Nikolski ist ein ungemein charmantes, fliegend leicht lesbares Buch, das von der ersten Seite an bezaubert. Tausende Kilometer voneinander getrennt und doch ohne es zu wissen derselben Familie angehörig, leben drei Jugendliche, drei in jeder Hinsicht grundverschiedene Charaktere. Es sind zwei Söhne und eine Nichte des ruhelosen Matrosen Jonas Doucet. Diesem in seiner Rastlosigkeit in nichts nachstehend, verlassen sie gerade volljährig geworden ihr jeweiliges Zuhause und ziehen nach Montréal.
Da ist der namenlose Erzähler, der für kleines Geld in Montréal als Buchhändler jobbt. Die einzige Erinnerung an seinen Vater Jonas ist ein alter Kompass mit einer magnetischen Anomalie , den er den Nikolski-Kompass getauft hat, weil er nicht exakt nach Norden weist, sondern stur auf den kleinen, hinter Alaska auf den Aleuten gelegenen Ort Nikolski
Noah ist der Halbbruder des Erzählers, seine Mutter ist eine von ihrem Stamm verstoßene Indianerin. Zwischen Manitoba und Alberta bringt er seine gesamte Kindheit damit zu, in einem Wohnmobil die Prärie zu durchkreuzen. Als Noah das Nomadentum seiner Mutter eines Tages reicht, bricht er nach Montréal auf, um dort ein Archäologiestudium zu beginnen. In seinem Gepäck ist das dreiköpfige Buch , das auf geheimnisvolle Weise mit seiner Herkunft verbunden zu sein scheint
Joyce, die Dritte im Bunde, ist die Kusine der beiden anderen. Ihre Mutter ist auf mysteriöse Weise verschwunden, Joyce wächst bei ihrem Großvater in einem Fischerdorf an der Küste nahe Neufundland auf. Dieser erzählt ihr, sie sei die letzte in einer langen Ahnenreihe von Freibeutern und lässt so Joyce Lebenstraum erwachen. Wie es sich für einen Piraten gehört, reißt sie von zuhause aus und sucht ebenfalls in Montréal ihr Glück: Tagsüber filetiert sie Fisch, nachts geht sie auf Beutezug und stiehlt Computerteile aus Mülltonnen
Da ist der namenlose Erzähler, der für kleines Geld in Montréal als Buchhändler jobbt. Die einzige Erinnerung an seinen Vater Jonas ist ein alter Kompass mit einer magnetischen Anomalie , den er den Nikolski-Kompass getauft hat, weil er nicht exakt nach Norden weist, sondern stur auf den kleinen, hinter Alaska auf den Aleuten gelegenen Ort Nikolski
Noah ist der Halbbruder des Erzählers, seine Mutter ist eine von ihrem Stamm verstoßene Indianerin. Zwischen Manitoba und Alberta bringt er seine gesamte Kindheit damit zu, in einem Wohnmobil die Prärie zu durchkreuzen. Als Noah das Nomadentum seiner Mutter eines Tages reicht, bricht er nach Montréal auf, um dort ein Archäologiestudium zu beginnen. In seinem Gepäck ist das dreiköpfige Buch , das auf geheimnisvolle Weise mit seiner Herkunft verbunden zu sein scheint
Joyce, die Dritte im Bunde, ist die Kusine der beiden anderen. Ihre Mutter ist auf mysteriöse Weise verschwunden, Joyce wächst bei ihrem Großvater in einem Fischerdorf an der Küste nahe Neufundland auf. Dieser erzählt ihr, sie sei die letzte in einer langen Ahnenreihe von Freibeutern und lässt so Joyce Lebenstraum erwachen. Wie es sich für einen Piraten gehört, reißt sie von zuhause aus und sucht ebenfalls in Montréal ihr Glück: Tagsüber filetiert sie Fisch, nachts geht sie auf Beutezug und stiehlt Computerteile aus Mülltonnen
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.05.2009Noah braucht keinen Hafen
Drei Nomaden mit schiefem Kompass: Nicolas Dickners Roman „Nikolski” über Québec und seine Einwanderer
Wenn der St. Lorenz, einer der größten Flüsse der Welt, von den Großen Seen kommend die Stadt Montréal erreicht, weitet er sich und wird erstaunlich flach. Über Steine und Klippen muss das Wasser plötzlich fließen, als wäre der gewaltige Strom nur ein völlig aus der Fasson geratener Bach. An den Stromschnellen von Lachine endete bis ins frühe neunzehnte Jahrhundert, als hier ein Kanal gebaut wurde, die Schifffahrt. Die ersten europäischen Siedler, die an diesem Ort ein kleines Fort errichteten, hatten noch geglaubt, jenseits dieses Hindernisses an ein weitverzweigtes System von Seen und Flüssen zu gelangen, das ihnen irgendwo Zugang zum Pazifik und damit zum fernen Osten gewähren sollte.
Die Prärie und der Wohnwagen
Deswegen war von „China” die Rede gewesen. Längst weiß man es besser: Noch dreißig, vierzig Kilometer weiter, hinter Salaberry-le-Valleyfield, beginnt auf dem rechten Ufer die kanadische Provinz Ontario, und auf dem linken liegen die Vereinigten Staaten von Amerika. Diesseits aber, den St. Lorenz und seine Seitenflüsse hinauf bis zum Beginn der großen Mündung auf der anderen Seite der Insel Anticosti liegt Québec, die größte kanadische Provinz – und eine Welt, die anders ist als der Rest von Nordamerika, aus vielen Gründen, wovon die französische Sprache nur einer, wenngleich wohl der wichtigste ist.
Der Roman „Nikolski” ist das erste veröffentlichte Buch von Nicolas Dickner, einem jungen Mann aus dem Städtchen Rivière-du-Loup, das dort liegt, wo der St. Lorenz sich zum Meer hin öffnet und schon salzig ist. Zuerst im Jahr 2005 in Québec erschienen, erzählt der Roman die Geschichten dreier Menschen zu Beginn ihres Lebens als Erwachsene, und jeder dieser drei Lebensläufe ist innig verbunden mit dem Schicksal der französischsprachigen Minderheit in Nordamerika.
Da ist ein namenloser Erzähler, der in einer antiquarischen Buchhandlung am Boulevard Saint-Laurent arbeitet, der Hauptstraße des alten Montréal, die vom Fluss nach Norden und wohl durch ein Dutzend ethnischer Viertel verläuft und noch immer den frankophonen vom anglophonen Teil der Stadt trennt. Da ist Noah, der Sohn einer Indianerin aus Portage La Prairie in Manitoba, die auf einer Reise ohne Ende mit ihrem Wohnwagen durch die Prärieprovinzen Kanadas kurvt.
Er kommt nach Montréal, weil ihm der Zufall zu einem Studium der Archäologie geraten hatte. Noah und der Namenlose sind Halbbrüder, Söhne eines vorüberziehenden Seemanns von der Atlantikküste, einem Akadier, also dem Abkömmling einer der vielen französischen Familien, die von den Engländern nach dem Sieg im Siebenjährigen Krieg aus allen Gegenden Nordamerikas in abgelegene Winkel verschleppt wurden, weil sie bei der Kolonialisierung des Kontinents im Wege waren. Und da ist Joyce Doucet, ein Mädchen aus Tête-à-Baleine am Nordufer des St. Lorenz, das ihrer Familie von Fischern davonläuft und in Montréal zu einer modernen Piratin werden will. Sie ist eine Cousine der beiden Halbbrüder, doch treffen werden die drei sich nie.
Nomaden hingegen sind sie alle miteinander, und nomadisch gesonnen ist auch der Roman, der ihre Geschichten erzählt, so als bestünden sie aus einer Reihe von Haltestellen auf einer Reise, die keinen Anfang und kein Ziel hat. Jack Kerouac, auch er ein entlaufener Akadier, mag da als Ahne herumspuken, doch es gibt hier keinen Bebop, keinen Buddha und auch viel zu wenig Alkohol, um hinter diesem Dasein wenigstens einen stets fernen Sinn aufscheinen zu lassen – nein, aus der Prosa des Lebens gibt es in „Nikolski” kein Entrinnen.
Wie die Tage der drei jungen Québecer verlaufen, ist vielmehr an zwei höchst alltäglichen Dingen zu ermessen. Das eine ist ein billiger Kompass aus Kunststoff, die einzige Hinterlassenschaft des verschwundenen Vaters, den Noah um den Hals trägt. Doch anstatt geradewegs nach Norden zu zeigen, hat die Nadel einen Drall, so dass sie auf einen winzigen Ort auf den Aleuten verweist – auf Nikolski, den letzten bekannten Aufenthaltsort des Vaters. Das andere ist der Müll, den Nomaden auf ihren Wanderungen hinterlassen und von dem zumindest diese drei Wanderer auch zu leben scheinen. Der eine im Antiquariat, unter Tausenden von Büchern, die keiner mehr lesen will, der andere als angehender Archäologe indianischer Vergangenheiten wie der industrialisierten Gegenwart, die dritte als Marodeurin im Elektroschrott der großen Unternehmen, aus denen sie sich die Instrumente für ihre Raubzüge mit fremden Kreditkarten zusammenschraubt.
Der Müll und die Stadt
Das Allegorische am schiefen Kompass wie an der Unausweichlichkeit des Mülls ist nicht zu übersehen, und es wird nicht geringer dadurch, dass es hier überdies um ein geheimnisvolles altes Buch ohne Einband geht, das in Wahrheit aus drei willkürlich zusammengeleimten Büchern besteht und von einer Hand zur anderen gehen muss. Doch das Allegorische ist hier nur der Kleister, um von etwas ganz anderem erzählen zu können: zum einen von der Stadt selber, zum anderen von einer sonderbaren Haltlosigkeit, die mit dieser Stadt und dieser Provinz verbunden zu sein scheint wie der Flaggenstolz mit dem Bürger der Vereinigten Staaten .
Denn Québec ist nicht Amerika und nicht Frankreich, und doch ist es beides und immer das, was es gerade nicht sein soll, so dass man am Ende ganz verwirrt ist und sich nur noch auf das unmittelbar Naheliegende besinnt. Und dann ist da diese Stadt von zwei oder vier Millionen Einwohnern, je nachdem, ob man nur die Insel oder auch die Vororte zählt, diese Stadt, von der Nicolas Dickner mit einer Anschaulichkeit und Intensität berichtet, wie sie vor ihm wohl nur Mordecai Richler (und Leonard Cohen, dieser aber in einem anderen Genre) zusammenbrachte.
Denn wenn die drei Nomaden, aller Verwandtschaft zum Trotz, einander nicht begegnen, weil jeder seinem eigenen schiefen Kompass folgt, so leben sie doch mehrere Jahre lang im selben Viertel, in Petite Italie, in Sichtweite des Dante-Denkmals, in der Nachbarschaft des Marché Jean-Talon, des größten Bauernmarkts in Montréal. In diesem Einwandererviertel haben sich zu den früheren Generationen, eben den Italienern, längst die neuen gesellt, die Araber und die Menschen aus der Dominikanischen Republik, die Philippinos und die Lateinamerikaner.
Doch anders als die ethnischen Gruppen in den Vereinigten Staaten bleiben sie erkennbar, auch wenn sie sich ändern und langsam in eine andere Welt hinüberwachsen. Auch den Québecois scheint es ähnlich zu gehen, zumal denen, die nicht aus der großen Stadt kommen, sondern aus Rivière-du-Loup oder aus Tête-à-la-Baleine, Hunderte von Kilometern nördlich, und dahinter gibt es nur noch ein paar Robben, einige Schneefüchse und eine unendliche Tundra. Und wenn das so ist – vielleicht braucht man dann geheimnisvolle Bücher und irregeleitete Kompasse, poststrukturalistische Mülltheorien und abenteuerliche Seefahrer, weil man erst hineinrücken muss in eine kulturelle Tradition und weil das Klischee, die Übertreibung zur Einfachheit, diesem Zweck viel eher dient als die matte Ironie des erfahrenen Lesers. Etwas Kindliches ist an „Nikolski”, einem Einwanderungsbuch für Bewanderte, und das ist in diesem Fall ganz und gar nicht abwertend gemeint.
THOMAS STEINFELD
NICOLAS DICKNER: Nikolski. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Andreas Jandl. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 302 Seiten, 19,90 Euro.
Nicht jeder in Québec ist aus Québec: In der Rue Saint-Denis, Montréal Foto: Harry Gruyaert / Magnum Photos/Agentur Focus
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Drei Nomaden mit schiefem Kompass: Nicolas Dickners Roman „Nikolski” über Québec und seine Einwanderer
Wenn der St. Lorenz, einer der größten Flüsse der Welt, von den Großen Seen kommend die Stadt Montréal erreicht, weitet er sich und wird erstaunlich flach. Über Steine und Klippen muss das Wasser plötzlich fließen, als wäre der gewaltige Strom nur ein völlig aus der Fasson geratener Bach. An den Stromschnellen von Lachine endete bis ins frühe neunzehnte Jahrhundert, als hier ein Kanal gebaut wurde, die Schifffahrt. Die ersten europäischen Siedler, die an diesem Ort ein kleines Fort errichteten, hatten noch geglaubt, jenseits dieses Hindernisses an ein weitverzweigtes System von Seen und Flüssen zu gelangen, das ihnen irgendwo Zugang zum Pazifik und damit zum fernen Osten gewähren sollte.
Die Prärie und der Wohnwagen
Deswegen war von „China” die Rede gewesen. Längst weiß man es besser: Noch dreißig, vierzig Kilometer weiter, hinter Salaberry-le-Valleyfield, beginnt auf dem rechten Ufer die kanadische Provinz Ontario, und auf dem linken liegen die Vereinigten Staaten von Amerika. Diesseits aber, den St. Lorenz und seine Seitenflüsse hinauf bis zum Beginn der großen Mündung auf der anderen Seite der Insel Anticosti liegt Québec, die größte kanadische Provinz – und eine Welt, die anders ist als der Rest von Nordamerika, aus vielen Gründen, wovon die französische Sprache nur einer, wenngleich wohl der wichtigste ist.
Der Roman „Nikolski” ist das erste veröffentlichte Buch von Nicolas Dickner, einem jungen Mann aus dem Städtchen Rivière-du-Loup, das dort liegt, wo der St. Lorenz sich zum Meer hin öffnet und schon salzig ist. Zuerst im Jahr 2005 in Québec erschienen, erzählt der Roman die Geschichten dreier Menschen zu Beginn ihres Lebens als Erwachsene, und jeder dieser drei Lebensläufe ist innig verbunden mit dem Schicksal der französischsprachigen Minderheit in Nordamerika.
Da ist ein namenloser Erzähler, der in einer antiquarischen Buchhandlung am Boulevard Saint-Laurent arbeitet, der Hauptstraße des alten Montréal, die vom Fluss nach Norden und wohl durch ein Dutzend ethnischer Viertel verläuft und noch immer den frankophonen vom anglophonen Teil der Stadt trennt. Da ist Noah, der Sohn einer Indianerin aus Portage La Prairie in Manitoba, die auf einer Reise ohne Ende mit ihrem Wohnwagen durch die Prärieprovinzen Kanadas kurvt.
Er kommt nach Montréal, weil ihm der Zufall zu einem Studium der Archäologie geraten hatte. Noah und der Namenlose sind Halbbrüder, Söhne eines vorüberziehenden Seemanns von der Atlantikküste, einem Akadier, also dem Abkömmling einer der vielen französischen Familien, die von den Engländern nach dem Sieg im Siebenjährigen Krieg aus allen Gegenden Nordamerikas in abgelegene Winkel verschleppt wurden, weil sie bei der Kolonialisierung des Kontinents im Wege waren. Und da ist Joyce Doucet, ein Mädchen aus Tête-à-Baleine am Nordufer des St. Lorenz, das ihrer Familie von Fischern davonläuft und in Montréal zu einer modernen Piratin werden will. Sie ist eine Cousine der beiden Halbbrüder, doch treffen werden die drei sich nie.
Nomaden hingegen sind sie alle miteinander, und nomadisch gesonnen ist auch der Roman, der ihre Geschichten erzählt, so als bestünden sie aus einer Reihe von Haltestellen auf einer Reise, die keinen Anfang und kein Ziel hat. Jack Kerouac, auch er ein entlaufener Akadier, mag da als Ahne herumspuken, doch es gibt hier keinen Bebop, keinen Buddha und auch viel zu wenig Alkohol, um hinter diesem Dasein wenigstens einen stets fernen Sinn aufscheinen zu lassen – nein, aus der Prosa des Lebens gibt es in „Nikolski” kein Entrinnen.
Wie die Tage der drei jungen Québecer verlaufen, ist vielmehr an zwei höchst alltäglichen Dingen zu ermessen. Das eine ist ein billiger Kompass aus Kunststoff, die einzige Hinterlassenschaft des verschwundenen Vaters, den Noah um den Hals trägt. Doch anstatt geradewegs nach Norden zu zeigen, hat die Nadel einen Drall, so dass sie auf einen winzigen Ort auf den Aleuten verweist – auf Nikolski, den letzten bekannten Aufenthaltsort des Vaters. Das andere ist der Müll, den Nomaden auf ihren Wanderungen hinterlassen und von dem zumindest diese drei Wanderer auch zu leben scheinen. Der eine im Antiquariat, unter Tausenden von Büchern, die keiner mehr lesen will, der andere als angehender Archäologe indianischer Vergangenheiten wie der industrialisierten Gegenwart, die dritte als Marodeurin im Elektroschrott der großen Unternehmen, aus denen sie sich die Instrumente für ihre Raubzüge mit fremden Kreditkarten zusammenschraubt.
Der Müll und die Stadt
Das Allegorische am schiefen Kompass wie an der Unausweichlichkeit des Mülls ist nicht zu übersehen, und es wird nicht geringer dadurch, dass es hier überdies um ein geheimnisvolles altes Buch ohne Einband geht, das in Wahrheit aus drei willkürlich zusammengeleimten Büchern besteht und von einer Hand zur anderen gehen muss. Doch das Allegorische ist hier nur der Kleister, um von etwas ganz anderem erzählen zu können: zum einen von der Stadt selber, zum anderen von einer sonderbaren Haltlosigkeit, die mit dieser Stadt und dieser Provinz verbunden zu sein scheint wie der Flaggenstolz mit dem Bürger der Vereinigten Staaten .
Denn Québec ist nicht Amerika und nicht Frankreich, und doch ist es beides und immer das, was es gerade nicht sein soll, so dass man am Ende ganz verwirrt ist und sich nur noch auf das unmittelbar Naheliegende besinnt. Und dann ist da diese Stadt von zwei oder vier Millionen Einwohnern, je nachdem, ob man nur die Insel oder auch die Vororte zählt, diese Stadt, von der Nicolas Dickner mit einer Anschaulichkeit und Intensität berichtet, wie sie vor ihm wohl nur Mordecai Richler (und Leonard Cohen, dieser aber in einem anderen Genre) zusammenbrachte.
Denn wenn die drei Nomaden, aller Verwandtschaft zum Trotz, einander nicht begegnen, weil jeder seinem eigenen schiefen Kompass folgt, so leben sie doch mehrere Jahre lang im selben Viertel, in Petite Italie, in Sichtweite des Dante-Denkmals, in der Nachbarschaft des Marché Jean-Talon, des größten Bauernmarkts in Montréal. In diesem Einwandererviertel haben sich zu den früheren Generationen, eben den Italienern, längst die neuen gesellt, die Araber und die Menschen aus der Dominikanischen Republik, die Philippinos und die Lateinamerikaner.
Doch anders als die ethnischen Gruppen in den Vereinigten Staaten bleiben sie erkennbar, auch wenn sie sich ändern und langsam in eine andere Welt hinüberwachsen. Auch den Québecois scheint es ähnlich zu gehen, zumal denen, die nicht aus der großen Stadt kommen, sondern aus Rivière-du-Loup oder aus Tête-à-la-Baleine, Hunderte von Kilometern nördlich, und dahinter gibt es nur noch ein paar Robben, einige Schneefüchse und eine unendliche Tundra. Und wenn das so ist – vielleicht braucht man dann geheimnisvolle Bücher und irregeleitete Kompasse, poststrukturalistische Mülltheorien und abenteuerliche Seefahrer, weil man erst hineinrücken muss in eine kulturelle Tradition und weil das Klischee, die Übertreibung zur Einfachheit, diesem Zweck viel eher dient als die matte Ironie des erfahrenen Lesers. Etwas Kindliches ist an „Nikolski”, einem Einwanderungsbuch für Bewanderte, und das ist in diesem Fall ganz und gar nicht abwertend gemeint.
THOMAS STEINFELD
NICOLAS DICKNER: Nikolski. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Andreas Jandl. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 302 Seiten, 19,90 Euro.
Nicht jeder in Québec ist aus Québec: In der Rue Saint-Denis, Montréal Foto: Harry Gruyaert / Magnum Photos/Agentur Focus
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