Eine Gesamtschau des "symponischen Prinzips Beethoven": alle neun Symphonien, ihre Entstehung, Deutung und Wirkung in anschaulichen Einzelbeiträgen namhafter Musikwissenschaftler - für Konzertbesucher, Beethoven-Fans und Musikfreunde.Beethovens Symphonien kann man nicht "unverändert in der Seele, ohne Ergriffenheit und Aufschwung, ohne Schrecken und Scham oder Trauer, ohne Weh oder Freudenschauer" anhören - so umschrieb Hermann Hesse, was heute unverändert gilt: Beethovens neun Symphonien, uraufgeführt zwischen 1800 und 1824, faszinieren Hörer und Konzertbesucher auch in unseren Tagen, so im Februar/März 1995 durch den großen Konzertzyklus des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Lorin Maazel. Aus diesem Anlass haben zwölf Autoren, u. a. so namhafte Musikwissenschaftler wie Egon Voss, Martin Geck, Peter Rummenhöller, jede einzelne der neun Symphonien durchleuchtet. Der Leser erfährt die Entstehungsgeschichte im biographisch-historischen Umfeld, wird in die Werkanalyse und die ästhetischen Aspekte eingeführt, er kann lesend miterleben, was hinter den Tönen und Klängen steckt. Jeder der Beiträge ist ergänzt durch Briefzitate Beethovens, Kritiken der Uraufführungen und zeitgenössische Bildnisse.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1995Seufzer und Fanfaren
Beethoven, musikwissenschaftlich · Von Gustav Falke
In der Musik spricht das Herz zum Herzen, wendet ein, wer sich durch Musikwissenschaft oder Kritik seinen Genuß nicht nehmen lassen will. Nun freilich, aber es spricht doch, das Herz. Und wo gesprochen wird, da gibt es Mißverständnisse, da gibt es die Suche nach dem rechten Ausdruck. Wer etwas grundlegend Neues sagen will, muß sich die vorgefundenen Redeweisen so anverwandeln, daß aus ihrer Zusammenstellung ein veränderter und damit erst einmal unvertrauter Sinn entspringt. Und eben weil die Vorstellung, der Komponist schaue in sein Inneres, finde da Gefühle und teile sie dann mit, falsch ist, existiert die Musikwissenschaft. Sie untersucht die Geschichte der Formen und Inhalte, um von ihnen aus das einzelne Werk genauer zu verstehen und das Alltagshören vielleicht berichtigen oder vertiefen, jedenfalls besser begründen zu können.
Musik ist eine Sprache, sagt die Musikwissenschaft. Darunter wird vielerlei und ganz Unterschiedliches verstanden. Auf jeden Fall meint es das Moment von Regelhaftigkeit. Weil Komponisten Regeln gehorchen, ist Musikwissenschaft als strenge Wissenschaft möglich. Aber in einer Sprache teilt doch einer dem anderen etwas mit. Man redet von etwas in der Welt, nicht um einen Konditionalsatz oder eine Metonymie zu bilden. In der Freude über die erreichte Wissenschaftlichkeit hat die Musikwissenschaft ihren Zweck - die Erhellung des Gehaltes der einzelnen Werke - ganz aus den Augen verloren und damit den Kontakt zu Hörern und Musikern abgebrochen. Nun wuchert sie. Denn untersuchen kann man alles mögliche unter allen möglichen Perspektiven und immer noch genauer.
"Beethoven. Interpretationen seiner Werke" sind zwei dicke Bände betitelt, die Analysen von allen Werken mit Opuszahl und einem großen Teil der Werke ohne Opuszahl (WoO) numerisch geordnet versammeln. Interpretationen genau sind es nicht, will man unter Interpretation nicht nur etwas irgendwie Subjektives verstehen. Man findet primär Befunde der Art: Im Takt 67 wird die Subdominante erreicht, in der unregelmäßigerweise und vielleicht nach dem Vorbild von Mozarts C-Dur-Sonate das Seitenthema steht, oder: Das jambische Hauptthema (2 + 2 + 4) ist aus einer Rufterz, einem Seufzermotiv und einem Quartgang gebaut. Wer keine Noten lesen kann, kann damit nichts anfangen. Wer Noten lesen kann, auch nicht. Teils sieht er es selber, teils fehlt ihm ob der notwendigen Kürze der Beiträge die Begründung des Ansatzes, die Diskussion der Forschung. Da bleiben als Leser eigentlich nur die Bibliotheken.
Beethoven war wenigstens für die neuzeitliche universitäre Musikwissenschaft Gründungsgegenstand. Und ein anständiger Musikwissenschaftler sollte einmal in seinem Leben mit der Weihgabe einer Analyse zu diesem Quellgrund seiner akademischen Existenz gepilgert sein. Es gereicht den Herausgebern, Albrecht Riethmüller und Alexander L. Ringer - Carl Dahlhaus, gleich zu Beginn der Arbeit verstorben, wird aus Gründen genannt, in denen sich Pietät und Verkaufsstrategie treffen dürften -, zur Ehre, daß sie die Pluralität der Methoden recht weitherzig dokumentieren und auch jüngeren Kollegen Publikationschancen gegeben haben. Der Anspruch ist, "einen Spiegel dessen vorzulegen, was musikwissenschaftliche Werkinterpretation derzeit zu leisten imstande ist". Und diesem Anspruch wird das Werk gerecht. Da finden sich natürlich vor allem die klassischen Fragen, wie Beethoven das Schema des Sonatensatzes erfüllt oder modifiziert, die Analysen von motivischen Verflechtungen und metrischen Strukturen. Auffällig ist indes auch hier, wie zunehmend der hermeneutische Bogen über die Kompositionstheorie der Zeit geschlagen, die Analyse also nicht einfach von außen herangetragen wird.
Neben der syntaktischen oder logischen Betrachtungsweise hat sich jedoch deutlich eine semantische breitgemacht. Man wird kaum fehlgehen, diese Wende im Theoretischen mit der Wende zur historischen Aufführungspraxis in Verbindung zu bringen. Auch hier hat sich ja das Interesse von der Form auf die Inhalte, von der Konstruktion auf den Ausdruck verlagert, was häufig genug mit einem geschrumpften Sinn für musikalische Logik einhergeht. Semantik heißt vorab die Erforschung von Beethovens Absichten. Nun ist zwar die Diskussion um den methodischen Stellenwert von Intentionen offenbar an der Musikwissenschaft vollkommen vorbeigegangen. Keine Mühe wird auch auf Überlegungen verwandt, wie sich denn die ja sprachlich, also in literarischen oder philosophischen Wendungen geäußerten Intentionen zu den musikalischen verhalten. Aber immerhin, die Frage, ob sich der Titel "Malinconia" in op. 18 Nr. 6 nur auf die langsame Einleitung oder auch auf das folgende Allegretto bezieht, ist nicht zuletzt für die Spielweise des Stückes von einiger Bedeutung.
Im engeren Sinne semantisch ist die Untersuchung typischer Ausdrucksfiguren, angefangen von Seufzern, Fanfaren, von Hornsatz und Marschrhythmus über typische Themenarten der französischen Revolutionsmusik bis hin zur Tonartencharakteristik. Zwar dürfte die Formalisierbarkeit hier schnell auf Grenzen stoßen. Bei den Pizzikati des Harfen-Quartetts etwa "erscheint die semantische Eingrenzung angesichts der unterschiedlichen Verwendung des Pizzikatos bei Beethoven kaum möglich". Aber wer weiß? "Jüngst wurde statistisch nachgewiesen", heißt es wenig später, daß die Verwendung der neapolitanischen Harmoniesphäre "bei Beethoven nahezu immer die semantischen Felder von Tod und Todessehnsucht (auch auf Grund unglücklicher Liebe) abdeckt".
Ob Syntax, Semantik oder Rhetorik, letztlich wird klassifiziert. Isolierte Momente der Werke werden als Fall eines und sei es geschichtlich gedachten Allgemeinen genommen, nicht der Sinn dieses Momentes im Werkzusammenhang untersucht. So entstehen lauter Aufsätze aus Argumenten ohne These. Anders machen es nur die Autoren - und von hier aus ließen sich böswillige Überlegungen anstellen -, die sich zur Kunst an der Musik in ein Verhältnis setzen, die mit Hilfe der Wissenschaft ihre ästhetischen Reaktionen ergründen oder begründen wollen. Da beschreibt etwa Hans Heinrich Eggebrecht die ersten drei Töne der Appassionata als das "im Molldreiklang kraftlos zum langruhenden Grundton absackende Grundmotiv, das jedoch den innerst gespannten scharf punktierten Rhythmus schon in sich trägt". Er hört das Stück auf eine bestimmte Weise und weist jetzt, durchaus unter Benutzung des verfügbaren analytischen Instrumentariums, auf etwas im Stück, das diese Hörweise in besonderem Maße hervorrufe. Darauf kann dann ein Zweiter, der das Stück anders hört, antworten, indem er auf etwas anderes zeigt, das sich mit dieser Deutung nicht vereinbaren lasse.
Gegenüber Eggebrechts leichter Neigung zur Sentimentalität etwa, die ihrerseits in einer Deutung von Kunst als Ausdruck fundiert ist, könnte man die formale Geschlossenheit der Sonate ins Feld führen als ein Moment, das Distanz schafft, objektiviert. So fragt Wolfram Steinbeck nach der "Formidee" der Werke. Im Gegensatz zur konsequenten "Handlung" der Schicksalssymphonie werde in der Pastorale Natur "musikalisch gefaßt als entwickelnder und doch wiederholter und immerwährender Fortgang". Von hier aus kann er dann die Abfolge Bauerntanz - Gewitter - Hirtengesang als "Gegensatz" zwischen der artifiziellen, immer leicht unstimmigen "Ordnung" des Tanzes und dem "Chaos" der Naturgewalten deuten, der in der "natürlichen "musikalischen' Ordnung des Hirtenreigens" aufgehoben werde. "Rein programmatisch gesehen, hätte uns das Gewitter auch am Bach überraschen können." Steinbeck legt die mimetische Funktion der Kunst gleichsam tiefer als Eggebrecht. Nicht in seinen Momenten, sondern erst als Totalität verhält sich das Werk zur Welt. Auszuloten, wie es sich zur Welt verhält, wäre Aufgabe einer Musikwissenschaft, die vorlegt, was diese Bände nur versprechen: Interpretationen.
Gemessen an dem ungleich niedrigeren Anspruch läßt sich das dtv-Bändchen zu Beethovens Symphonien freudiger empfehlen. Je werden Analysen, Dokumente, entstehungs- und rezeptionsgeschichtliche Informationen mit einem Essay verknüpft, der den einzelnen Symphonien zuzuordnende Themen behandelt: Beethoven und C. Ph. E. Bach, Beethoven und Bonaparte, Beethoven und der musikalische Humor. Man wird auf angenehme Weise über dieses und jenes belehrt. Die zahlreichen Porträt-Abbildungen sind ausführlich kommentiert. Ein schönes Konfirmationsgeschenk hätte auch aus "Beethoven. Leben und Werk in Zeugnissen der Zeit" werden können. Leider sind die Dokumente fast unkommentiert, auseinandergerissen und - ohne Inhaltsverzeichnis - nach Gesichtspunkten wie "Wenzel Punto", "Beethovens Gesundheitszustand", "Beethovens Schaffenskraft", "Steiner & Co." gereiht. Es soll sich um Vorarbeiten des Herausgebers für eine umfassende Biographie handeln, und da liegt auch das Problem.
"Beethoven. Interpretationen seiner Werke". Herausgegeben von Albrecht Riethmüller, Carl Dahlhaus, Alexander L. Ringer. Laaber Verlag, Laaber 1994. 2 Bände, 677 S. u. 629 S., geb., je Band 124,- DM.
"Die 9 Symphonien Beethovens". Entstehung, Deutung, Wirkung. Vorwort von Lorin Maazel. Herausgegeben von Renate Ulm. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, und Bärenreiter Verlag, Kassel 1994. 280 S., br., 24,90 DM.
H. C. Robbins Landon: "Ludwig van Beethoven. Leben und Werk in Zeugnissen der Zeit". Hatje Verlag, Ostfildern 1995. 248 S., 43 Abb., geb., 58,- DM.
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Beethoven, musikwissenschaftlich · Von Gustav Falke
In der Musik spricht das Herz zum Herzen, wendet ein, wer sich durch Musikwissenschaft oder Kritik seinen Genuß nicht nehmen lassen will. Nun freilich, aber es spricht doch, das Herz. Und wo gesprochen wird, da gibt es Mißverständnisse, da gibt es die Suche nach dem rechten Ausdruck. Wer etwas grundlegend Neues sagen will, muß sich die vorgefundenen Redeweisen so anverwandeln, daß aus ihrer Zusammenstellung ein veränderter und damit erst einmal unvertrauter Sinn entspringt. Und eben weil die Vorstellung, der Komponist schaue in sein Inneres, finde da Gefühle und teile sie dann mit, falsch ist, existiert die Musikwissenschaft. Sie untersucht die Geschichte der Formen und Inhalte, um von ihnen aus das einzelne Werk genauer zu verstehen und das Alltagshören vielleicht berichtigen oder vertiefen, jedenfalls besser begründen zu können.
Musik ist eine Sprache, sagt die Musikwissenschaft. Darunter wird vielerlei und ganz Unterschiedliches verstanden. Auf jeden Fall meint es das Moment von Regelhaftigkeit. Weil Komponisten Regeln gehorchen, ist Musikwissenschaft als strenge Wissenschaft möglich. Aber in einer Sprache teilt doch einer dem anderen etwas mit. Man redet von etwas in der Welt, nicht um einen Konditionalsatz oder eine Metonymie zu bilden. In der Freude über die erreichte Wissenschaftlichkeit hat die Musikwissenschaft ihren Zweck - die Erhellung des Gehaltes der einzelnen Werke - ganz aus den Augen verloren und damit den Kontakt zu Hörern und Musikern abgebrochen. Nun wuchert sie. Denn untersuchen kann man alles mögliche unter allen möglichen Perspektiven und immer noch genauer.
"Beethoven. Interpretationen seiner Werke" sind zwei dicke Bände betitelt, die Analysen von allen Werken mit Opuszahl und einem großen Teil der Werke ohne Opuszahl (WoO) numerisch geordnet versammeln. Interpretationen genau sind es nicht, will man unter Interpretation nicht nur etwas irgendwie Subjektives verstehen. Man findet primär Befunde der Art: Im Takt 67 wird die Subdominante erreicht, in der unregelmäßigerweise und vielleicht nach dem Vorbild von Mozarts C-Dur-Sonate das Seitenthema steht, oder: Das jambische Hauptthema (2 + 2 + 4) ist aus einer Rufterz, einem Seufzermotiv und einem Quartgang gebaut. Wer keine Noten lesen kann, kann damit nichts anfangen. Wer Noten lesen kann, auch nicht. Teils sieht er es selber, teils fehlt ihm ob der notwendigen Kürze der Beiträge die Begründung des Ansatzes, die Diskussion der Forschung. Da bleiben als Leser eigentlich nur die Bibliotheken.
Beethoven war wenigstens für die neuzeitliche universitäre Musikwissenschaft Gründungsgegenstand. Und ein anständiger Musikwissenschaftler sollte einmal in seinem Leben mit der Weihgabe einer Analyse zu diesem Quellgrund seiner akademischen Existenz gepilgert sein. Es gereicht den Herausgebern, Albrecht Riethmüller und Alexander L. Ringer - Carl Dahlhaus, gleich zu Beginn der Arbeit verstorben, wird aus Gründen genannt, in denen sich Pietät und Verkaufsstrategie treffen dürften -, zur Ehre, daß sie die Pluralität der Methoden recht weitherzig dokumentieren und auch jüngeren Kollegen Publikationschancen gegeben haben. Der Anspruch ist, "einen Spiegel dessen vorzulegen, was musikwissenschaftliche Werkinterpretation derzeit zu leisten imstande ist". Und diesem Anspruch wird das Werk gerecht. Da finden sich natürlich vor allem die klassischen Fragen, wie Beethoven das Schema des Sonatensatzes erfüllt oder modifiziert, die Analysen von motivischen Verflechtungen und metrischen Strukturen. Auffällig ist indes auch hier, wie zunehmend der hermeneutische Bogen über die Kompositionstheorie der Zeit geschlagen, die Analyse also nicht einfach von außen herangetragen wird.
Neben der syntaktischen oder logischen Betrachtungsweise hat sich jedoch deutlich eine semantische breitgemacht. Man wird kaum fehlgehen, diese Wende im Theoretischen mit der Wende zur historischen Aufführungspraxis in Verbindung zu bringen. Auch hier hat sich ja das Interesse von der Form auf die Inhalte, von der Konstruktion auf den Ausdruck verlagert, was häufig genug mit einem geschrumpften Sinn für musikalische Logik einhergeht. Semantik heißt vorab die Erforschung von Beethovens Absichten. Nun ist zwar die Diskussion um den methodischen Stellenwert von Intentionen offenbar an der Musikwissenschaft vollkommen vorbeigegangen. Keine Mühe wird auch auf Überlegungen verwandt, wie sich denn die ja sprachlich, also in literarischen oder philosophischen Wendungen geäußerten Intentionen zu den musikalischen verhalten. Aber immerhin, die Frage, ob sich der Titel "Malinconia" in op. 18 Nr. 6 nur auf die langsame Einleitung oder auch auf das folgende Allegretto bezieht, ist nicht zuletzt für die Spielweise des Stückes von einiger Bedeutung.
Im engeren Sinne semantisch ist die Untersuchung typischer Ausdrucksfiguren, angefangen von Seufzern, Fanfaren, von Hornsatz und Marschrhythmus über typische Themenarten der französischen Revolutionsmusik bis hin zur Tonartencharakteristik. Zwar dürfte die Formalisierbarkeit hier schnell auf Grenzen stoßen. Bei den Pizzikati des Harfen-Quartetts etwa "erscheint die semantische Eingrenzung angesichts der unterschiedlichen Verwendung des Pizzikatos bei Beethoven kaum möglich". Aber wer weiß? "Jüngst wurde statistisch nachgewiesen", heißt es wenig später, daß die Verwendung der neapolitanischen Harmoniesphäre "bei Beethoven nahezu immer die semantischen Felder von Tod und Todessehnsucht (auch auf Grund unglücklicher Liebe) abdeckt".
Ob Syntax, Semantik oder Rhetorik, letztlich wird klassifiziert. Isolierte Momente der Werke werden als Fall eines und sei es geschichtlich gedachten Allgemeinen genommen, nicht der Sinn dieses Momentes im Werkzusammenhang untersucht. So entstehen lauter Aufsätze aus Argumenten ohne These. Anders machen es nur die Autoren - und von hier aus ließen sich böswillige Überlegungen anstellen -, die sich zur Kunst an der Musik in ein Verhältnis setzen, die mit Hilfe der Wissenschaft ihre ästhetischen Reaktionen ergründen oder begründen wollen. Da beschreibt etwa Hans Heinrich Eggebrecht die ersten drei Töne der Appassionata als das "im Molldreiklang kraftlos zum langruhenden Grundton absackende Grundmotiv, das jedoch den innerst gespannten scharf punktierten Rhythmus schon in sich trägt". Er hört das Stück auf eine bestimmte Weise und weist jetzt, durchaus unter Benutzung des verfügbaren analytischen Instrumentariums, auf etwas im Stück, das diese Hörweise in besonderem Maße hervorrufe. Darauf kann dann ein Zweiter, der das Stück anders hört, antworten, indem er auf etwas anderes zeigt, das sich mit dieser Deutung nicht vereinbaren lasse.
Gegenüber Eggebrechts leichter Neigung zur Sentimentalität etwa, die ihrerseits in einer Deutung von Kunst als Ausdruck fundiert ist, könnte man die formale Geschlossenheit der Sonate ins Feld führen als ein Moment, das Distanz schafft, objektiviert. So fragt Wolfram Steinbeck nach der "Formidee" der Werke. Im Gegensatz zur konsequenten "Handlung" der Schicksalssymphonie werde in der Pastorale Natur "musikalisch gefaßt als entwickelnder und doch wiederholter und immerwährender Fortgang". Von hier aus kann er dann die Abfolge Bauerntanz - Gewitter - Hirtengesang als "Gegensatz" zwischen der artifiziellen, immer leicht unstimmigen "Ordnung" des Tanzes und dem "Chaos" der Naturgewalten deuten, der in der "natürlichen "musikalischen' Ordnung des Hirtenreigens" aufgehoben werde. "Rein programmatisch gesehen, hätte uns das Gewitter auch am Bach überraschen können." Steinbeck legt die mimetische Funktion der Kunst gleichsam tiefer als Eggebrecht. Nicht in seinen Momenten, sondern erst als Totalität verhält sich das Werk zur Welt. Auszuloten, wie es sich zur Welt verhält, wäre Aufgabe einer Musikwissenschaft, die vorlegt, was diese Bände nur versprechen: Interpretationen.
Gemessen an dem ungleich niedrigeren Anspruch läßt sich das dtv-Bändchen zu Beethovens Symphonien freudiger empfehlen. Je werden Analysen, Dokumente, entstehungs- und rezeptionsgeschichtliche Informationen mit einem Essay verknüpft, der den einzelnen Symphonien zuzuordnende Themen behandelt: Beethoven und C. Ph. E. Bach, Beethoven und Bonaparte, Beethoven und der musikalische Humor. Man wird auf angenehme Weise über dieses und jenes belehrt. Die zahlreichen Porträt-Abbildungen sind ausführlich kommentiert. Ein schönes Konfirmationsgeschenk hätte auch aus "Beethoven. Leben und Werk in Zeugnissen der Zeit" werden können. Leider sind die Dokumente fast unkommentiert, auseinandergerissen und - ohne Inhaltsverzeichnis - nach Gesichtspunkten wie "Wenzel Punto", "Beethovens Gesundheitszustand", "Beethovens Schaffenskraft", "Steiner & Co." gereiht. Es soll sich um Vorarbeiten des Herausgebers für eine umfassende Biographie handeln, und da liegt auch das Problem.
"Beethoven. Interpretationen seiner Werke". Herausgegeben von Albrecht Riethmüller, Carl Dahlhaus, Alexander L. Ringer. Laaber Verlag, Laaber 1994. 2 Bände, 677 S. u. 629 S., geb., je Band 124,- DM.
"Die 9 Symphonien Beethovens". Entstehung, Deutung, Wirkung. Vorwort von Lorin Maazel. Herausgegeben von Renate Ulm. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, und Bärenreiter Verlag, Kassel 1994. 280 S., br., 24,90 DM.
H. C. Robbins Landon: "Ludwig van Beethoven. Leben und Werk in Zeugnissen der Zeit". Hatje Verlag, Ostfildern 1995. 248 S., 43 Abb., geb., 58,- DM.
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