Wie ist die Bibel entstanden? Warum mußte Jesus sterben? Warum ist die Einheit der Kirchen kein erstrebenswertes Ziel? Macht der christliche Glaube glücklich? Wie wirkt ein Gebet? Gibt es Gott? Diese und andere Fragen beantwortet Johann Hinrich Claussen knapp, kenntnisreich und für jeden verständlich. Das Buch enthält ganz einfache Fragen, die teilweise gar nicht so leicht zu beantworten sind, aber auch schwierige Fragen mit überraschend einfachen Antworten.
Leseprobe:
Über die gegenwärtige Lage des Christentums
1. Warum läßt Gott die Menschen niemals in Ruhe, umgekehrt auch nicht? Wäre das Christentum ein Patient, man wüßte nicht, welche Diagnose man ihm stellen sollte. So viele haben es schon als hoffnungslosen Fall ausgemacht und jedwede weitere Behandlung für sinnlos erklärt. So viele haben seine Geschichte als Krankheit zum Tode dargestellt. So viele Religionsverächter und Kirchenkritiker haben - besonders während des antiautoritären Kulturumbruchs von 1968 - sein unmittelbares Ableben geradezu herbeigeredet.
Dennoch gibt es das Christentum immer noch. So viele sich auch von ihm abgewandt haben, selbst im säkularisierten Westeuropa ist es weiterhin einer der wichtigsten Kulturfaktoren. In anderen Weltgegenden wie Afrika oder Asien erlebt es sogar einen sagenhaften Aufschwung. Gleichwohl nimmt jedes Gespräch über das Christentum unweigerlich einen krisenschwangeren Unheilston an. Es ist nicht mehr das, was es einmal war. Es ist nicht mehr selbstverständlich. Vielen ist es sehr fremd geworden.
Die Diagnose bleibt unklar. Die alten Eindeutigkeiten in der Beurteilung der religiösen Lage sind hinfällig geworden. Eine unangefochten mehrheitsfähige Christlichkeit gibt es nicht mehr. Zugleich aber hat sich auch eine selbstgewisse Religionskritik überlebt. Niemand wagt es mehr, das Ende der Religionsgeschichte auszurufen. Niemand scheint mehr rechte Lust darauf zu verspüren. Das mag damit zusammenhängen, daß das Christentum nicht mehr so übermächtig ist, daß man sich genötigt sähe, gegen es anzurennen. Ein weiterer Grund ist aber, daß sich immer noch existentielle Fragen stellen, die sich nicht anders als religiös formulieren und beantworten lassen.
Irritiert stellt man fest, daß man so einfach nicht mit dem Thema Religion fertig wird. Diese Verwunderung hat besonders Hans Magnus Enzensberger zur Sprache gebracht. In vielen seiner neueren Gedichte tauchen plötzlich, ganz unvermutet, religiöse Fragen und christliche Motive auf. Eines von ihnen hat den Titel Tagesordnung (1999).
Steuerberater anrufen, arbeiten auch.
Brüten über dem Foto einer Frau,
die sich umgebracht hat.
Nachschlagen, wann das Wort Feindbild
zum ersten Mal aufgetaucht ist.
Nach dem Donner die Blasen betrachten,
die der Wolkenbruch auf das Pflaster wirft,
und die nasse Luft trinken.
Rauchen auch, ohne Ton fernsehen.
Sich fragen, woher das sexuelle Kribbeln
mitten in einer öden Sitzung kommt.
Sieben Minuten lang an Algerien denken.
Hemmungslos wie ein Zwölfjähriger fluchen
über einen abgebrochenen Fingernagel.
Sich an einen bestimmten Abend erinnern,
vor einundzwanzig Jahren, im Juni,
ein schwarzer Pianist spielte cha cha cha,
und jemand weinte vor Zorn.
Zahnpasta kaufen nicht vergessen.
Rätseln, warum epi = -1;
warum Gott die Menschen niemals
in Ruhe läßt, umgekehrt auch nicht.
Glühbirne in der Küche auswechseln.
Die leblose, feuchte, zerraufte Krähe
spitzfingrig vom Balkon holen.
Den Wolken zusehen, den Wolken.
Schlafen, auch schlafen.
Allerlei steht auf der Tagesordnung des Dichters: Wichtiges und Unwichtiges, Hohes und Niedriges, Belangloses und Schreckliches. Und mitten hinein schießt dieses Rätsel: «warum Gott die Menschen niemals in Ruhe läßt». Man kann diesen Vers als fernes Echo auf eine berühmte Formulierung des evangelischen Theologen Paul Tillich lesen: Gott ist das, was einen unbedingt angeht - einen also niemals in Ruhe läßt. Diese Ruhelosigkeit hat zwei Seiten: «warum Gott die Menschen niemals in Ruhe läßt - umgekehrt auch nicht». Beide - Gott und Mensch - kommen anscheinend nicht voneinander los. Aber eine Bekehrung bleibt aus. Das religiöse Rätsel scheint auf und tritt sogleich wieder in den Hintergrund. Plötzlich steht der Gottesgedanke faszinierend im Raum, aber außer einer gewissen Verstörung folgt nichts daraus.
Doch zumindest das ist schon bemerkenswert: Das Christentum wird wieder als Verstörungsquelle wahrgenommen. Gerade weil es so fremd geworden ist, fast exotisch erscheint, macht es manche wieder neugierig. Nicht daß man sich ihm wieder anschließen wollte, aber man möchte wieder gern etwas darüber wissen - auch um die eigenen religiösen Irritationen besser zu verstehen. Unendlich viele Fragen stellen sich neu.
2. Warum gibt es immer noch so große Kirchen? Für gewöhnlich sagt man den Kirchen in Westeuropa nach, daß sie sich in einer unendlichen Rezession befinden. Ohne mit Widerspruch zu rechnen, spricht man davon, daß die Kirchen immer bedeutungsloser werden. Nicht, daß diese Situationsbeschreibung falsch wäre, nur bleibt der Vergleichspunkt unklar. Wann wären die Kirchen denn bedeutsam gewesen? Wann genau war die goldene Zeit, nach der es nur noch stetig bergab ging?
Viele orientieren sich an den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Menschen massenweise wieder zur Kirche zurückkehrten. Das zerstörte «Dritte Reich» hatte ein weltanschauliches Vakuum hinterlassen. Da verhießen die Kirchen, die scheinbar intakt geblieben und vermeintlich schuldlos durch die Katastrophe gegangen waren, eine neue innere Heimat. Damals waren die Kirchen voll, die Jugendarbeit blühte, und Theologen fanden öffentlich Gehör. Doch es war nur ein kurzfristiges Hoch. Schon bald überstieg die Zahl der Austritte wieder diejenige der Eintritte. Aber im Langzeitgedächtnis hat diese Nachkriegskonjunktur so tiefe Spuren hinterlassen, daß man die kirchliche Gegenwart immer noch an ihr mißt.
Um diese Gegenwart präziser zu analysieren, ist es hilfreich, die Frage einmal umzudrehen - also nicht zu fragen, warum es mit den Kirchen immer weiter abwärts geht, sondern warum es in Deutschland immer noch große Volkskirchen gibt. Das ist erstaunlicher, als man meinen sollte.
Vor etwa dreihundert Jahren begann die Aufklärung mit einer umfassenden und grundstürzenden Bibel-, Dogmen-, Kirchen- und Religionskritik. Neue Geistes- und Naturwissenschaften entwarfen ein revolutionär anderes Bild von Mensch und Welt. Ein rasanter gesellschaftlicher Wandel, technische Erfindungen und wirtschaftliche Innovationen schufen eine komplett neue Lebenswelt. Bedenkt man noch die politischen Umstürze und Katastrophen, Weltrevolutionen und Weltkriege, dann wird deutlich, wie wenig von der vormodernen Welt übriggeblieben ist, in welcher die christlichen Kirchen entstanden sind.
Nur die Kirchen sind noch übrig. Natürlich sind sie nicht mehr ganz die alten. Auch sie haben sich modernisiert, rationalisiert und säkularisiert. Aber es gibt sie noch - als Kirchen. Sie gründen auf denselben Texten, feiern dieselben Feste, singen dieselben Lieder, bewohnen dieselben Gebäude, verleihen dieselben Titel und Ämter, weisen also ein erstaunliches Maß an Kontinuität auf. Und weiterhin gehört ihnen ein Großteil der Bevölkerung an. Fast noch fünfzig Millionen Deutsche sind Glieder einer christlichen Kirche, und dies, obwohl sie zumeist ihres Glaubens recht unsicher sind und große Distanz zum kirchlichen Betrieb halten.
Hierin zeigt sich die Macht von Traditionen und Institutionen. Es bedarf schon eines gezielten und über zwei, drei Generationen durchgehaltenen Traditionsabbruchs, um eine einmal etablierte Kirchlichkeit ganz abzustellen. Das zeigt der Blick auf die östlichen Bundesländer. Die aggressiv kirchenfeindliche Politik erst der Nationalsozialisten und dann der Kommunisten hat eine weitgehend kirchenfreie Gesellschaft hinterlassen. Anders sieht es in den westlichen Bundesländern aus, wo trotz tiefgreifender Säkularisierung immer noch Volkskirchlichkeit zu finden ist. Warum? Ist es die Macht der Gewohnheit? Vielleicht, aber nicht nur. Ein weiterer Grund mag darin liegen, daß es zum Christentum nur wenige weltanschauliche Alternativen gibt. Die großen Gegenspieler des neunzehnten Jahrhunderts haben sich zurückgezogen: Die Kunst hat sich in die Winkel ihres Betriebs verzogen und hat keine Ambition mehr, als Quasi-Religion aufzutreten; die Philosophie versteht sich als strenge Fachwissenschaft, die nur noch Fakultätsangehörige etwas angeht. Auch die Gegenmächte des zwanzigsten Jahrhunderts - die kommunistischen und faschistischen Ideologien - sind nicht mehr auf dem Markt der weltanschaulichen Möglichkeiten vertreten. Übriggeblieben sind nur die kapitalistische Wirtschaftsordnung und der demokratische Politikbetrieb. Beide haben sich - anscheinend endgültig - durchgesetzt. Sie werden weithin akzeptiert und respektiert, aber man «liebt» sie nicht und «glaubt» nicht an sie. Denn sie befriedigen keine Sinnbedürfnisse.
Es bleibt ein Gefühl der Leere. Die große Alternative zum Christentum ist heute ein mächtiger, aber auch müder Agnostizismus aus Gleichgültigkeit. Für denjenigen, dem seine eigenen Sinnbedürfnisse nicht gleichgültig sind, bedeutet dies, daß das Christentum und die Kirchen, die es tradieren und öffentlich präsent halten, zumindest interessant sind. Um diesem Interesse nachgehen zu können, bedarf es aber einiger Grundkenntnisse, die weithin verlorengegangen sind. Es braucht Antworten auf so einfache Fragen wie diejenige, was eigentlich das Wort «Bibel» bedeutet.
Leseprobe:
Über die gegenwärtige Lage des Christentums
1. Warum läßt Gott die Menschen niemals in Ruhe, umgekehrt auch nicht? Wäre das Christentum ein Patient, man wüßte nicht, welche Diagnose man ihm stellen sollte. So viele haben es schon als hoffnungslosen Fall ausgemacht und jedwede weitere Behandlung für sinnlos erklärt. So viele haben seine Geschichte als Krankheit zum Tode dargestellt. So viele Religionsverächter und Kirchenkritiker haben - besonders während des antiautoritären Kulturumbruchs von 1968 - sein unmittelbares Ableben geradezu herbeigeredet.
Dennoch gibt es das Christentum immer noch. So viele sich auch von ihm abgewandt haben, selbst im säkularisierten Westeuropa ist es weiterhin einer der wichtigsten Kulturfaktoren. In anderen Weltgegenden wie Afrika oder Asien erlebt es sogar einen sagenhaften Aufschwung. Gleichwohl nimmt jedes Gespräch über das Christentum unweigerlich einen krisenschwangeren Unheilston an. Es ist nicht mehr das, was es einmal war. Es ist nicht mehr selbstverständlich. Vielen ist es sehr fremd geworden.
Die Diagnose bleibt unklar. Die alten Eindeutigkeiten in der Beurteilung der religiösen Lage sind hinfällig geworden. Eine unangefochten mehrheitsfähige Christlichkeit gibt es nicht mehr. Zugleich aber hat sich auch eine selbstgewisse Religionskritik überlebt. Niemand wagt es mehr, das Ende der Religionsgeschichte auszurufen. Niemand scheint mehr rechte Lust darauf zu verspüren. Das mag damit zusammenhängen, daß das Christentum nicht mehr so übermächtig ist, daß man sich genötigt sähe, gegen es anzurennen. Ein weiterer Grund ist aber, daß sich immer noch existentielle Fragen stellen, die sich nicht anders als religiös formulieren und beantworten lassen.
Irritiert stellt man fest, daß man so einfach nicht mit dem Thema Religion fertig wird. Diese Verwunderung hat besonders Hans Magnus Enzensberger zur Sprache gebracht. In vielen seiner neueren Gedichte tauchen plötzlich, ganz unvermutet, religiöse Fragen und christliche Motive auf. Eines von ihnen hat den Titel Tagesordnung (1999).
Steuerberater anrufen, arbeiten auch.
Brüten über dem Foto einer Frau,
die sich umgebracht hat.
Nachschlagen, wann das Wort Feindbild
zum ersten Mal aufgetaucht ist.
Nach dem Donner die Blasen betrachten,
die der Wolkenbruch auf das Pflaster wirft,
und die nasse Luft trinken.
Rauchen auch, ohne Ton fernsehen.
Sich fragen, woher das sexuelle Kribbeln
mitten in einer öden Sitzung kommt.
Sieben Minuten lang an Algerien denken.
Hemmungslos wie ein Zwölfjähriger fluchen
über einen abgebrochenen Fingernagel.
Sich an einen bestimmten Abend erinnern,
vor einundzwanzig Jahren, im Juni,
ein schwarzer Pianist spielte cha cha cha,
und jemand weinte vor Zorn.
Zahnpasta kaufen nicht vergessen.
Rätseln, warum epi = -1;
warum Gott die Menschen niemals
in Ruhe läßt, umgekehrt auch nicht.
Glühbirne in der Küche auswechseln.
Die leblose, feuchte, zerraufte Krähe
spitzfingrig vom Balkon holen.
Den Wolken zusehen, den Wolken.
Schlafen, auch schlafen.
Allerlei steht auf der Tagesordnung des Dichters: Wichtiges und Unwichtiges, Hohes und Niedriges, Belangloses und Schreckliches. Und mitten hinein schießt dieses Rätsel: «warum Gott die Menschen niemals in Ruhe läßt». Man kann diesen Vers als fernes Echo auf eine berühmte Formulierung des evangelischen Theologen Paul Tillich lesen: Gott ist das, was einen unbedingt angeht - einen also niemals in Ruhe läßt. Diese Ruhelosigkeit hat zwei Seiten: «warum Gott die Menschen niemals in Ruhe läßt - umgekehrt auch nicht». Beide - Gott und Mensch - kommen anscheinend nicht voneinander los. Aber eine Bekehrung bleibt aus. Das religiöse Rätsel scheint auf und tritt sogleich wieder in den Hintergrund. Plötzlich steht der Gottesgedanke faszinierend im Raum, aber außer einer gewissen Verstörung folgt nichts daraus.
Doch zumindest das ist schon bemerkenswert: Das Christentum wird wieder als Verstörungsquelle wahrgenommen. Gerade weil es so fremd geworden ist, fast exotisch erscheint, macht es manche wieder neugierig. Nicht daß man sich ihm wieder anschließen wollte, aber man möchte wieder gern etwas darüber wissen - auch um die eigenen religiösen Irritationen besser zu verstehen. Unendlich viele Fragen stellen sich neu.
2. Warum gibt es immer noch so große Kirchen? Für gewöhnlich sagt man den Kirchen in Westeuropa nach, daß sie sich in einer unendlichen Rezession befinden. Ohne mit Widerspruch zu rechnen, spricht man davon, daß die Kirchen immer bedeutungsloser werden. Nicht, daß diese Situationsbeschreibung falsch wäre, nur bleibt der Vergleichspunkt unklar. Wann wären die Kirchen denn bedeutsam gewesen? Wann genau war die goldene Zeit, nach der es nur noch stetig bergab ging?
Viele orientieren sich an den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Menschen massenweise wieder zur Kirche zurückkehrten. Das zerstörte «Dritte Reich» hatte ein weltanschauliches Vakuum hinterlassen. Da verhießen die Kirchen, die scheinbar intakt geblieben und vermeintlich schuldlos durch die Katastrophe gegangen waren, eine neue innere Heimat. Damals waren die Kirchen voll, die Jugendarbeit blühte, und Theologen fanden öffentlich Gehör. Doch es war nur ein kurzfristiges Hoch. Schon bald überstieg die Zahl der Austritte wieder diejenige der Eintritte. Aber im Langzeitgedächtnis hat diese Nachkriegskonjunktur so tiefe Spuren hinterlassen, daß man die kirchliche Gegenwart immer noch an ihr mißt.
Um diese Gegenwart präziser zu analysieren, ist es hilfreich, die Frage einmal umzudrehen - also nicht zu fragen, warum es mit den Kirchen immer weiter abwärts geht, sondern warum es in Deutschland immer noch große Volkskirchen gibt. Das ist erstaunlicher, als man meinen sollte.
Vor etwa dreihundert Jahren begann die Aufklärung mit einer umfassenden und grundstürzenden Bibel-, Dogmen-, Kirchen- und Religionskritik. Neue Geistes- und Naturwissenschaften entwarfen ein revolutionär anderes Bild von Mensch und Welt. Ein rasanter gesellschaftlicher Wandel, technische Erfindungen und wirtschaftliche Innovationen schufen eine komplett neue Lebenswelt. Bedenkt man noch die politischen Umstürze und Katastrophen, Weltrevolutionen und Weltkriege, dann wird deutlich, wie wenig von der vormodernen Welt übriggeblieben ist, in welcher die christlichen Kirchen entstanden sind.
Nur die Kirchen sind noch übrig. Natürlich sind sie nicht mehr ganz die alten. Auch sie haben sich modernisiert, rationalisiert und säkularisiert. Aber es gibt sie noch - als Kirchen. Sie gründen auf denselben Texten, feiern dieselben Feste, singen dieselben Lieder, bewohnen dieselben Gebäude, verleihen dieselben Titel und Ämter, weisen also ein erstaunliches Maß an Kontinuität auf. Und weiterhin gehört ihnen ein Großteil der Bevölkerung an. Fast noch fünfzig Millionen Deutsche sind Glieder einer christlichen Kirche, und dies, obwohl sie zumeist ihres Glaubens recht unsicher sind und große Distanz zum kirchlichen Betrieb halten.
Hierin zeigt sich die Macht von Traditionen und Institutionen. Es bedarf schon eines gezielten und über zwei, drei Generationen durchgehaltenen Traditionsabbruchs, um eine einmal etablierte Kirchlichkeit ganz abzustellen. Das zeigt der Blick auf die östlichen Bundesländer. Die aggressiv kirchenfeindliche Politik erst der Nationalsozialisten und dann der Kommunisten hat eine weitgehend kirchenfreie Gesellschaft hinterlassen. Anders sieht es in den westlichen Bundesländern aus, wo trotz tiefgreifender Säkularisierung immer noch Volkskirchlichkeit zu finden ist. Warum? Ist es die Macht der Gewohnheit? Vielleicht, aber nicht nur. Ein weiterer Grund mag darin liegen, daß es zum Christentum nur wenige weltanschauliche Alternativen gibt. Die großen Gegenspieler des neunzehnten Jahrhunderts haben sich zurückgezogen: Die Kunst hat sich in die Winkel ihres Betriebs verzogen und hat keine Ambition mehr, als Quasi-Religion aufzutreten; die Philosophie versteht sich als strenge Fachwissenschaft, die nur noch Fakultätsangehörige etwas angeht. Auch die Gegenmächte des zwanzigsten Jahrhunderts - die kommunistischen und faschistischen Ideologien - sind nicht mehr auf dem Markt der weltanschaulichen Möglichkeiten vertreten. Übriggeblieben sind nur die kapitalistische Wirtschaftsordnung und der demokratische Politikbetrieb. Beide haben sich - anscheinend endgültig - durchgesetzt. Sie werden weithin akzeptiert und respektiert, aber man «liebt» sie nicht und «glaubt» nicht an sie. Denn sie befriedigen keine Sinnbedürfnisse.
Es bleibt ein Gefühl der Leere. Die große Alternative zum Christentum ist heute ein mächtiger, aber auch müder Agnostizismus aus Gleichgültigkeit. Für denjenigen, dem seine eigenen Sinnbedürfnisse nicht gleichgültig sind, bedeutet dies, daß das Christentum und die Kirchen, die es tradieren und öffentlich präsent halten, zumindest interessant sind. Um diesem Interesse nachgehen zu können, bedarf es aber einiger Grundkenntnisse, die weithin verlorengegangen sind. Es braucht Antworten auf so einfache Fragen wie diejenige, was eigentlich das Wort «Bibel» bedeutet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2006101 Fragen und Antworten
Nick Hornby, Günter Jauch, Jörg Pilawa und die "Bunte" haben die Geschichtswissenschaft erreicht: Die ganze Vergangenheit ein großes Quiz, und wir sind alle nur die Kandidaten. Herbeigesehnt werden Ordnung und Übersicht und eindeutige Maßstäbe. Von der staatlichen Bürokratie über die Wissenschaft, dem Geschwätz der Unternehmensberater, Betriebswirte und Controller bis zu "Deutschland sucht den Superstar" ist die Gegenwart beherrscht, ja besessen von Punktvergabe und von der Hierarchie der Liste. Zentralabitur für alle. Und nun also die "101 wichtigsten Fragen" im Beck Verlag. Die 101 wichtigsten Fragen zu Moderner Kunst, zu Christentum, Antike und was sonst noch kommen mag. Einhundert und eine Frage. Traumwandeln auf dem First des Wissens. Tausendundeine Nacht. Märchenhaft. Manchmal auch zauberhaft. Stefan Rebenich zum Beispiel, der Autor der 101 Fragen zur Antike, versichert seine Leser im ersten Satz der allen Bänden je vorangestellten "Gebrauchsanweisung", daß die 101 wichtigsten Fragen nur mit einem "Augenzwinkern" zu schreiben gewesen - und wohl auch zu lesen seien (Stefan Rebenich: "Die 101 wichtigsten Fragen: Antike". Verlag C. H. Beck, München 2006. 106 S., 12 Abb., 2 Karten, br., 9,90 [Euro]). Das macht nun wirklich neugierig, denn das Augenzwinkern kann doch nichts anderes heißen, als daß in der Kulisse von 101 Fragen und Antworten wohl noch eine andere Welt verborgen sein mag. Claudia Märtl, Professorin für Mittelalterliche Geschichte in München, ging ihre 101 wichtigsten Fragen zum Mittelalter mit sympathischem pädagogischen Eifer an und bezog ihre Studenten ein (Claudia Märtl: "Die 101 wichtigsten Fragen: Mittelalter". Verlag C. H. Beck, München 2006. 160 S., 20 Abb., br., 9,90 [Euro]).
Der in Hamburg lehrende Theologe Johann Hinrich Claussen stellt erst einmal fest, daß das Christentum den Westeuropäern zum Rätsel geworden sei (Johann Hinrich Claussen: "Die 101 wichtigsten Fragen: Christentum". Verlag C. H. Beck, München 2006. 151 S., zahlr. Vignetten, br., 9,90 [Euro]). Die 101 Antworten können es, so Claussen, nicht vollständig lösen, aber das Christentum sei auch ein inneres Leben, und davon handele dies Buch, indem es neben den Fragen des rein positiven Wissens Gesänge und Gebete vorstelle.
Seine erste Frage hat er dem Gedicht "Tagesordnung" von Hans Magnus Enzensberger entlehnt: "Warum läßt Gott die Menschen niemals in Ruhe, umgekehrt auch nicht?" Dieser Stoßseufzer ist auch keine schlechte Frage. Die Antwort: Die "Gottesfrage steht plötzlich wieder im Raum", ja - weiß Gott. Dann folgen historische Fragen, die zu beantworten sehr nötig sind wie "Was sind die Evangelien" oder "Warum ist der Papst nicht nur Oberhaupt einer Kirche, sondern auch eines Staates?" Bei anderen Fragen ergreift den Leser dagegen schon ein gewisser Schwindel, wie etwa die nach dem richtigen Sterben und dem Glück und dem Glauben. Auf die Frage: "Müssen Christen Mission betreiben?" erfolgt keine normative, sondern eine historische Antwort. Wie immer bei allem gelisteten Wissen sind die nicht gestellten Fragen nicht mindestens so interessant wie die gegebenen Antworten.
Von wann und bis wann das Mittelalter gedauert habe, lautet die erste Frage des Mittelalter-Buches. Von 500 bis 1500 etwa, lautet die brave Antwort, von der Schließung der philosophischen Akademie in Athen und der Gründung des Klosters Montecasino bis zu Kolumbus und dem Beginn der Reformation. Richtig. Setzen. Immerhin erfährt man noch, daß das Mittelalter in Rußland länger, in Italien aber kürzer währte. Kein Wort über den Begriff der historischen Zeit und darüber, wie Periodisierungen Abgrenzung und Selbstverständnis schaffen. Das wird dann unter der zweiten Frage gestreift "Wie finster war das Mittelalter?" Besser aber, man nimmt diese Frage gleich wörtlich und schaut bei Frage 71 nach: "Wie sorgte man für Wärme und Licht?" Da erfährt man, daß die ältesten Kachelöfen aus dem elften Jahrhundert stammen.
Es gibt gewitzte Fragen, wie die, was noch besser war, als auf den Kreuzzug ins Heilige Land zu gehen? Die Antwort lautet nicht: Zu Hause bleiben, sondern natürlich - Ritter und Mönch werden, womit dann der Templerorden ins Spiel kommt. Es fehlt nicht an einem Schuß Heiterkeit - "Wie ging Rechnen ohne Taschenrechner?" -, dafür aber sind Liebe, Sexualität und Körperlichkeit finster unterbelichtet, obwohl es doch so finster nicht aussah. Da kann man in den Band über die Antike ausweichen, in dem Fragen zu Männern und Frauen und zur Homosexualität beantwortet werden. Bei den 101 Fragen über das Christentum ist die Liebe überhaupt das Schlüsselwort und Erkennungszeichen eines Christen.
Am Ende jedes Bandes steht die Frage nach dem, was bleibt, also nach den historisch bleibenden Wirkungen - da glänzen die Autoren mit Witz im Allgemeinen und wirklich wenig Bekanntem im Detail. Stefan Rebenich verweist auf Ovid und seine Metamorphosen als erstes "Who's who" und großen Inspirator aller Künste. Sozusagen der Urvater aller elaborierten Listen. Claudia Märtl verweist beim Fazit des Mittelalters nicht nur auf die Kathedrale, sondern auch auf die - Schubkarre. Und auf Kleider, die auf den Leib geschnitten sind. Man nehme sie, wie man will: Die "101 wichtigsten Fragen" sind unserer Zeit auch wie auf den Leib geschnitten und ihr Prinzip womöglich das, was von ihr bleibt. Noch Fragen?
MICHAEL JEISMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nick Hornby, Günter Jauch, Jörg Pilawa und die "Bunte" haben die Geschichtswissenschaft erreicht: Die ganze Vergangenheit ein großes Quiz, und wir sind alle nur die Kandidaten. Herbeigesehnt werden Ordnung und Übersicht und eindeutige Maßstäbe. Von der staatlichen Bürokratie über die Wissenschaft, dem Geschwätz der Unternehmensberater, Betriebswirte und Controller bis zu "Deutschland sucht den Superstar" ist die Gegenwart beherrscht, ja besessen von Punktvergabe und von der Hierarchie der Liste. Zentralabitur für alle. Und nun also die "101 wichtigsten Fragen" im Beck Verlag. Die 101 wichtigsten Fragen zu Moderner Kunst, zu Christentum, Antike und was sonst noch kommen mag. Einhundert und eine Frage. Traumwandeln auf dem First des Wissens. Tausendundeine Nacht. Märchenhaft. Manchmal auch zauberhaft. Stefan Rebenich zum Beispiel, der Autor der 101 Fragen zur Antike, versichert seine Leser im ersten Satz der allen Bänden je vorangestellten "Gebrauchsanweisung", daß die 101 wichtigsten Fragen nur mit einem "Augenzwinkern" zu schreiben gewesen - und wohl auch zu lesen seien (Stefan Rebenich: "Die 101 wichtigsten Fragen: Antike". Verlag C. H. Beck, München 2006. 106 S., 12 Abb., 2 Karten, br., 9,90 [Euro]). Das macht nun wirklich neugierig, denn das Augenzwinkern kann doch nichts anderes heißen, als daß in der Kulisse von 101 Fragen und Antworten wohl noch eine andere Welt verborgen sein mag. Claudia Märtl, Professorin für Mittelalterliche Geschichte in München, ging ihre 101 wichtigsten Fragen zum Mittelalter mit sympathischem pädagogischen Eifer an und bezog ihre Studenten ein (Claudia Märtl: "Die 101 wichtigsten Fragen: Mittelalter". Verlag C. H. Beck, München 2006. 160 S., 20 Abb., br., 9,90 [Euro]).
Der in Hamburg lehrende Theologe Johann Hinrich Claussen stellt erst einmal fest, daß das Christentum den Westeuropäern zum Rätsel geworden sei (Johann Hinrich Claussen: "Die 101 wichtigsten Fragen: Christentum". Verlag C. H. Beck, München 2006. 151 S., zahlr. Vignetten, br., 9,90 [Euro]). Die 101 Antworten können es, so Claussen, nicht vollständig lösen, aber das Christentum sei auch ein inneres Leben, und davon handele dies Buch, indem es neben den Fragen des rein positiven Wissens Gesänge und Gebete vorstelle.
Seine erste Frage hat er dem Gedicht "Tagesordnung" von Hans Magnus Enzensberger entlehnt: "Warum läßt Gott die Menschen niemals in Ruhe, umgekehrt auch nicht?" Dieser Stoßseufzer ist auch keine schlechte Frage. Die Antwort: Die "Gottesfrage steht plötzlich wieder im Raum", ja - weiß Gott. Dann folgen historische Fragen, die zu beantworten sehr nötig sind wie "Was sind die Evangelien" oder "Warum ist der Papst nicht nur Oberhaupt einer Kirche, sondern auch eines Staates?" Bei anderen Fragen ergreift den Leser dagegen schon ein gewisser Schwindel, wie etwa die nach dem richtigen Sterben und dem Glück und dem Glauben. Auf die Frage: "Müssen Christen Mission betreiben?" erfolgt keine normative, sondern eine historische Antwort. Wie immer bei allem gelisteten Wissen sind die nicht gestellten Fragen nicht mindestens so interessant wie die gegebenen Antworten.
Von wann und bis wann das Mittelalter gedauert habe, lautet die erste Frage des Mittelalter-Buches. Von 500 bis 1500 etwa, lautet die brave Antwort, von der Schließung der philosophischen Akademie in Athen und der Gründung des Klosters Montecasino bis zu Kolumbus und dem Beginn der Reformation. Richtig. Setzen. Immerhin erfährt man noch, daß das Mittelalter in Rußland länger, in Italien aber kürzer währte. Kein Wort über den Begriff der historischen Zeit und darüber, wie Periodisierungen Abgrenzung und Selbstverständnis schaffen. Das wird dann unter der zweiten Frage gestreift "Wie finster war das Mittelalter?" Besser aber, man nimmt diese Frage gleich wörtlich und schaut bei Frage 71 nach: "Wie sorgte man für Wärme und Licht?" Da erfährt man, daß die ältesten Kachelöfen aus dem elften Jahrhundert stammen.
Es gibt gewitzte Fragen, wie die, was noch besser war, als auf den Kreuzzug ins Heilige Land zu gehen? Die Antwort lautet nicht: Zu Hause bleiben, sondern natürlich - Ritter und Mönch werden, womit dann der Templerorden ins Spiel kommt. Es fehlt nicht an einem Schuß Heiterkeit - "Wie ging Rechnen ohne Taschenrechner?" -, dafür aber sind Liebe, Sexualität und Körperlichkeit finster unterbelichtet, obwohl es doch so finster nicht aussah. Da kann man in den Band über die Antike ausweichen, in dem Fragen zu Männern und Frauen und zur Homosexualität beantwortet werden. Bei den 101 Fragen über das Christentum ist die Liebe überhaupt das Schlüsselwort und Erkennungszeichen eines Christen.
Am Ende jedes Bandes steht die Frage nach dem, was bleibt, also nach den historisch bleibenden Wirkungen - da glänzen die Autoren mit Witz im Allgemeinen und wirklich wenig Bekanntem im Detail. Stefan Rebenich verweist auf Ovid und seine Metamorphosen als erstes "Who's who" und großen Inspirator aller Künste. Sozusagen der Urvater aller elaborierten Listen. Claudia Märtl verweist beim Fazit des Mittelalters nicht nur auf die Kathedrale, sondern auch auf die - Schubkarre. Und auf Kleider, die auf den Leib geschnitten sind. Man nehme sie, wie man will: Die "101 wichtigsten Fragen" sind unserer Zeit auch wie auf den Leib geschnitten und ihr Prinzip womöglich das, was von ihr bleibt. Noch Fragen?
MICHAEL JEISMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Michael Jeismann konstatiert für die heutige Zeit eine seltsame Sucht nach Listenhierarchie und "Punktevergabe" und ordnet die Reihe "Die 101 wichtigsten Fragen" eindeutig in diese Zeiterscheinung ein. Zumindest der Autor der "101 wichtigsten Fragen: Antike", Stefan Rebenich, deutet in seinem Vorwort ein "Augenzwinkern" an, mit dem dieses Vorhaben beim Autor und wünschenswerter Weise auch bei den Lesern zu begegnen ist, bemerkt der Rezensent anerkennend. Claudia Märtl, die Autorin des Bandes zum Mittelalter dagegen, wartet mit "sympathischem pädagogischen Eifer" auf, der für den Geschmack des Rezensenten manche Fragen, wie etwa der nach der Dauer des Mittelalters, allerdings allzu "brav" beantwortet. Der Band, in dem Johann Hinrich Claussen die "101 wichtigsten Fragen" zum Christentum beantwortet, mischt wichtige historische Fragen mit Fragen, die schon mal einen "gewissen Schwindel" auslösen können, wie die nach dem "richtigen Sterben" beispielsweise oder nach dem "Glück", stellt Jeismann fest. Bei allen grundsätzlichen Vorbehalten gegen die Reihe hat der Rezensent durchaus "gewitzte Fragen" gefunden und er lobt, dass die Autoren mitunter mit "Witz im Allgemeinen und wirklich wenig Bekanntem im Detail glänzen".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH