Gefährdung des Kindeswohls sowie die Tendenz, die Effekte der außerhäuslichen Betreuung kleiner Kinder zu beschönigen, zeigen, dass der Stellenwert der Erziehung innerhalb der Familie im Sinken begriffen ist.
Beinahe schon wird Eltern eingeredet, dass sie ihren Kindern Bildungschancen vorenthielten, wenn sie sie nicht in eine Krippe brächten. Natürlich gibt es Eltern, die es nicht schaffen, ihre Kinder nach bürgerlichen Maßstäben zu erziehen - aber ob das der "Familienlotse" beim Arbeitsamt besser kann? Natürlich müssen Misshandlungen verhindert werden -, doch eine Minderheit überforderter Eltern darf nicht als Vorwand gelten, die Grundrechte anderer Eltern einzuschränken.
Auf diese Fehlentwicklung in der öffentlichen Debatte machen Ralph Dawirs und Gunther Moll in ihrem neuen Elternratgeber aufmerksam. Für sie sind Eltern die wahren Leistungsträger einer Gesellschaft. Beide Autoren wehren sich gegen den Anspruch des Staates, der bessere Erzieher zu sein. Ankerpunkt ihrer Argumentation ist neben dem Grundgesetz, das in Artikel 6 die Erziehung der Kinder als das Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht bezeichnet, die Liebe der Eltern zu ihrem Kind. Eine Binsenweisheit, könnte man meinen, vermeintlich altmodisch: Doch die Autoren wissen aus ihrer Berufspraxis, dass Elternliebe und Urvertrauen die Grundlage aller späteren Entwicklung sind. Beide sind Spezialisten für psychische Störungen: Dawirs ist Professor für Neurobiologie und forscht am Universitätsklinikum Erlangen, Gunther Moll leitet die dortige Kinder- und Jugendpsychiatrie. In ihrem Buch versuchen sie, Prävention zu betreiben und das Verständnis für die Bedingungen gesunden Aufwachsens zu stärken.
Die über viele Stunden am Tag fehlende Elternliebe ist ihr entscheidendes Argument gegen Krippen: Erziehung, so ihre Gleichung, sei Betreuung plus Liebe. Die institutionelle Betreuung aber sei Erziehung ohne Liebe - denn keine Erzieherin könne (und solle) ein Kind so lieben wie die Eltern: "Erziehung ist der Versuch einer Vorteilsbeschaffung für die eigenen Nachkommen, ein über die Liebe vermittelter Aufwand zur Stärkung der eigenen Familie." Krippenbefürworter sehen gerade darin das Argument gegen lange häusliche Erziehung: "Es würde zu mehr Ungleichheit kommen, wenn die gut ausgebildeten Mütter mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen", sagte Katharina Spieß, Forschungsdirektorin für "Bildung" am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin, kürzlich bei der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik zum Thema "Ökonomie der Familie". Das lässt tief blicken.
Mit einer weiteren Mär räumen die Autoren auf: der Idee der Frühförderung gesunder Kinder. Allein der Ausdruck pathologisiere die freie Entwicklung des Menschen. Bis zu ihrem sechsten Geburtstag brauchten Kinder vor allem Zeit, zu spielen, sich zu bewegen und ungestört die Umwelt zu erkunden. "Eine glückliche Kindheit im Ranzen" sei die beste Voraussetzung für eine gelingende Schullaufbahn. Dazu gehören garantiert nicht, so ihre Meinung, Kurse in Englisch, Mathematik oder Naturwissenschaften für unter Sechsjährige. "Die Entwicklung eines Kindes wird umso mehr gelingen, je weniger sie es methodisch fördern oder gar trainieren." Viele Kinder lernten dadurch lediglich, nur über ihre Leistung wahrgenommen zu werden, fühlten sich überfordert oder als Versager. Die "Starkmacher" Eigenständigkeit und Selbstbewusstsein könnten sich so nur schwer entwickeln. Mittlerweile leidet jedes zehnte Kind an Schulangst, 40 Prozent der Eltern gaben in einer Forsa-Umfrage an, dass ihre Kinder oft traurig, gereizt, aggressiv oder zurückgezogen seien. Die Autoren führen das darauf zurück, dass sich das Leistungsdenken der Erwachsenenwelt zu sehr der Kindheit bemächtigt habe.
Neben der frühen Kindheit und der Gehirnentwicklung des Babys widmet sich das Buch Fragen gesunder Ernährung und der Vermeidung von Essstörungen, der Werteerziehung, Pubertätskonflikten, der Fernsehnutzung sowie des Umgangs älterer Kinder mit Computer, Spielkonsolen und Internet. Dabei variieren die Autoren den Satz Marcel Reich-Ranickis, wonach Fernsehen den Dummen eher dümmer, den Klugen eher klüger mache. Das Gleiche gelte für den richtig genutzten Computer. Computer- und Interneterziehung ist - das machen sie deutlich - angesichts der Allgegenwart elektronischer Medien, ihrer Attraktivität und ihres hohen Nutzens heute kein Randaspekt der Pädagogik mehr. Es reiche auch nicht, Kindern den Zugang zu verschaffen und ihnen vorzuleben, dass man die Geräte auch wieder ausschalten könne. Sie rufen dazu auf, sich intensiv mit den Inhalten zu befassen: Filme zumindest einmal mit den Kindern gemeinsam anzusehen und mit ihnen darüber zu sprechen; Computerspiele für Jugendliche selbst zu kaufen und sich zuvor von ihrer Risikolosigkeit zu überzeugen; geeignete Internetseiten zu kennen und sie auf einer "Positivliste" dem Nachwuchs zu empfehlen. Auch ein Bewusstsein für die Gefahren zu großer Offenheit und Mitteilsamkeit im Netz zu schaffen könne nicht der Schule überlassen werden. Mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit, wie man darauf verwendet, Kinder mit dem Straßenverkehr vertraut zu machen, sollte also aufgebracht werden, um Umgangsregeln im Netz zu erklären.
In einem gleichermaßen überraschenden und überzeugenden Kapitel nehmen sich die Autoren der Bedeutung des Humors in der Erziehung an. Er sei unerlässlich, damit sich Kinder wohl fühlten - denn er lasse sie Zuversicht und Optimismus spüren. "Setzen Sie sich auf den Boden zu Ihren Kindern und lachen Sie", empfehlen sie. Humor werde in der Kindheit erlernt und sei eine überaus wichtige Eigenschaft: Humorvollen Kindern fällt es später leichter, anderen Menschen mit Herzlichkeit und Nachsicht zu begegnen und sich in Gruppen zu integrieren. "Fröhliche Kinder sind insgesamt ausgeglichener, lassen sich nicht so leicht frustrieren und sind bei ihren Freunden, aber auch bei Erwachsenen, beliebt." Sogar ihre Abwehrkräfte seien stärker ausgeprägt als die von Miesepetern.
Es ist nicht leicht, im Genre der pädagogischen Ratgeber der Variation bewährter Themen neue Aspekte hinzuzufügen. Das gelingt Dawirs und Moll. Mit Gewinn wird ihr Buch lesen, wer auf konservativer Grundlage Impulse für die Erziehung im 21. Jahrhundert sucht.
Ralph Dawirs und Gunther Moll: "Die 10 größten Erziehungsirrtümer und wie wir es besser machen können". Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2010. 216 S., br., 14,95 [Euro].
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