Mitten in Berlin, im kalten, neuen Herzen der Stadt, beziehen Menschen die noch unvermieteten Räume eines Büroturms. Im Auftrag der Investoren sollen sie das riesige Gebäude aus Stahl und Glas für 120 Tage bewohnen, um ihm Leben einzuhauchen und auf diese Weise echte Mieter anzuziehen. Die »Pseudomieter« bilden eine fragile Gemeinschaft aus Träumern, »tüchtigen Versagern« und skurrilen Einzelgängern, die den Ausstieg aus der Normalität erproben - »Nischenspezialisten«, die eine Lücke in der Realität für ihre Zwecke nutzen. Am Ende der 120 Tage steht ein Fest, das alle Grenzen sprengen soll.
Lukas Hammersteins Roman zeichnet ein Bild improvisierter Existenz: ein Panorama der Vorläufigkeit und des urbanen Nomadentums. Er erzählt von Rausch und Ekstase, Hingabe und Phantasie, Revolution, Spektakel und Spaß - und von der Ordnung, die das Chaos braucht.
Lukas Hammersteins Roman zeichnet ein Bild improvisierter Existenz: ein Panorama der Vorläufigkeit und des urbanen Nomadentums. Er erzählt von Rausch und Ekstase, Hingabe und Phantasie, Revolution, Spektakel und Spaß - und von der Ordnung, die das Chaos braucht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.12.2003Funken aus der Nacht
Im Glashaus schreiben: Lukas Hammersteins "120 Tage von Berlin"
Früher waren Priester für jenes Aufgabenfeld zuständig, das heute Partyvorbereitung heißt. Getränke organisieren, Musik beschaffen, Leute einladen - das Menschenopfer im Tempel und das Betriebsfest im Büro werfen durchaus vergleichbare Probleme auf. Natürlich träumt nun eine Welt, welche die Feierarbeit aus nüchternen Erwägungen dem Cateringservice überträgt, gerne vom sagenhaften Budenzauber der Orgien. Aber wer bürgt eigentlich dafür, daß die ach so rauschhaften Dionysien aufregender verliefen als eine durchschnittliche Fete?
Wie jeder ehrgeizige Partyveranstalter glaubt der Schriftsteller Lukas Hammerstein daran, mit dem Dröhnen seines literarischen Fests das Haus des Seins in den Grundfesten zu erschüttern - in seinem jüngsten Roman "Die 120 Tage von Berlin" also jenen leerstehenden Neubau am Potsdamer Platz, in den zu Vorführzwecken vorübergehend eine zusammengewürfelte Schar von Scheinmietern einzieht. Nach Ablauf des dreimonatigen Gratiswohnens veranstalten die postkapitalistischen Hausbesetzer eine große Sause.
Schon mit dem Romantitel nimmt Hammerstein eine vom Alten Testament über den Marquis de Sade bis hin zu Pasolini verlaufende Spur der Verwüstung auf. "Ich will einen Funken aus der Nacht schlagen", raunt der Erzähler zu vorgerückter Stunde, "und damit die Welt anzünden." Sodom und Gomorrha, Nichtberliner ahnten es schon immer! Was für unbeschreibliche Ausschweifungen erwarten uns?
Nun, zunächst einmal wartet Hammersteins Roman mit einem Exzeß an Hauptstadtstimmung auf. Mit fast auf jeder Seite auftauchenden Signalwörtern wie "Hotel Adlon", "Johannes Rau" oder "Bundestagsverwaltung" erzeugt der aus dem Süddeutschen stammende Autor eine Zeichenkulisse, der man im Sinne von Roland Barthes "Berolinität" zuschreiben könnte. Vor diesem halbamtlichen Hintergrund treten die abgedrehten Typen aus dem total verrückten Versicherungshochhaus auf die Bühne. Während sie im wahren Leben als kreuzbrave Angestellte im "Kanzleramt" oder in der "Bundespressekonferenz" Dienst schieben, treten sie in der befreienden Scheinwelt des Hochhauses als Stripperinnen auf und haben ständig einen "Aufruf zur Befreiung der Deutschen von sich selbst" oder sonst ein Manifest auf den Lippen. Rollbrettfahren, Küssen, Berühren - keine Schandtat ist im "Glashaus" mit dem sprechenden Namen "Placebis" verboten. Und die Toningenieure auf der beispiellosen Abschlußparty schrecken nicht einmal davor zurück, Klangmaterial für Experimente zu mißbrauchen: "Sie legen ein monotones Knacken über die Arbeit eines Klavierstimmers, dann setzen die hellen Stimmen der Models ein, maschinengewehrhafte Rhythmen folgen, alles zur Schleife montiert."
An Stellen wie diesen mag nicht nur den mit Vernissagen und Hinterhofpartys vertrauten Leser ein leises Mißtrauen beschleichen, was die Unerhörtheit der von Hammerstein abgefeierten Gegenwelt angeht. Der rebellische Ästhetizismus, dem sich der 1958 geborene Autor bereits mit seinem Debütroman "Immer alles Wirksamkeit ohne Ausnahme gleichermaßen" (1988) verschrieb, gehört längst zur Folklore der Kunstszene. Und was der mit seiner Tastatur im Hochhaus einquartierte Erzähler als "wahre Subversion nach all dem Pop" rühmt, ist nichts als die inzwischen zum Berliner Milljöh geläuterte Nischenkultur der glücklichen Versager und polnischen Arbeitslosen. Die von Simulanten bewohnte Nobelimmobilie, welche den Leerstand als geistige Lebensform der Berliner Republik auf durchaus sinnige Weise verkörpert, soll eine aberwitzige Alternative zum betriebsamen Berlin der Bürokultur eröffnen - und stellt doch lediglich eine wiederbelebte "Kommune 1" für berufsmüde Medienmenschen dar, deren karnevalesker Einfallsreichtum hinter jedem Antonioni-Film der späten Sechziger zurückbleibt.
Leider trifft auch der heldenhafte Rundumschlag, zu dem Hammersteins Roman als "Liebeserklärung auf (!) den Haß in diesem unseren Land" ausholt, nur eine Reihe von Leichtgewichten. Die uninspirierten Schimpfkanonaden, welche der Erzähler auf Cabriofahrer, Kampftrinker und Sozialdemokraten abfeuert, sind bloß mit Schreckschußmunition geladen. So wird ein kaum getarnter Günther Jauch als "Spießer" geschmäht, ein zum "M." abgekürzter Franz Müntefering sogar als "Funktionär" verspottet. Den Thomas-Bernhard-Ähnlichkeitswettbewerb gewinnt man mit solchen Ausfällen nicht.
Über weite Strecken bietet Hammersteins Roman, einer neudeutschen Mischung aus Gefühl und Härte verpflichtet, bloß eine Collage aus Kurzporträts der Hochhausbewohner und mitgeschriebenen Partygesprächen. Zur Geschichte wachsen die zum Teil durchaus scharfsinnigen Miniaturen nie zusammen - auch wenn die verbitterten Botschaften des Erzählers an ein unterbelichtetes Du, das zu seiner Provinzvergangenheit gehört, die Intimkommunikation eines Briefromans andeuten. Hammerstein beschwört zwar mit seinem dekadenten Szenario überdeutlich den Reigen großer Pesterzählungen wie Edgar Allan Poes "Die Maske des roten Todes" herauf. Das leicht abgeschmackte Abendmahl, das der Erzähler am Ende des Hochamts im finsteren Herzen der Hauptstadt serviert, hätte der Leser lieber einer Cateringfirma überlassen.
ANDREAS ROSENFELDER.
Lukas Hammerstein: "Die 120 Tage von Berlin". Roman. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2003. 224 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Glashaus schreiben: Lukas Hammersteins "120 Tage von Berlin"
Früher waren Priester für jenes Aufgabenfeld zuständig, das heute Partyvorbereitung heißt. Getränke organisieren, Musik beschaffen, Leute einladen - das Menschenopfer im Tempel und das Betriebsfest im Büro werfen durchaus vergleichbare Probleme auf. Natürlich träumt nun eine Welt, welche die Feierarbeit aus nüchternen Erwägungen dem Cateringservice überträgt, gerne vom sagenhaften Budenzauber der Orgien. Aber wer bürgt eigentlich dafür, daß die ach so rauschhaften Dionysien aufregender verliefen als eine durchschnittliche Fete?
Wie jeder ehrgeizige Partyveranstalter glaubt der Schriftsteller Lukas Hammerstein daran, mit dem Dröhnen seines literarischen Fests das Haus des Seins in den Grundfesten zu erschüttern - in seinem jüngsten Roman "Die 120 Tage von Berlin" also jenen leerstehenden Neubau am Potsdamer Platz, in den zu Vorführzwecken vorübergehend eine zusammengewürfelte Schar von Scheinmietern einzieht. Nach Ablauf des dreimonatigen Gratiswohnens veranstalten die postkapitalistischen Hausbesetzer eine große Sause.
Schon mit dem Romantitel nimmt Hammerstein eine vom Alten Testament über den Marquis de Sade bis hin zu Pasolini verlaufende Spur der Verwüstung auf. "Ich will einen Funken aus der Nacht schlagen", raunt der Erzähler zu vorgerückter Stunde, "und damit die Welt anzünden." Sodom und Gomorrha, Nichtberliner ahnten es schon immer! Was für unbeschreibliche Ausschweifungen erwarten uns?
Nun, zunächst einmal wartet Hammersteins Roman mit einem Exzeß an Hauptstadtstimmung auf. Mit fast auf jeder Seite auftauchenden Signalwörtern wie "Hotel Adlon", "Johannes Rau" oder "Bundestagsverwaltung" erzeugt der aus dem Süddeutschen stammende Autor eine Zeichenkulisse, der man im Sinne von Roland Barthes "Berolinität" zuschreiben könnte. Vor diesem halbamtlichen Hintergrund treten die abgedrehten Typen aus dem total verrückten Versicherungshochhaus auf die Bühne. Während sie im wahren Leben als kreuzbrave Angestellte im "Kanzleramt" oder in der "Bundespressekonferenz" Dienst schieben, treten sie in der befreienden Scheinwelt des Hochhauses als Stripperinnen auf und haben ständig einen "Aufruf zur Befreiung der Deutschen von sich selbst" oder sonst ein Manifest auf den Lippen. Rollbrettfahren, Küssen, Berühren - keine Schandtat ist im "Glashaus" mit dem sprechenden Namen "Placebis" verboten. Und die Toningenieure auf der beispiellosen Abschlußparty schrecken nicht einmal davor zurück, Klangmaterial für Experimente zu mißbrauchen: "Sie legen ein monotones Knacken über die Arbeit eines Klavierstimmers, dann setzen die hellen Stimmen der Models ein, maschinengewehrhafte Rhythmen folgen, alles zur Schleife montiert."
An Stellen wie diesen mag nicht nur den mit Vernissagen und Hinterhofpartys vertrauten Leser ein leises Mißtrauen beschleichen, was die Unerhörtheit der von Hammerstein abgefeierten Gegenwelt angeht. Der rebellische Ästhetizismus, dem sich der 1958 geborene Autor bereits mit seinem Debütroman "Immer alles Wirksamkeit ohne Ausnahme gleichermaßen" (1988) verschrieb, gehört längst zur Folklore der Kunstszene. Und was der mit seiner Tastatur im Hochhaus einquartierte Erzähler als "wahre Subversion nach all dem Pop" rühmt, ist nichts als die inzwischen zum Berliner Milljöh geläuterte Nischenkultur der glücklichen Versager und polnischen Arbeitslosen. Die von Simulanten bewohnte Nobelimmobilie, welche den Leerstand als geistige Lebensform der Berliner Republik auf durchaus sinnige Weise verkörpert, soll eine aberwitzige Alternative zum betriebsamen Berlin der Bürokultur eröffnen - und stellt doch lediglich eine wiederbelebte "Kommune 1" für berufsmüde Medienmenschen dar, deren karnevalesker Einfallsreichtum hinter jedem Antonioni-Film der späten Sechziger zurückbleibt.
Leider trifft auch der heldenhafte Rundumschlag, zu dem Hammersteins Roman als "Liebeserklärung auf (!) den Haß in diesem unseren Land" ausholt, nur eine Reihe von Leichtgewichten. Die uninspirierten Schimpfkanonaden, welche der Erzähler auf Cabriofahrer, Kampftrinker und Sozialdemokraten abfeuert, sind bloß mit Schreckschußmunition geladen. So wird ein kaum getarnter Günther Jauch als "Spießer" geschmäht, ein zum "M." abgekürzter Franz Müntefering sogar als "Funktionär" verspottet. Den Thomas-Bernhard-Ähnlichkeitswettbewerb gewinnt man mit solchen Ausfällen nicht.
Über weite Strecken bietet Hammersteins Roman, einer neudeutschen Mischung aus Gefühl und Härte verpflichtet, bloß eine Collage aus Kurzporträts der Hochhausbewohner und mitgeschriebenen Partygesprächen. Zur Geschichte wachsen die zum Teil durchaus scharfsinnigen Miniaturen nie zusammen - auch wenn die verbitterten Botschaften des Erzählers an ein unterbelichtetes Du, das zu seiner Provinzvergangenheit gehört, die Intimkommunikation eines Briefromans andeuten. Hammerstein beschwört zwar mit seinem dekadenten Szenario überdeutlich den Reigen großer Pesterzählungen wie Edgar Allan Poes "Die Maske des roten Todes" herauf. Das leicht abgeschmackte Abendmahl, das der Erzähler am Ende des Hochamts im finsteren Herzen der Hauptstadt serviert, hätte der Leser lieber einer Cateringfirma überlassen.
ANDREAS ROSENFELDER.
Lukas Hammerstein: "Die 120 Tage von Berlin". Roman. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2003. 224 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.09.2003Langstrumpf im Büroturm
Sehr subversiv: Lukas Hammersteins „120 Tage von Berlin”
Obwohl man als Rezensent mittlerweile Berlin-Romane so gerne in die Hand nimmt wie ein Venture-Capitalist Strategiepapiere für tolle Dot-Com-Firmengründungen, liest sich der dramaturgische Businessplan von Lukas Hammersteins Prosa-Unternehmung erst einmal vielversprechend: Die Berliner Immobilienblase ist geplatzt, die Rezession läuft auf Hochtouren, und der Leerstand in den Glaspalästen am Potsdamer Platz ist beeindruckend. Ein paar quirlige Szeneleute schlagen den gebeutelten Immobilienmanagern vor, für 120 Tage in ein leeres Hochhaus zu ziehen, um mit simulierter Geschäftigkeit neue Mieter für die tote Immobilie anzuziehen. Das Hochhaus heißt Placebis, was als Placebo-Name für die Debis-Zentrale zu verstehen ist, und den Lateinern unter den Lesern als erfrischende Konjugationsübung dienen mag. Die Pseudo-Mieter finden für vier Monate in dem Placebis-Glasturm Raum für all das, was Claudia Roth im besonderen und die Szene im allgemeinen unter dem Begriff „Projekte” subsumiert.
Schnell verwandelt sich die noble Büroadresse in eine verrückte Villa Kunterbunt. Video-Performer besetzen die Pförtnerloge, Skater gleiten mit nacktem Oberkörper durchs Parkhaus, Hacker programmieren rebellische Codes unterm Dach, Fahrradkuriere lassen im Hof ihre 27 Gänge krachen, und auch der Ich-Erzähler ist richtig glücklich, sich für provisorische vier Monate in einer chromglitzernden Nische einrichten zu können. Er streift durch das Haus, bandelt mit jedem Bewohner an, der ihm unter die Bettdecke kommt und hat insgesamt seinen betont unkonventionellen Spaß in der gekaperten Immobilie. Nur muss er auf seinen Streifzügen durch das hochmoderne Smart-House leider irgendwann auf einen außergewöhnlich leistungsfähigen Schwafelgenerator gestoßen sein. Den wirft er nun nach 120 Tagen Aufenthalt in dem High-Tech-Squatt begeistert an und erzählt von der guten Zeit, die man miteinander gehabt hat, hey.
Am Mischpult der Prosa
Die Hausbesetzer feiern am Ende ihrer vier Monate eine große Abschiedsparty, was Hammersteins Erzähler zum willkommenen Anlass eines Rückblicks nimmt. Er berichtet seiner verlorenen Liebe in der Provinz von seiner irren Zeit in dem Büroturm und beschreibt auch die langsam warm laufende Party. Und wieder einmal liest man ein Loblied auf dionysische Lifestyle-Feste, wie es schon der Endorphinausschüttungsspezialist Rainald Goetz gerne in seinen bedröhntesten Momenten anstimmte. Es geht noch einmal um das große Abenteuer der wummernden Bässe, der sexy schwitznass getanzten Mädels, der schnellen Nummer zwischen Aufzug und Toilette. Die stampfende Turbinenmusik der Tanzkeller schaufelt noch einmal den abgestandenen Synapsenbeglückungsexpressionismus der späten Neunziger zwischen die Zeilen.
Raunende Dionysien, Partymystizismus, Zappelkaballa und kein Ende: „Wäre da nicht die Musik gewesen, hätten mich nicht die Bässe angetrieben, zu jenen unsichtbaren Dingen zu stoßen, von denen ich nur den wilden Rhythmus kannte.” Wieder einmal stellt sich die Frage, warum die ewig hopsenden Partysans nicht einfach den Mund halten und im Rhythmus mit dem Hintern wackeln, statt schwurbelnde Romane über ihre Tanz- und Fummelvergnügungen zu schreiben. Irgend jemand an den Prosa-Reglern der literarischen Republik muss dieses metaphysisch munkelnde Partygequatsche immer noch mit hochmoderner Prosa verwechseln.
Obwohl Hammerstein einige Spitzen gegen die Pop-Literatur einflicht, trägt sein Text noch einmal alle Züge eines jener archivarischen Zeugnisse von Lifestyle-Attitüden und Coolness-Gesten. Nur tarnt der Autor seine schwärmerische Eloge auf den legendären Berliner Nischen-Lifestyle als Apologie der Revolte. Das Hochhaus funktioniert als Setzkasten für verrückte Szene-Exponate. Desorientiert hangelt sich der so genannte Roman durch die Büroetagen, guckt mal hier in eine improvisierte Wohnnische mit Räucherstäbchen, späht mal dort in eine zerwühlte Bettstatt vor atemberaubendem Metropolenpanorama. „Geil, geil, geil”, röchelte Rainald Goetz erschöpft in seinem Party-Text „Rave” nach seinem ersten Herzinfarkt. Ähnlich lautet auch der Tenor in den „120 Tagen von Berlin.” Hammerstein breitet die ganze Folklore des simulierten unangepassten Lebens aus. Der Autor musste Philosophie studieren und Bayerns staatlichen Förderungspreis für junge Schriftsteller erhalten, um Red-Bull-Weisheiten wie diese zu formulieren: „Auch ein Fest muss Flügel haben, um nicht abzustürzen.” Klingt nach der flügelspreizenden Hausphilosophie von Feinkost Käfer.
Mit der naiven Begeisterung des Stadtmagazin-Soziologen hakt Hammerstein die unterschiedlichen alternativen Lebensformen ab. Dabei entwickelt er ein kitschiges Pathos der Nischenkultur. Heutzutage lauscht der arme Poet nicht mehr in lecker Dachkammer dem jambischen Tröpfeln auf seinem geflickten Regenschirm, sondern thront in der letzten Etage eines besetzten Hochhauses und zaubert ironische Botschaften auf die Computerschirme in den feindlichen Systemen. Vergeblich versucht der Ich-Erzähler, sein Unbehagen an der neuen Mitte zu artikulieren. Dabei verkörpern er und seine Squatter-Clique exakt das, was in Mitte schon immer hip war. Die Wirtschaftskrise hat zwar die Webdesigner von der Karriereleiter katapultiert, aber noch immer scharwenzeln sie in Prada-Schluffen und Helmut-Lang-Klamotten über den Dancefloor, der im Rhythmus irgendeiner 2Step-Garage-Dubhouse-Elektro-Boogie-Muzak vibriert, während im Nebenraum wackelige Super-8-Filme über die Leinwand flackern. Das gesamte Romanpersonal wirkt wie die Inkarnation einer Dekade Unsinn aus dem Hamburger Trendbüro. Alberne Menschen, die „Sneakers” statt „Turnschuhe” sagen.
Die große Miet-Simulation soll als subversive Performance gelten. Aber niemals wird klar, wogegen sich diese pathetische Subversion eigentlich richten soll. Was wollen all diese feiernden Menschen? Mehr Vanille-Joghurt in den Kühlregalen? Mehr Sushi-Schiffchen in den Bars am Potsdamer-Platz? Oder sind sie gar gegen Günther Jauch? Hammerstein klittert ein politisches Kabarett zusammen, das zahnlos gegen Beamte, Medien und AOK polemisiert und von ähnlicher systemerschütternder Sprengkraft ist wie Roman Herzogs Ruck-Rede aus dem kalten Herzen von Mitte, dem Hotel Adlon. Die Mitte-Hipster witzeln weit unter Stammtisch-Niveau, dort etwa, wo Struppi auf Herrchens Füßen schlummert. Die Pseudo-Pippis im Büroturm Kunterbunt gefallen sich in Pseudo-Subversion. Die Revolte ist nichts als lässige Attitüde und Geschwätz von der Revolte. Jede Figur ist nur lebloses Abziehbildchen in einem Star-Album voller Coolness-Helden.
Hammerstein macht nicht Literatur, sondern Text-Design. Am Ende der 120 Tage ist die schicke Nischenrebellion einfach nur geschäftsfördernd: die Investoren können all ihre Büros an den Mann bringen. So hat die viel gescholtene neue Mitte die Rebellion als das entlarvt, was sie ist: ein systemtragendes Ferienlager für wortreich und gestenreich pubertierende Taugenichtse. Weder formal noch thematisch birgt Hammersteins Text mehr authentische Subversion als ein trendy Prada-Meinhof-T-Shirt. Die „120 Tage von Berlin” bleiben ein Roman-Placebo.
STEPHAN MAUS
LUKAS HAMMERSTEIN: Die 120 Tage von Berlin. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 220 S., 10 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Sehr subversiv: Lukas Hammersteins „120 Tage von Berlin”
Obwohl man als Rezensent mittlerweile Berlin-Romane so gerne in die Hand nimmt wie ein Venture-Capitalist Strategiepapiere für tolle Dot-Com-Firmengründungen, liest sich der dramaturgische Businessplan von Lukas Hammersteins Prosa-Unternehmung erst einmal vielversprechend: Die Berliner Immobilienblase ist geplatzt, die Rezession läuft auf Hochtouren, und der Leerstand in den Glaspalästen am Potsdamer Platz ist beeindruckend. Ein paar quirlige Szeneleute schlagen den gebeutelten Immobilienmanagern vor, für 120 Tage in ein leeres Hochhaus zu ziehen, um mit simulierter Geschäftigkeit neue Mieter für die tote Immobilie anzuziehen. Das Hochhaus heißt Placebis, was als Placebo-Name für die Debis-Zentrale zu verstehen ist, und den Lateinern unter den Lesern als erfrischende Konjugationsübung dienen mag. Die Pseudo-Mieter finden für vier Monate in dem Placebis-Glasturm Raum für all das, was Claudia Roth im besonderen und die Szene im allgemeinen unter dem Begriff „Projekte” subsumiert.
Schnell verwandelt sich die noble Büroadresse in eine verrückte Villa Kunterbunt. Video-Performer besetzen die Pförtnerloge, Skater gleiten mit nacktem Oberkörper durchs Parkhaus, Hacker programmieren rebellische Codes unterm Dach, Fahrradkuriere lassen im Hof ihre 27 Gänge krachen, und auch der Ich-Erzähler ist richtig glücklich, sich für provisorische vier Monate in einer chromglitzernden Nische einrichten zu können. Er streift durch das Haus, bandelt mit jedem Bewohner an, der ihm unter die Bettdecke kommt und hat insgesamt seinen betont unkonventionellen Spaß in der gekaperten Immobilie. Nur muss er auf seinen Streifzügen durch das hochmoderne Smart-House leider irgendwann auf einen außergewöhnlich leistungsfähigen Schwafelgenerator gestoßen sein. Den wirft er nun nach 120 Tagen Aufenthalt in dem High-Tech-Squatt begeistert an und erzählt von der guten Zeit, die man miteinander gehabt hat, hey.
Am Mischpult der Prosa
Die Hausbesetzer feiern am Ende ihrer vier Monate eine große Abschiedsparty, was Hammersteins Erzähler zum willkommenen Anlass eines Rückblicks nimmt. Er berichtet seiner verlorenen Liebe in der Provinz von seiner irren Zeit in dem Büroturm und beschreibt auch die langsam warm laufende Party. Und wieder einmal liest man ein Loblied auf dionysische Lifestyle-Feste, wie es schon der Endorphinausschüttungsspezialist Rainald Goetz gerne in seinen bedröhntesten Momenten anstimmte. Es geht noch einmal um das große Abenteuer der wummernden Bässe, der sexy schwitznass getanzten Mädels, der schnellen Nummer zwischen Aufzug und Toilette. Die stampfende Turbinenmusik der Tanzkeller schaufelt noch einmal den abgestandenen Synapsenbeglückungsexpressionismus der späten Neunziger zwischen die Zeilen.
Raunende Dionysien, Partymystizismus, Zappelkaballa und kein Ende: „Wäre da nicht die Musik gewesen, hätten mich nicht die Bässe angetrieben, zu jenen unsichtbaren Dingen zu stoßen, von denen ich nur den wilden Rhythmus kannte.” Wieder einmal stellt sich die Frage, warum die ewig hopsenden Partysans nicht einfach den Mund halten und im Rhythmus mit dem Hintern wackeln, statt schwurbelnde Romane über ihre Tanz- und Fummelvergnügungen zu schreiben. Irgend jemand an den Prosa-Reglern der literarischen Republik muss dieses metaphysisch munkelnde Partygequatsche immer noch mit hochmoderner Prosa verwechseln.
Obwohl Hammerstein einige Spitzen gegen die Pop-Literatur einflicht, trägt sein Text noch einmal alle Züge eines jener archivarischen Zeugnisse von Lifestyle-Attitüden und Coolness-Gesten. Nur tarnt der Autor seine schwärmerische Eloge auf den legendären Berliner Nischen-Lifestyle als Apologie der Revolte. Das Hochhaus funktioniert als Setzkasten für verrückte Szene-Exponate. Desorientiert hangelt sich der so genannte Roman durch die Büroetagen, guckt mal hier in eine improvisierte Wohnnische mit Räucherstäbchen, späht mal dort in eine zerwühlte Bettstatt vor atemberaubendem Metropolenpanorama. „Geil, geil, geil”, röchelte Rainald Goetz erschöpft in seinem Party-Text „Rave” nach seinem ersten Herzinfarkt. Ähnlich lautet auch der Tenor in den „120 Tagen von Berlin.” Hammerstein breitet die ganze Folklore des simulierten unangepassten Lebens aus. Der Autor musste Philosophie studieren und Bayerns staatlichen Förderungspreis für junge Schriftsteller erhalten, um Red-Bull-Weisheiten wie diese zu formulieren: „Auch ein Fest muss Flügel haben, um nicht abzustürzen.” Klingt nach der flügelspreizenden Hausphilosophie von Feinkost Käfer.
Mit der naiven Begeisterung des Stadtmagazin-Soziologen hakt Hammerstein die unterschiedlichen alternativen Lebensformen ab. Dabei entwickelt er ein kitschiges Pathos der Nischenkultur. Heutzutage lauscht der arme Poet nicht mehr in lecker Dachkammer dem jambischen Tröpfeln auf seinem geflickten Regenschirm, sondern thront in der letzten Etage eines besetzten Hochhauses und zaubert ironische Botschaften auf die Computerschirme in den feindlichen Systemen. Vergeblich versucht der Ich-Erzähler, sein Unbehagen an der neuen Mitte zu artikulieren. Dabei verkörpern er und seine Squatter-Clique exakt das, was in Mitte schon immer hip war. Die Wirtschaftskrise hat zwar die Webdesigner von der Karriereleiter katapultiert, aber noch immer scharwenzeln sie in Prada-Schluffen und Helmut-Lang-Klamotten über den Dancefloor, der im Rhythmus irgendeiner 2Step-Garage-Dubhouse-Elektro-Boogie-Muzak vibriert, während im Nebenraum wackelige Super-8-Filme über die Leinwand flackern. Das gesamte Romanpersonal wirkt wie die Inkarnation einer Dekade Unsinn aus dem Hamburger Trendbüro. Alberne Menschen, die „Sneakers” statt „Turnschuhe” sagen.
Die große Miet-Simulation soll als subversive Performance gelten. Aber niemals wird klar, wogegen sich diese pathetische Subversion eigentlich richten soll. Was wollen all diese feiernden Menschen? Mehr Vanille-Joghurt in den Kühlregalen? Mehr Sushi-Schiffchen in den Bars am Potsdamer-Platz? Oder sind sie gar gegen Günther Jauch? Hammerstein klittert ein politisches Kabarett zusammen, das zahnlos gegen Beamte, Medien und AOK polemisiert und von ähnlicher systemerschütternder Sprengkraft ist wie Roman Herzogs Ruck-Rede aus dem kalten Herzen von Mitte, dem Hotel Adlon. Die Mitte-Hipster witzeln weit unter Stammtisch-Niveau, dort etwa, wo Struppi auf Herrchens Füßen schlummert. Die Pseudo-Pippis im Büroturm Kunterbunt gefallen sich in Pseudo-Subversion. Die Revolte ist nichts als lässige Attitüde und Geschwätz von der Revolte. Jede Figur ist nur lebloses Abziehbildchen in einem Star-Album voller Coolness-Helden.
Hammerstein macht nicht Literatur, sondern Text-Design. Am Ende der 120 Tage ist die schicke Nischenrebellion einfach nur geschäftsfördernd: die Investoren können all ihre Büros an den Mann bringen. So hat die viel gescholtene neue Mitte die Rebellion als das entlarvt, was sie ist: ein systemtragendes Ferienlager für wortreich und gestenreich pubertierende Taugenichtse. Weder formal noch thematisch birgt Hammersteins Text mehr authentische Subversion als ein trendy Prada-Meinhof-T-Shirt. Die „120 Tage von Berlin” bleiben ein Roman-Placebo.
STEPHAN MAUS
LUKAS HAMMERSTEIN: Die 120 Tage von Berlin. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 220 S., 10 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Rosenfelder rümpft die Nase über diesen Roman, vor dessen Zeichenkulisse aus berlintypischen Signalwörtern ("Hotel Adlon", "Bundestagsverwaltung" oder "Potsdamer Platz") der Rezensent abgedrehte Typen oder solche, die sich dafür halten, auftauchen sieht. Der rebellische Ästhetizismus, dem sich Hammerstein verschrieben habe, gehört für Rosenfelder längst zur Folklore der Kunstszene. Auch scheint er die Exzesse, die Autor Lukas Hammerstein und sein Romanpersonal veranstalten, etwas spießig zu finden. Da war jeder Antonioni-Film aus den Sechzigern fortschrittlicher. Den "Thomas-Bernhard-Ähnlichkeitswettbewerb" gewinnt man so nicht, höhnt er. Auch Edgar-Allan-Poe-Anklänge werden in dieser Geschichte über eine Gruppe "postkapitalistische Hausbesetzter" ausgemacht. Mitunter bietet der Roman dem missgestimmten Rezensenten zwar auch "durchaus scharfsinnige Miniaturen" und Kurzporträts. Zur Geschichte sind sie für ihn nicht zusammengewachsen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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