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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.03.2024

Psychogramm des Verbrecherischen
Warum wir hierzulande endlich William Godwin lesen sollten

Mary Shelley verglich seine Bedeutung mit dem "Hamlet", William Hazlitt mit dem "Don Quichotte". Der spitzzüngige Thomas de Quincey aber hielt später dagegen: "Nicht einmal die Deutschen, deren Literatur allen Absonderlichkeiten der Welt einen Freihafen bietet, haben sich je für Caleb Williams interessiert."

Dass dieser 1794 in England erschienene Roman im Urteil seiner Zeitgenossen derart unterschiedlich aufgenommen wurde, zeigt bereits, wie ungewöhnlich, ja verstörend sein Erzählvorhaben ist. Der Autor William Godwin (1756 bis 1836) hatte sich bereits im Jahr zuvor einen Namen als radikaler Sozialphilosoph und -kritiker gemacht, der die verkrusteten Hierarchien der englischen Ständegesellschaft anprangerte. Jetzt legte er mit einem umfangreichen Roman nach, der dasselbe Thema brandaktuell aufgriff - in Frankreich wütete die Schreckensherrschaft der Jakobiner - und seine schonungslose Diagnose gleich mit dem klaren Titel ankündigte: "Things as They are; or, The Adventures of Caleb Williams". Ein Roman also zum Stand der Dinge.

Dazu nutzt Godwin das althergebrachte Muster einer Abenteuererzählung, die ihren Helden in wechselnden Episoden durch Höhen und Tiefen eines bewegten Lebens führt und so zugleich geeignet ist, Gesellschaftsanalyse zu betreiben. Insbesondere die Einblicke ins finstere Innere des Justiz- und Gefängniswesens, die auf diese Art eröffnet werden, bringen Erschreckendes ans Licht. Der Autor hatte dafür eigens recherchiert und nutzt jetzt die Gelegenheit, seinem Erzähler flammende Aufrufe an die Leserschaft in den Mund zu legen: "Gott sei Dank, ruft der Engländer, haben wir keine Bastille! Gott sei Dank, dass bei uns niemand bestraft werden kann, der kein Verbrechen begangen hat. Gedankenloser Wicht! Ist dies ein Land der Freiheit, wo Tausende in Ketten schmachten? Geht, geht, ihr ignoranten Narren, und besucht eure Gefängnisse! Seht ihre ungesunden Verhältnisse, ihren Schmutz, die Tyrannei ihrer Wärter, das Elend ihrer Häftlinge! Danach zeigt mir den Mann, der schamlos genug ist, damit zu prahlen, dass wir keine Bastille haben!"

Schuldlos muss der Abenteurer und Erzähler Caleb Williams, dessen Name nicht von ungefähr den seines Autors spiegelt, im Gefängnis schmachten. Aus sehr einfachen Verhältnissen stammend, dabei von wacher, wissbegieriger Natur, hat Caleb nach dem Tod der Eltern beim unermesslich reichen Gutsherrn Falkland eine Anstellung als Sekretär gefunden, die ihm sozialen Aufstieg sowie Lebensglück verheißt. Falkland lebt sehr zurückgezogen, und wann immer er sich zeigt, scheint er sich der Welt als edler, ritterlicher Gentleman zu erweisen, der segensreich und friedensstiftend wirkt. Doch dieses Bild gerät in Wanken, als eine lange Auseinandersetzung mit einem streitsüchtigen Nachbarn eskaliert. Der Nachbar wird ermordet aufgefunden, Falkland steht unter Verdacht, kann aber vor Gericht seine Unschuld geltend machen. Verurteilt für die Tat werden zwei kleine Pächter.

Je länger sich nun Caleb Williams im Herrenhaus bewegt und je tiefer er, von seiner angeborenen Neugier angetrieben, in die Geheimnisse des düsteren Gutsherrn eindringt, desto sicherer wird ihm der Verdacht zur schrecklichen Gewissheit: Falkland war der Mörder! Die Justiz hat den Hochgestellten geschont und zwei Unschuldige hingerichtet.

Diese Erkenntnis bringt den Umschwung. Fortan ist Caleb auf der Flucht und muss in immer neuen Verstecken und Verkleidungen alles versuchen, um dem rachsüchtigen Falkland, der seinen Aufklärer mit blinder Wut verfolgen lässt, doch noch zu entkommen. Mit diesem Katz-und-Maus-Spiel zweier ungleicher Gegner, die beide zum Äußersten entschlossen sind und nicht voneinander lassen können, findet die Geschichte dann ihr eigentliches Thema und wendet den politischen Roman in einen psychologischen. Das ist auch der Grund, warum er uns nach mehr als zwei Jahrhunderten noch derart fesselt, dass wir dem tyrannischen Verbrecher, den wir zunächst als Friedensstifter kennenlernen, bald selbst nicht mehr entkommen können. Das Psychogramm des Verbrecherischen hat klar die Zeiten überlebt.

Jetzt hat Alexander Pechmann, dem viele wunderbare Wiederentdeckungen aus der großen angelsächsischen Erzähltradition zu danken sind, seine schon einmal erschienene Übersetzung neu bearbeitet und herausgegeben. Sie ist unbedingt geeignet, De Quinceys Urteil endgültig zu widerlegen und Caleb Williams endlich auch im Deutschen einen dauerhaften Platz zu geben. TOBIAS DÖRING

William Godwin: "Die Abenteuer des Caleb Williams". Roman.

Aus dem Englischen

und hrsg. von Alexander Pechmann. Steidl Verlag, Göttingen 2023.

480 S., geb., 34,- Euro.

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