Die 10. Volkskammer der DDR war ein außergewöhnliches Parlament. Als erste und gleichzeitig letzte frei gewählte Volksvertretung der DDR war sie im Frühjahr 1990 angetreten, an der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten mitzuwirken, die sich über vier Jahrzehnte im Kalten Krieg gegenübergestanden hatten. Ihr Auftrag war es, den Staat, dessen Bürger sie repräsentierte, schnellstmöglich abzuwickeln und somit sich selbst abzuschaffen. Diese Aufgabe musste von Abgeordneten bewältigt werden, die über keinerlei Erfahrungen mit der Funktionsweise des parlamentarischen Systems und seinen Arbeitsabläufen verfügten.Das Buch untersucht den Lernprozess der Neuparlamentarier und stützt sich dabei auch auf Videoaufzeichnungen der im DDR-Fernsehen live übertragenen Plenarsitzungen der Volkskammer. - Welche Vorstellungen hatten die Abgeordneten von ihrer Aufgabe, woran orientierten sie sich? Wie traten sie auf, wie redeten sie, wie verlief die Arbeit in Plenum und Fraktionen? - Konnte die 10. Volkskammer, wie manche Akteure rückblickend meinen, in der kurzen Zeit ihrer Existenz eine eigenständige parlamentarische Kultur entwickeln?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2017Herausragende Beschlüsse
Letzte DDR-Volkskammer
Am 5. April 1990 konstituierte sich die einzige frei gewählte und demokratisch legitimierte Volksvertretung in der 40-jährigen Geschichte der DDR. Die 400 Abgeordneten, die am 18. März 1990 gewählt worden waren, vertraten ein buntes Kaleidoskop an Parteien und Wahlbündnissen. Dazu gehörten neben etlichen anderen Parteien die einstige Staatspartei SED, die mittlerweile in PDS umbenannt worden war, ebenso wie die CDU aber auch die nicht einmal ein halbes Jahr zuvor in der DDR wieder gegründete Sozialdemokratische Partei oder Bündnis 90/Die Grünen. Den neu gewählten Abgeordneten blieben gerade einmal sechs Monate, um ein Mammutprogramm zu absolvieren, das bis zum 2. Oktober 1990 die Voraussetzungen für einen möglichst reibungslosen und schnellen Vereinigungsprozess schaffen sollte. Das Ziel war, diesen Prozess "für die ostdeutsche Seite (zu) organisieren und dabei sich selbst und den Staat, deren Bürger sie repräsentierte, abzuwickeln." Den Abgeordneten war durchaus bewusst, dass sie ein "Übergangsparlament" bilden würden, um die DDR zur Bundesrepublik "rechtlich kompatibel" zu machen.
Bis zu dessen Schließung tagte die Volkskammer im Palast der Republik. 38 Mal traten die Abgeordneten in diesem kurzen Zeitraum zusammen. Sie fassten über 500 Beschlüsse und erließen 150 Gesetze. Das Scheinparlament, das die Volkskammer bis 1990 darstellte, tagte pro Jahr lediglich zweimal, um - wie der Bürgerrechtler Jens Reich spottete - per "Händchen heben" die zuvor im Politbüro der SED vorgefassten Beschlüsse abzunicken. Alle Abgeordneten im neuen Parlament waren über Nacht zu "Berufspolitikern" geworden. Sie waren ohne Vorkenntnisse über parlamentarische Regeln und das parlamentarische Systems selbst. Hinzu kam große Unkenntnis über die in der alten Bundesrepublik geltenden Gesetze. Unter hohem Zeitdruck mussten riesige Aufgaben bewältigt und Entscheidungen getroffen werden, deren Tragweite oft nicht absehbar war. Zudem kamen Arbeitsbedingungen im Plenarsaal der Volkskammer, die einmal mehr belegen, dass die Volkskammer bis dahin tatsächlich nur ein "Abnickorgan" war: Wie Tüffers anschaulich beschreibt, war die technische und räumliche Ausstattung des Plenarsaals weder auf eine offene Aussprache noch spontane Zwischenrufe oder Meinungsäußerungen ausgerichtet. So fehlten an den Abgeordnetenplätzen die Mikrofone gänzlich, und auch sonst gab es im Saal zu wenig Saal-Mikros, sodass die Abgeordneten oft Schlange standen, um sich äußern zu können. Auch für die Stenographen änderte sich die Arbeit: Sie mussten nun echte Debatten stenographieren. Ihre Arbeitsplätze waren dafür jedoch nicht ausgerichtet. Sie saßen in Nischen, aus denen sie oft kaum verstanden, was im Saal gesprochen wurde.
Zu den herausragenden Beschlüssen gehören der Beitritt zur Bundesrepublik vom 23. August, der das Ende der DDR und seiner letzten Volksvertretung besiegelte, und die Öffnung der Stasi-Akten. Hervorzuheben ist auch die gemeinsame Erklärung aller Fraktionen vom 12. April 1990, in der die besondere Verantwortung Deutschlands vor dem Hintergrund der im Nationalsozialismus begangenen Verbrechen betont wird. Die Abgeordneten hatten "angesichts einer politischen und gesellschaftlichen Entwicklung, der sie immer nur hinterherlaufen und die sie nie kontrollieren oder selten nennenswert beeinflussen konnten", das Gefühl, nicht alles zu schaffen, was erforderlich war. Überdies wurde den Abgeordneten, deren Schwesterparteien aus dem Westen "Aufbauhilfe" leisteten, vorgeworfen, vom Westen "fremdgesteuert" zu sein. Aus dem Westen wiederum wurden sie nicht selten als "Laienschauspieler" und "Amateure" abgewertet.
Je mehr Zeit vergangen ist, umso schöner werden die Erinnerungen an dieses Parlament, das im permanenten Ausnahmezustand operierte. Dieses gilt mit dem zeitlichen Abstand von einem Vierteljahrhundert als "Höhepunkt europäischen Parlamentarismus" und geht mit der Umdeutung einstiger Kritikpunkte einher, wie Tüffers herausarbeitet: "Aus Chaos wurde Improvisationstalent, aus mangelnder Streitlust Präferenz für sachliche Diskussionen." Bettina Tüffers hat eine gut lesbare und lebendige Darstellung vorgelegt, für die sie neben den veröffentlichten Plenarprotokollen, unter anderem auch die Filmaufnahmen aller Plenarsitzungen sowie Tonaufnahmen von Fraktionssitzungen auswertete, um Abweichungen zwischen Text und Bild aufzuspüren. Dem Fazit von Tüffers, dass "die 10. Volkskammer ohne Zweifel außergewöhnlich" war, kann man nur zustimmen.
ANNA KAMINSKY
Bettina Tüffers: Die 10. Volkskammer der DDR. Ein Parlament im Umbruch. Selbstwahrnehmung, Selbstparlamentarisierung, Selbstauflösung. Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Herausgegeben von der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Band 173. Droste Verlag, Düsseldorf 2017. 379 S. 49,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Letzte DDR-Volkskammer
Am 5. April 1990 konstituierte sich die einzige frei gewählte und demokratisch legitimierte Volksvertretung in der 40-jährigen Geschichte der DDR. Die 400 Abgeordneten, die am 18. März 1990 gewählt worden waren, vertraten ein buntes Kaleidoskop an Parteien und Wahlbündnissen. Dazu gehörten neben etlichen anderen Parteien die einstige Staatspartei SED, die mittlerweile in PDS umbenannt worden war, ebenso wie die CDU aber auch die nicht einmal ein halbes Jahr zuvor in der DDR wieder gegründete Sozialdemokratische Partei oder Bündnis 90/Die Grünen. Den neu gewählten Abgeordneten blieben gerade einmal sechs Monate, um ein Mammutprogramm zu absolvieren, das bis zum 2. Oktober 1990 die Voraussetzungen für einen möglichst reibungslosen und schnellen Vereinigungsprozess schaffen sollte. Das Ziel war, diesen Prozess "für die ostdeutsche Seite (zu) organisieren und dabei sich selbst und den Staat, deren Bürger sie repräsentierte, abzuwickeln." Den Abgeordneten war durchaus bewusst, dass sie ein "Übergangsparlament" bilden würden, um die DDR zur Bundesrepublik "rechtlich kompatibel" zu machen.
Bis zu dessen Schließung tagte die Volkskammer im Palast der Republik. 38 Mal traten die Abgeordneten in diesem kurzen Zeitraum zusammen. Sie fassten über 500 Beschlüsse und erließen 150 Gesetze. Das Scheinparlament, das die Volkskammer bis 1990 darstellte, tagte pro Jahr lediglich zweimal, um - wie der Bürgerrechtler Jens Reich spottete - per "Händchen heben" die zuvor im Politbüro der SED vorgefassten Beschlüsse abzunicken. Alle Abgeordneten im neuen Parlament waren über Nacht zu "Berufspolitikern" geworden. Sie waren ohne Vorkenntnisse über parlamentarische Regeln und das parlamentarische Systems selbst. Hinzu kam große Unkenntnis über die in der alten Bundesrepublik geltenden Gesetze. Unter hohem Zeitdruck mussten riesige Aufgaben bewältigt und Entscheidungen getroffen werden, deren Tragweite oft nicht absehbar war. Zudem kamen Arbeitsbedingungen im Plenarsaal der Volkskammer, die einmal mehr belegen, dass die Volkskammer bis dahin tatsächlich nur ein "Abnickorgan" war: Wie Tüffers anschaulich beschreibt, war die technische und räumliche Ausstattung des Plenarsaals weder auf eine offene Aussprache noch spontane Zwischenrufe oder Meinungsäußerungen ausgerichtet. So fehlten an den Abgeordnetenplätzen die Mikrofone gänzlich, und auch sonst gab es im Saal zu wenig Saal-Mikros, sodass die Abgeordneten oft Schlange standen, um sich äußern zu können. Auch für die Stenographen änderte sich die Arbeit: Sie mussten nun echte Debatten stenographieren. Ihre Arbeitsplätze waren dafür jedoch nicht ausgerichtet. Sie saßen in Nischen, aus denen sie oft kaum verstanden, was im Saal gesprochen wurde.
Zu den herausragenden Beschlüssen gehören der Beitritt zur Bundesrepublik vom 23. August, der das Ende der DDR und seiner letzten Volksvertretung besiegelte, und die Öffnung der Stasi-Akten. Hervorzuheben ist auch die gemeinsame Erklärung aller Fraktionen vom 12. April 1990, in der die besondere Verantwortung Deutschlands vor dem Hintergrund der im Nationalsozialismus begangenen Verbrechen betont wird. Die Abgeordneten hatten "angesichts einer politischen und gesellschaftlichen Entwicklung, der sie immer nur hinterherlaufen und die sie nie kontrollieren oder selten nennenswert beeinflussen konnten", das Gefühl, nicht alles zu schaffen, was erforderlich war. Überdies wurde den Abgeordneten, deren Schwesterparteien aus dem Westen "Aufbauhilfe" leisteten, vorgeworfen, vom Westen "fremdgesteuert" zu sein. Aus dem Westen wiederum wurden sie nicht selten als "Laienschauspieler" und "Amateure" abgewertet.
Je mehr Zeit vergangen ist, umso schöner werden die Erinnerungen an dieses Parlament, das im permanenten Ausnahmezustand operierte. Dieses gilt mit dem zeitlichen Abstand von einem Vierteljahrhundert als "Höhepunkt europäischen Parlamentarismus" und geht mit der Umdeutung einstiger Kritikpunkte einher, wie Tüffers herausarbeitet: "Aus Chaos wurde Improvisationstalent, aus mangelnder Streitlust Präferenz für sachliche Diskussionen." Bettina Tüffers hat eine gut lesbare und lebendige Darstellung vorgelegt, für die sie neben den veröffentlichten Plenarprotokollen, unter anderem auch die Filmaufnahmen aller Plenarsitzungen sowie Tonaufnahmen von Fraktionssitzungen auswertete, um Abweichungen zwischen Text und Bild aufzuspüren. Dem Fazit von Tüffers, dass "die 10. Volkskammer ohne Zweifel außergewöhnlich" war, kann man nur zustimmen.
ANNA KAMINSKY
Bettina Tüffers: Die 10. Volkskammer der DDR. Ein Parlament im Umbruch. Selbstwahrnehmung, Selbstparlamentarisierung, Selbstauflösung. Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Herausgegeben von der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Band 173. Droste Verlag, Düsseldorf 2017. 379 S. 49,80 [Euro].
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