen Pazifik und Atlantik, verfehlte die Expedition allerdings.
Kurz nach der Rückkehr mit einer auf der Reise gemachten Beobachtung über den Generationswechsel von Salpen zum Doktor promoviert, wurde Chamisso zum zweiten Kustos des Königlichen Herbariums am Botanischen Garten in Berlin ernannt. Er heiratete Antonie Franziska Piaste, die Ziehtochter seines Freundes Julius Eduard Hitzig, und verbrachte die restlichen zwanzig Jahre seines kurzen Lebens, sesshaft geworden, mit der Auswertung vor allem seiner auf der Reise gesammelten botanischen Funde, nicht ohne auch wieder mit dichterischen Texten an den europaweiten Erfolg seines "Schlemihl" anzuknüpfen.
Glaubrecht zeichnet diese Stationen von Chamissos Lebensweg minutiös nach und fügt in seine Erzählung auch geschickt die Etappen seiner eigenen, fast zwanzig Jahre dauernden Recherchen zum Verbleib der schriftlichen, vor allem aber auch der materiellen, botanisch-zoologischen Hinterlassenschaft des Naturforschers ein. Sie begann in den Regalen des unerschöpflichen Magazins des Berliner Naturkundemuseums, wo er damals als Kurator für die Weichtier-Sammlungen zuständig war. Seine Erzählung endet mit der Auflösung des Rätsels über den Verbleib von Chamissos vermutlich etwa 60.000 Pflanzen umfassendem Privatherbarium: Es wurde kurz nach seinem Tod von der Familie nach Russland verkauft, wo es sich noch heute am Botanischen Museum von Sankt Petersburg befindet - Berichten zufolge in einem kläglichen Zustand.
Die Biographie hat aber noch einen weiteren Ertrag. Die bisherige Chamisso-Forschung hatte immer wieder mehr oder weniger einseitig entweder den Naturkundigen der Spätaufklärung oder den Literaten der Romantik und des Vormärz im Auge. Glaubrecht macht jedoch nachvollziehbar, wie sich bei ihm literarische, schreibende Weltaneignung und naturkundliche Welterschließung in einer Person verschränken und gegenseitig zur Ressource werden, ohne dabei ihre Eigenwertigkeit und Eigenständigkeit zu verlieren. Chamisso war in beiden Welten zu Hause, wusste die eine für die andere zu nutzen und war doch immer darauf bedacht, ihre Grenzen dort nicht zu verwischen, wo sie sich gegenseitig in die Quere gekommen wären. In dieser Hinsicht war er Alexander von Humboldt einen Schritt voraus, und die Geschichte hat ihm recht gegeben.
In den Kapiteln über Chamissos Erkundungsreise rund um den nördlichen Pazifik macht Glaubrecht ausgiebig Gebrauch von den Tagebucheintragungen des Naturforschers, die nun sorgfältig transkribiert nachzulesen sind. Man darf diese zwei Bände ruhig als eine editorische Meisterleistung bezeichnen, galt es doch, Chamissos in lateinischer und in Kurrentschrift verfasste, zudem mehrsprachige, verschachtelte, oft kryptische und elliptische Einträge zu entziffern und ihren Kontext kommentierend darzustellen.
Das Ergebnis rechtfertigt den Aufwand. Es ist ein entscheidender Beitrag nicht nur zur Chamisso-Forschung, sondern auch zum Verständnis der Weltreise-Forschungsliteratur des achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts. Darüber hinaus zeigt es exemplarisch, wie die Praxis des erkundenden Beobachtens auf solchen Forschungsreisen in primäre Verschriftungen verwoben ist. Die Edition bereichert damit auch das Feld der wissenschaftshistorischen Erkundung des Protokollierens und Notierens im Rahmen experimenteller Forschungspraktiken, die letztlich als ein literarisches Genre ganz eigener Qualität begriffen werden müssen. Sie sind längst nicht auf das naturwissenschaftliche Labor zu beschränken, wie das etwa auch rezente Untersuchungen zu den Notationsverfahren eines Carl von Linné zeigen. Auf diesem Gebiet gibt es noch viel historisches Neuland zu erschließen; das Tagebuch von der Weltumseglung Chamissos füllt hier nicht nur eine Lücke, sondern erweitert den literarischen Forschungsraum um eine zusätzliche Dimension.
Adelbert von Chamisso war trotz des Verlustes seiner Adelsprivilegien sein Leben lang von einem nicht zu erschütternden Selbstbewusstsein getragen. Auch mit dreißig Jahren vertraute er noch darauf, seinen Entschluss umsetzen zu können, Naturforscher zu werden; und er hat es zuwege gebracht, ohne dabei als Dichter von Rang von der Bühne abzutreten. HANS-JÖRG RHEINBERGER
Matthias Glaubrecht: "Dichter, Naturkundler, Welterforscher". Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage.
Galiani Verlag, Berlin 2023. 688 S., Abb., geb., 36,- Euro.
Adelbert von Chamisso: "Die Tagebücher der Weltreise 1815-1818". Teil 1: Text, Teil 2: Kommentar.
Hrsg. von Monika Sproll, Walter Erhart und Matthias Glaubrecht. Vandenhoeck & Ruprecht unipress, Göttingen 2023. 610 S., Abb., geb., 175,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alexander von Humboldt um einen Schritt voraus: Eine Biographie Adelbert von Chamissos und eine Edition der Tagebücher seiner Forschungsreise um die Welt.
Heute ist der als Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt (1781 bis 1838) geborene Adelbert von Chamisso weithin nur noch als Verfasser der romantischen Märchennovelle "Peter Schlemihl's wundersame Geschichte" und allenfalls noch durch einige seiner Gedichte präsent. Als Reiseschriftsteller, vor allem aber als Naturforscher ist er weitgehend vergessen. Der nicht unbeträchtlichen Chamisso-Literatur der DDR, wo der von der Sowjetunion restituierte Nachlass seit 1957 lagerte, blieb es verwehrt, aus dem Schatten des Kalten Krieges herauszutreten. Mit der nun erfolgten Digitalisierung von Chamissos Nachlass in der Berliner Staatsbibliothek und der in diesem Zusammenhang erfolgten "Wiederentdeckung" seiner Tagebücher von der 1815 bis 1818 auf der Brigg Rurik unternommenen Weltumseglung hat sich dies zu ändern begonnen.
Nun sind gleichzeitig zwei gewichtige Publikationen erschienen, zum einen eine umfangreiche, mit wertvollen Details gespickte Biographie Chamissos von Matthias Glaubrecht, zum anderen eine kommentierte Transkription der beiden großen Schiffstagebücher des Weltreisenden.
Es darf als Glücksfall bezeichnet werden, dass ein gelernter Naturwissenschaftler mit literarischem Gespür die Aufgabe übernommen hat, sich der Biographie dieser bemerkenswerten Figur zwischen Romantik und Empirie, Naturkunde und Literatur anzunehmen. Dem früheren Kurator am Naturkundemuseum in Berlin und jetzigen Leiter des Museums für Natur in Hamburg ist eine exzellente Lebensbeschreibung gelungen, voll von akribisch recherchierten Einzelheiten und dennoch nie die großen Linien aus den Augen verlierend, so wie die politischen Umwälzungen der Zeit um 1800, die Geschichte der weltumspannenden Entdeckungsreisen und ihre kolonialen Hintergründe. Und Glaubrecht verbindet seine Sympathie für Chamisso mit einem kritischen Blick heutiger Wissenschaft auf vergangene Praktiken und ehemals oft gar nicht als solche wahrgenommene Vorurteile.
Altem Adel in der Champagne angehörig, verlor die Familie des 1781 geborenen Chamisso durch die Französische Revolution ihren Besitz und flüchtete nach Preußen. Er verbrachte den zweiten Teil seiner Kindheit und seine Jugendjahre in Berlin, wo er zum Offizier ausgebildet und preußischer Staatsbürger wurde, quittierte jedoch früh seinen Dienst, fühlte sich zur Schriftstellerei berufen und führte ein unstetes Leben zwischen Berlin, Frankreich und der Schweiz. Dort, am Genfer See, fasste der nunmehr Dreißigjährige den Entschluss, sich der Naturkunde zuzuwenden und an der neu gegründeten Berliner Universität ein entsprechendes Studium zu absolvieren.
Noch ohne dieses abgeschlossen zu haben und nachdem er seine phantastische Erzählung des Peter Schlemihl auf den Weg gebracht hatte, ergriff er die Gelegenheit, sich der unter russischer Flagge segelnden, dem Kommando von Otto von Kotzebue unterstellten Rurik als Titulargelehrter anzuschließen und zu einer dreijährigen Weltumseglung aufzubrechen. Sie führte quer über den Atlantik nach Brasilien, um das Kap Hoorn nach Chile und von dort in den Pazifik, von der Osterinsel bis in die Beringstraße zwischen Kamtschatka und Alaska, nach Kalifornien, Hawaii, die Atolle der Ratak-Kette und schließlich über die Philippinen und die Südspitze von Afrika zurück nach Sankt Petersburg. Ihr eigentliches Ziel, die Erkundung einer nördlichen Passage zwischen Pazifik und Atlantik, verfehlte die Expedition allerdings.
Kurz nach der Rückkehr mit einer auf der Reise gemachten Beobachtung über den Generationswechsel von Salpen zum Doktor promoviert, wurde Chamisso zum zweiten Kustos des Königlichen Herbariums am Botanischen Garten in Berlin ernannt. Er heiratete Antonie Franziska Piaste, die Ziehtochter seines Freundes Julius Eduard Hitzig, und verbrachte die restlichen zwanzig Jahre seines kurzen Lebens, sesshaft geworden, mit der Auswertung vor allem seiner auf der Reise gesammelten botanischen Funde, nicht ohne auch wieder mit dichterischen Texten an den europaweiten Erfolg seines "Schlemihl" anzuknüpfen.
Glaubrecht zeichnet diese Stationen von Chamissos Lebensweg minutiös nach und fügt in seine Erzählung auch geschickt die Etappen seiner eigenen, fast zwanzig Jahre dauernden Recherchen zum Verbleib der schriftlichen, vor allem aber auch der materiellen, botanisch-zoologischen Hinterlassenschaft des Naturforschers ein. Sie begann in den Regalen des unerschöpflichen Magazins des Berliner Naturkundemuseums, wo er damals als Kurator für die Weichtier-Sammlungen zuständig war. Seine Erzählung endet mit der Auflösung des Rätsels über den Verbleib von Chamissos vermutlich etwa 60.000 Pflanzen umfassendem Privatherbarium: Es wurde kurz nach seinem Tod von der Familie nach Russland verkauft, wo es sich noch heute am Botanischen Museum von Sankt Petersburg befindet - Berichten zufolge in einem kläglichen Zustand.
Die Biographie hat aber noch einen weiteren Ertrag. Die bisherige Chamisso-Forschung hatte immer wieder mehr oder weniger einseitig entweder den Naturkundigen der Spätaufklärung oder den Literaten der Romantik und des Vormärz im Auge. Glaubrecht macht jedoch nachvollziehbar, wie sich bei ihm literarische, schreibende Weltaneignung und naturkundliche Welterschließung in einer Person verschränken und gegenseitig zur Ressource werden, ohne dabei ihre Eigenwertigkeit und Eigenständigkeit zu verlieren. Chamisso war in beiden Welten zu Hause, wusste die eine für die andere zu nutzen und war doch immer darauf bedacht, ihre Grenzen dort nicht zu verwischen, wo sie sich gegenseitig in die Quere gekommen wären. In dieser Hinsicht war er Alexander von Humboldt einen Schritt voraus, und die Geschichte hat ihm recht gegeben.
In den Kapiteln über Chamissos Erkundungsreise rund um den nördlichen Pazifik macht Glaubrecht ausgiebig Gebrauch von den Tagebucheintragungen des Naturforschers, die nun sorgfältig transkribiert nachzulesen sind. Man darf diese zwei Bände ruhig als eine editorische Meisterleistung bezeichnen, galt es doch, Chamissos in lateinischer und in Kurrentschrift verfasste, zudem mehrsprachige, verschachtelte, oft kryptische und elliptische Einträge zu entziffern und ihren Kontext kommentierend darzustellen.
Das Ergebnis rechtfertigt den Aufwand. Es ist ein entscheidender Beitrag nicht nur zur Chamisso-Forschung, sondern auch zum Verständnis der Weltreise-Forschungsliteratur des achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts. Darüber hinaus zeigt es exemplarisch, wie die Praxis des erkundenden Beobachtens auf solchen Forschungsreisen in primäre Verschriftungen verwoben ist. Die Edition bereichert damit auch das Feld der wissenschaftshistorischen Erkundung des Protokollierens und Notierens im Rahmen experimenteller Forschungspraktiken, die letztlich als ein literarisches Genre ganz eigener Qualität begriffen werden müssen. Sie sind längst nicht auf das naturwissenschaftliche Labor zu beschränken, wie das etwa auch rezente Untersuchungen zu den Notationsverfahren eines Carl von Linné zeigen. Auf diesem Gebiet gibt es noch viel historisches Neuland zu erschließen; das Tagebuch von der Weltumseglung Chamissos füllt hier nicht nur eine Lücke, sondern erweitert den literarischen Forschungsraum um eine zusätzliche Dimension.
Adelbert von Chamisso war trotz des Verlustes seiner Adelsprivilegien sein Leben lang von einem nicht zu erschütternden Selbstbewusstsein getragen. Auch mit dreißig Jahren vertraute er noch darauf, seinen Entschluss umsetzen zu können, Naturforscher zu werden; und er hat es zuwege gebracht, ohne dabei als Dichter von Rang von der Bühne abzutreten. HANS-JÖRG RHEINBERGER
Matthias Glaubrecht: "Dichter, Naturkundler, Welterforscher". Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage.
Galiani Verlag, Berlin 2023. 688 S., Abb., geb., 36,- Euro.
Adelbert von Chamisso: "Die Tagebücher der Weltreise 1815-1818". Teil 1: Text, Teil 2: Kommentar.
Hrsg. von Monika Sproll, Walter Erhart und Matthias Glaubrecht. Vandenhoeck & Ruprecht unipress, Göttingen 2023. 610 S., Abb., geb., 175,- Euro.
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Klug recherchiert und sehr bemerkenswert geschrieben. (...) Eine packende Lebensgeschichte zwischen Kunst, Wissenschaft und Krieg, die bis ins Heute führt. Zeitzeichen 20240826