Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2001Halbstark
DIE PROTESTBEWEGUNGEN um das Jahr 1968 waren ein globales Phänomen. Sie beherrschten die politische Szenerie in Berkeley und Berlin, in Paris und Rom und fanden Anregung sowie Parallele in den aufständischen Bewegungen in den Entwicklungsländern. Ingrid Gilcher-Holtey analysiert die Vernetzungen von Ideen, politischen Konzeptionen, Personen und Trägergruppen des Protestes, der mehr war als Studentenrevolte oder Jugendrebellion. Zwar war das Potential für Konflikte in den Nachkriegsgesellschaften bereits in den fünfziger Jahren vorhanden, doch bedurfte es erst des ideologischen Kitts der Neuen Linken, damit aus den unterschiedlichen Ein-Punkt-Bewegungen (für Universitätsreformen, Abrüstung, gegen Notstandsgesetze oder Rassendiskriminierung) eine breite Protestbewegung werden konnte. Als Katalysator wirkte der Protest gegen den Vietnamkrieg, der freilich bald in sehr viel weiter gefaßte Anliegen mündete. Zum Ziel wurde nun die Transformation der gesamten Gesellschaft nach den Vorstellungen der Neuen Linken, wobei sich unter dem Einfluß der sich zugleich formierenden Alternativbewegungen (der Hippies und anderen) die Stoßrichtung vom Politischen hin zum Kulturellen verschob. Ihre leitenden Ideen bezogen die Bewegungen aus den Sozialwissenschaften (C. Wright Mills, Marcuse) sowie aus der Rezeption tiermondistischer Befreiungsbewegungen, deren Aktionsmuster in das Konzept einer "Stadtguerrilla" Eingang fanden. Indessen zeigt der historische Vergleich immer auch nationale Spezifika. Die finden sich in besonderen Konfliktlagen - Rassendiskriminierung in den Vereinigten Staaten, Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik - ebenso wie in den unterschiedlichen politischen Kulturen der untersuchten Länder. Denn während sich beispielsweise in den Vereinigten Staaten vor der Kulmination der Anti-Vietnam-Proteste mit der Gründung freier Universitäten Muster staatsfreier Selbstorganisation zeigten, belegten die Mitbestimmungsanliegen der westdeutschen Studenten, daß sie sich zunächst an den bestehenden Institutionen orientierten und in deren Rahmen Veränderungen anstrebten; erst später wurden amerikanische Vorbilder adaptiert. Solche Befunde zeigen, wie sich der Prozeß der Verwestlichung in der Bundesrepublik selbst in den vermeintlich strikt antiamerikanischen 68er-Bewegungen niedergeschlagen hat. Insgesamt eine instruktive und obendrein elegant geschriebene Deutung von "1968". (Ingrid Gilcher-Holtey: Die 68er Bewegung. Deutschland - Westeuropa - USA. Verlag C. H. Beck Wissen, München 2001. 135 Seiten, 14,80 Mark.)
GABRIELE METZLER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
DIE PROTESTBEWEGUNGEN um das Jahr 1968 waren ein globales Phänomen. Sie beherrschten die politische Szenerie in Berkeley und Berlin, in Paris und Rom und fanden Anregung sowie Parallele in den aufständischen Bewegungen in den Entwicklungsländern. Ingrid Gilcher-Holtey analysiert die Vernetzungen von Ideen, politischen Konzeptionen, Personen und Trägergruppen des Protestes, der mehr war als Studentenrevolte oder Jugendrebellion. Zwar war das Potential für Konflikte in den Nachkriegsgesellschaften bereits in den fünfziger Jahren vorhanden, doch bedurfte es erst des ideologischen Kitts der Neuen Linken, damit aus den unterschiedlichen Ein-Punkt-Bewegungen (für Universitätsreformen, Abrüstung, gegen Notstandsgesetze oder Rassendiskriminierung) eine breite Protestbewegung werden konnte. Als Katalysator wirkte der Protest gegen den Vietnamkrieg, der freilich bald in sehr viel weiter gefaßte Anliegen mündete. Zum Ziel wurde nun die Transformation der gesamten Gesellschaft nach den Vorstellungen der Neuen Linken, wobei sich unter dem Einfluß der sich zugleich formierenden Alternativbewegungen (der Hippies und anderen) die Stoßrichtung vom Politischen hin zum Kulturellen verschob. Ihre leitenden Ideen bezogen die Bewegungen aus den Sozialwissenschaften (C. Wright Mills, Marcuse) sowie aus der Rezeption tiermondistischer Befreiungsbewegungen, deren Aktionsmuster in das Konzept einer "Stadtguerrilla" Eingang fanden. Indessen zeigt der historische Vergleich immer auch nationale Spezifika. Die finden sich in besonderen Konfliktlagen - Rassendiskriminierung in den Vereinigten Staaten, Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik - ebenso wie in den unterschiedlichen politischen Kulturen der untersuchten Länder. Denn während sich beispielsweise in den Vereinigten Staaten vor der Kulmination der Anti-Vietnam-Proteste mit der Gründung freier Universitäten Muster staatsfreier Selbstorganisation zeigten, belegten die Mitbestimmungsanliegen der westdeutschen Studenten, daß sie sich zunächst an den bestehenden Institutionen orientierten und in deren Rahmen Veränderungen anstrebten; erst später wurden amerikanische Vorbilder adaptiert. Solche Befunde zeigen, wie sich der Prozeß der Verwestlichung in der Bundesrepublik selbst in den vermeintlich strikt antiamerikanischen 68er-Bewegungen niedergeschlagen hat. Insgesamt eine instruktive und obendrein elegant geschriebene Deutung von "1968". (Ingrid Gilcher-Holtey: Die 68er Bewegung. Deutschland - Westeuropa - USA. Verlag C. H. Beck Wissen, München 2001. 135 Seiten, 14,80 Mark.)
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rainer Hoffmann scheint das Buch, das die 68er Bewegung von ihren Anfängen bis zu ihrem Ende 1970 darstellt, voller Zustimmung gelesen zu haben, auch wenn er sich zu einem expliziten Lob nicht durchringen kann. Er sieht die Ideen der Neuen Linken mit einer "konzisen Darstellung" der geschichtlichen Ereignissee kombiniert und findet, dass die Autorin wichtige Fragen nach der "politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Vermittlung" der Inhalte der Bewegung "ausführlich" beantwortet. Und die Schlussbemerkung der Autorin, die Bewegung sei zwar gescheitert, habe aber wichtigen Einfluss auf die Geschlechterrollen und das Naturverständnis von heute gehabt, beurteilt der zufriedene Rezensent als gar "keine schlechte Bilanz".
© Perlentaucher Medien GmbH
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