„Ich besaß nie den Ehrgeiz, ein guter Mensch zu werden.“ Joel Spazierer, geboren 1949 in Budapest, wächst bei seinen Großeltern auf und ist vier Jahre alt, als sie von Stalins Schergen abgeholt werden. Fünf Tage und vier Nächte verbringt er allein in der Wohnung und lernt eine Welt ohne Menschen kennen. Es fehlt ihm an nichts, er ist zufrieden. Eher zufällig findet ihn seine Mutter, die noch Studentin ist. Joel Spazierer lernt nie, was gut und was böse ist. Sein Aussehen, sein Charme, seine Freundlichkeit öffnen ihm jedes Herz. Er lügt, stiehlt und mordet, ändert seinen Namen und seine Identität und betreibt seine kriminelle Karriere in vielen europäischen Ländern. Die Geschichte, die er uns ganz unschuldig erzählt, ist ein Schelmenroman über die Nachtseiten unserer Gesellschaft wie es noch keinen gab.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nicht frei von problematischen Momenten findet Stephan Speicher Michael Köhlmeiers Schelmenroman. Nicht nur dass der Autor psychologische Leerstellen bei seiner Figur mit metaphysischen und theologischen Spekulationen auszufüllen sucht (leider ohne die befriedigende Schlüssigkeit, wie Speicher feststellt). Auch das Genre scheint Speicher mit einem zwar hübsch geschmeidigen, aber wirklich bösen Protagonisten arg strapaziert. An der süffigen Lesbarkeit des Romans, der den Leser durchs kommunistische Ungarn, durch Österreich, die Schweiz und Westdeutschland, Mexiko und die DDR führt und mit allerhand netten Details aufwartet, ändert das für Speicher allerdings nichts.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.04.2013Mephisto und der Fliegengott
In seinem neuen Roman „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ schickt Michael Köhlmeier seinen Helden
als einen leeren, glatten Spiegel durch die Welt – und packt ihm die Theologie in den Rucksack
VON STEPHAN SPEICHER
Früher gehörte zu einem richtigen Zirkusprogramm ein rechnendes Pferd. Das Publikum stellte eine leichte Aufgabe, zum Beispiel „Wie viel ist 3 + 4?“, darauf klopfte das Pferd zur Antwort sieben Mal mit dem Huf. Die Kinder staunten, die Erwachsenen ahnten, dass der Dompteur dem Pferd ein geheimes Zeichen gebe. Aber der „Kluge Hans“ konnte mehr. Dieses Pferd antwortete auch ohne Hilfe seines Herrn. Es waren die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, die experimentelle Psychologie nahm ihren Aufschwung, und so wurde der Fall von Psychologen der Berliner Universität untersucht. Das Ergebnis: Das Pferd beobachtete den Fragesteller. Es begann zu klopfen und hörte im rechten Moment auf, wenn der Fragesteller sich selbst unbewusst, aber dem Tier merklich signalisierte, dass jetzt die richtige Zahl der Hufschläge erreicht war.
Vom Klugen Hans erzählt auch Michael Köhlmeier in seinem neuen Roman „Die Abenteuer des Joel Spazierer“. Der Vater der Hauptfigur kennt diese schöne Geschichte, und sein Sohn begreift, „dass es bei der Beantwortung einer Frage nicht darauf ankommt, die Wahrheit zu sagen, als viel mehr, den Frager in Erstaunen zu versetzen, indem man genau das sagt, was er hören will“. Mit der Maxime kommt man weit, vor allem als Schelm; Köhlmeier verwendet selbst den Ausdruck „Schelmenroman“. Der Schelm bricht die Regeln, aber auf eine gelinde Weise; er gibt Zeit und Gesellschaft, wonach sie verlangen. Er muss nicht scharfsinnig sein, aber klug, Prinzipienstärke stört ihn beim Fortkommen, Geschmeidigkeit ist seine Methode.
So ist es auch bei Joel Spazierer, der als Andras Fülöp geboren wird und noch allerlei Namen übernehmen wird. Als kleiner Junge, nicht einmal vier Jahre ist er alt, werden die Großeltern, die ihn aufziehen, von der ungarischen Staatssicherheit abgeholt. Der Kleine bleibt allein zurück, für Tage. Jedes andere Kind wäre in Tränen und Entsetzen ausgebrochen, nicht so der kleine Andras. Er baut sich seine Welt und erinnert sich: „Ich fühlte mich stark – mehr als muskelstark: begnadet, auserwählt, mächtig und unbesiegbar.“ Etwas Unerschütterliches zeigt sich hier, das den zweifelhaften Helden und Ich-Erzähler bis zuletzt auszeichnen wird. Das ist das Besondere an diesem Roman und sein Problem.
Andras, er ist älter geworden, aber noch ein Kind, liegt in einer Sommernacht draußen auf dem Rücken, schaut in den Sternenhimmel, findet ihn auch „prächtig“ und kann sich dennoch „eine Zeitlang nicht gegen den Gedanken wehren, etwas weniger hätte es auch getan“. Unmöglich, so etwas zu lesen, ohne an das berühmte Wort Kants vom gestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir zu denken. Andras lässt sich von der Majestät der Natur so wenig beeindrucken wie von einer sittlichen Ordnung. Moralisch ist er unansprechbar. „Ich hatte keine Überzeugungen. Ich besaß nie den Ehrgeiz, ein guter Mensch zu werden.“ Und wenn es gerade hieß, im Schelmenroman würden die Regeln auf eine gelinde Weise gebrochen, so ist das für „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ nicht ganz richtig. Andras/Joel ist geschmeidig, aber seine Abenteuer umfassen wirkliche Verbrechen. Es ist etwas Böses an ihm. Früh schon will er den Tresor der Familie eines Schulfreundes knacken – das gehört zu den Lizenzen eines literarischen Schelms. Dabei von der Mutter seines Freundes überrascht, erschießt er sie, ohne etwa bedroht zu sein. Und er erschießt sie ohne Gemütsbewegung, ohne Schuldgefühl, aber erst recht ohne Sadismus. „Ich wusste, dass die Welt Reue von mir erwartete und wartete selbst auf diese Empfindung. (. . .) Ich empfand nichts.“ Später wird er einen zweiten Menschen, der ihm nahesteht, töten, und wieder ohne jegliches Gefühl.
Der Schelmenroman ist Roman der Gesellschaft, die die Hauptgestalt reüssieren lässt, er ist realistisch und deshalb auch psychologisch neugierig. In diesem Roman ist die Psychologie für die Umgebung reserviert, das Zentrum bleibt seelisch unbestimmt. Zu dieser seelischen Unbestimmtheit gehört, dass es dafür auch keine psychologische Erklärung gibt. Das Erlebnis des kleinen Jungen, über Tage verlassen zu sein, könnte ihn traumatisiert haben. Aber so ist es eben nicht; er hat das alles leicht hingenommen. „Keine Weinerlichkeit. Keine Angst. Keine Abschweifungen. Keine Empathie. Keine Wahrheit, keine Lüge.“ Mit neun Jahren macht er den Strichjungen für ältere Männer, auch das scheint keine Spuren zu hinterlassen.
Michael Köhlmeier ist ein gewandter Erzähler. Er hat einen Blick fürs Detail, auch dieses Buch schmökert man gern durch. Sein Held erlebt das kommunistische Ungarn, dann Österreich, die Schweiz, Westdeutschland, ein frühes Beispiel des Fundamentalliberalismus wird gegeben, später folgt die Studentenbewegung und die Welt der Drogen, darauf Mexiko, dann die untergehende DDR – ein schöner Bilderbogen. Umso merkwürdiger die Hauptfigur, die fest ist, aber leer, die sich behauptet, aber ohne ein Ziel, einen Wunsch, einen Grundsatz zu hegen, und die auch erotisch vergleichsweise unternehmungsschwach ist.
Gewiss, wer spiegeln will, muss blank sein. Aber könnte hinter der polierten Oberfläche nicht eine Person stehen, die aus der Außenseiterrolle ihre Eigentümlichkeiten entwickelt? Eine solch leere Figur wie Joel Spazierer ist literarisch heikel. Doch Köhlmeier scheint einen besonderen Zweck zu verfolgen, scheint das Zentrum seines Buches ausgehöhlt zu haben, um Raum zu schaffen für Übernatürliches. Was psychologisch fehlt, wird metaphysisch ausgefüllt. Denn wenn auch Joel Spazierer, wie sich Andras inzwischen nennt (ein jüdischer Name schützt vor Rückfragen), nie den Wunsch empfand, ein guter Mensch zu werden, so möchte er doch lernen, „zwischen Gut und Böse zu unterscheiden“ – was schon die Schlange im Paradies Eva empfahl: So werdet ihr sein wie Götter.
Der Roman ist voller theologischer Spuren, aber es ist nicht leicht, sie in einen schlüssigen Zusammenhang zu bringen. Der Ich-Erzähler beherbergt zeitweilig Katze, Marder und Rotkehlchen unter seinem Bett, halb Hexenküche, halb Paradiesgarten. Der Fliegengott – ein Beiname Beelzebubs, wie man aus „Faust I“ in Erinnerung hat – bekommt seine Auftritte, und es gibt weitere Anspielungen auf Faust und Mephisto. Immer wieder wird der Gedanke variiert, der auf die Kirchenväter, vor allem Augustinus, und weiter auf Platon zurückgeht, das Böse habe kein eigenes Sein, sei ein Mangelzustand. Und etwas Leeres ist um unseren Helden.
Das theologische Problem wird ausgerechnet in der DDR zu seinem Höhepunkt gesteigert. Als Geliebter einer italienischen Kommunistin aus reicher Familie hört Joel von Ernst Thälmann und beschließt, an dessen Heiligenlegende teilzuhaben. Er legt sich eine neue Identität als Enkel des berühmten Mannes zu und reist als Dr. theol. Koch, Vorname Ernst-Thälmann, in die DDR ein, um dort Asyl zu suchen. Ein Thälmann-Enkel, der fehlt gerade. Nach kurzer Irritation nimmt man ihn begeistert auf. Zwar macht sich niemand Illusionen über die Scharade. Aber die mürbe DDR ist in die Phase eingetreten, in der es nicht mehr darum geht, die „Zukunft zu verklären, sondern der Vergangenheit Glanz zu verleihen“. Das Erbe bedarf der „mythischen Erhebung“ im „dialektischen Sinn“.
Dass der Thälmann-Enkel sich als Doktor der Theologie vorstellt, lässt sich nutzen; flugs wird ihm ein Institut für wissenschaftlichen Atheismus gegründet. Dort hält er beliebte Vorlesungen, die sich mit „sozialistischer Transzendenz“ bzw. „kommunistischer Metaphysik“ befassen und Anlass geben zu fragen: „Wer glaubt an den Gott?“ Von dem Gott war bis dahin oft schon die Rede, immer mit dem bestimmten Artikel. Ein Christ würde den nicht verwenden, für ihn ist „Gott“ ein Name, nicht anders als Jesus. Was es bedeutet, Gott mit Artikel zu versehen, das wird in Ost-Berlin nun offen diskutiert. Der letzte der Diskutanten schlägt vor, darin die Ausdrucksweise des „monotheistischen Atheisten“ zu sehen, das dürfte auch die Haltung des Erzählers nicht schlecht treffen.
So enden die Abenteuer des Joel Spazierer in einer glaubenslosen Predigt. Alle wissen um die Fiktion, aber alle wissen auch um deren Notwendigkeit, keineswegs regiert der bloße Zynismus. Aber was dann? Unserem – nicht gerade gottsuchenden, aber gottumspielenden – Helden gefällt eine Bemerkung C. G. Jungs, er habe es nicht nötig, an Gott zu glauben, er wisse es. „Mir geht es genauso: Ich glaube nicht, aber ich weiß, dass es ihn gibt.“
Und tatsächlich hat er Epiphanien, Begegnungen mit Gott, an deren Realitätsgehalt er nicht zweifelt, aber es ist eine Realität, die ihn nicht weiter berührt. Auf den allerletzten Seiten erzählt der Doktor der Theologie Ernst-Thälmann Koch den DDR-Größen ein Märchen, dessen offenkundige Pointe darauf geht, dass der Gegner, den wir töten wollen, uns töten wird, dass wir also mit unseren Gegnern leben müssen. Und damit ist die letzte Wurst in den Köhlmeierschen Problemeintopf geschnitten.
„Ich besaß nie den Ehrgeiz,
ein guter Mensch zu werden.“
„Ich glaube nicht an Gott,
aber ich weiß, dass es ihn gibt.“
Der Held in Michael Köhlmeiers neuem Roman sieht den gestirnten Himmel über sich, hat aber kein moralisches Gesetz in sich und verkehrt mit Beelzebub (hier der fallende Satan in Gustave Dorés Illustration zu Miltons „Paradies Lost“).
FOTO: GETTY IMAGES
Michael Köhlmeier:
Die Abenteuer des Joel Spazierer. Roman. Hanser Verlag, München 2013.
656 Seiten, 24,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem neuen Roman „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ schickt Michael Köhlmeier seinen Helden
als einen leeren, glatten Spiegel durch die Welt – und packt ihm die Theologie in den Rucksack
VON STEPHAN SPEICHER
Früher gehörte zu einem richtigen Zirkusprogramm ein rechnendes Pferd. Das Publikum stellte eine leichte Aufgabe, zum Beispiel „Wie viel ist 3 + 4?“, darauf klopfte das Pferd zur Antwort sieben Mal mit dem Huf. Die Kinder staunten, die Erwachsenen ahnten, dass der Dompteur dem Pferd ein geheimes Zeichen gebe. Aber der „Kluge Hans“ konnte mehr. Dieses Pferd antwortete auch ohne Hilfe seines Herrn. Es waren die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, die experimentelle Psychologie nahm ihren Aufschwung, und so wurde der Fall von Psychologen der Berliner Universität untersucht. Das Ergebnis: Das Pferd beobachtete den Fragesteller. Es begann zu klopfen und hörte im rechten Moment auf, wenn der Fragesteller sich selbst unbewusst, aber dem Tier merklich signalisierte, dass jetzt die richtige Zahl der Hufschläge erreicht war.
Vom Klugen Hans erzählt auch Michael Köhlmeier in seinem neuen Roman „Die Abenteuer des Joel Spazierer“. Der Vater der Hauptfigur kennt diese schöne Geschichte, und sein Sohn begreift, „dass es bei der Beantwortung einer Frage nicht darauf ankommt, die Wahrheit zu sagen, als viel mehr, den Frager in Erstaunen zu versetzen, indem man genau das sagt, was er hören will“. Mit der Maxime kommt man weit, vor allem als Schelm; Köhlmeier verwendet selbst den Ausdruck „Schelmenroman“. Der Schelm bricht die Regeln, aber auf eine gelinde Weise; er gibt Zeit und Gesellschaft, wonach sie verlangen. Er muss nicht scharfsinnig sein, aber klug, Prinzipienstärke stört ihn beim Fortkommen, Geschmeidigkeit ist seine Methode.
So ist es auch bei Joel Spazierer, der als Andras Fülöp geboren wird und noch allerlei Namen übernehmen wird. Als kleiner Junge, nicht einmal vier Jahre ist er alt, werden die Großeltern, die ihn aufziehen, von der ungarischen Staatssicherheit abgeholt. Der Kleine bleibt allein zurück, für Tage. Jedes andere Kind wäre in Tränen und Entsetzen ausgebrochen, nicht so der kleine Andras. Er baut sich seine Welt und erinnert sich: „Ich fühlte mich stark – mehr als muskelstark: begnadet, auserwählt, mächtig und unbesiegbar.“ Etwas Unerschütterliches zeigt sich hier, das den zweifelhaften Helden und Ich-Erzähler bis zuletzt auszeichnen wird. Das ist das Besondere an diesem Roman und sein Problem.
Andras, er ist älter geworden, aber noch ein Kind, liegt in einer Sommernacht draußen auf dem Rücken, schaut in den Sternenhimmel, findet ihn auch „prächtig“ und kann sich dennoch „eine Zeitlang nicht gegen den Gedanken wehren, etwas weniger hätte es auch getan“. Unmöglich, so etwas zu lesen, ohne an das berühmte Wort Kants vom gestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir zu denken. Andras lässt sich von der Majestät der Natur so wenig beeindrucken wie von einer sittlichen Ordnung. Moralisch ist er unansprechbar. „Ich hatte keine Überzeugungen. Ich besaß nie den Ehrgeiz, ein guter Mensch zu werden.“ Und wenn es gerade hieß, im Schelmenroman würden die Regeln auf eine gelinde Weise gebrochen, so ist das für „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ nicht ganz richtig. Andras/Joel ist geschmeidig, aber seine Abenteuer umfassen wirkliche Verbrechen. Es ist etwas Böses an ihm. Früh schon will er den Tresor der Familie eines Schulfreundes knacken – das gehört zu den Lizenzen eines literarischen Schelms. Dabei von der Mutter seines Freundes überrascht, erschießt er sie, ohne etwa bedroht zu sein. Und er erschießt sie ohne Gemütsbewegung, ohne Schuldgefühl, aber erst recht ohne Sadismus. „Ich wusste, dass die Welt Reue von mir erwartete und wartete selbst auf diese Empfindung. (. . .) Ich empfand nichts.“ Später wird er einen zweiten Menschen, der ihm nahesteht, töten, und wieder ohne jegliches Gefühl.
Der Schelmenroman ist Roman der Gesellschaft, die die Hauptgestalt reüssieren lässt, er ist realistisch und deshalb auch psychologisch neugierig. In diesem Roman ist die Psychologie für die Umgebung reserviert, das Zentrum bleibt seelisch unbestimmt. Zu dieser seelischen Unbestimmtheit gehört, dass es dafür auch keine psychologische Erklärung gibt. Das Erlebnis des kleinen Jungen, über Tage verlassen zu sein, könnte ihn traumatisiert haben. Aber so ist es eben nicht; er hat das alles leicht hingenommen. „Keine Weinerlichkeit. Keine Angst. Keine Abschweifungen. Keine Empathie. Keine Wahrheit, keine Lüge.“ Mit neun Jahren macht er den Strichjungen für ältere Männer, auch das scheint keine Spuren zu hinterlassen.
Michael Köhlmeier ist ein gewandter Erzähler. Er hat einen Blick fürs Detail, auch dieses Buch schmökert man gern durch. Sein Held erlebt das kommunistische Ungarn, dann Österreich, die Schweiz, Westdeutschland, ein frühes Beispiel des Fundamentalliberalismus wird gegeben, später folgt die Studentenbewegung und die Welt der Drogen, darauf Mexiko, dann die untergehende DDR – ein schöner Bilderbogen. Umso merkwürdiger die Hauptfigur, die fest ist, aber leer, die sich behauptet, aber ohne ein Ziel, einen Wunsch, einen Grundsatz zu hegen, und die auch erotisch vergleichsweise unternehmungsschwach ist.
Gewiss, wer spiegeln will, muss blank sein. Aber könnte hinter der polierten Oberfläche nicht eine Person stehen, die aus der Außenseiterrolle ihre Eigentümlichkeiten entwickelt? Eine solch leere Figur wie Joel Spazierer ist literarisch heikel. Doch Köhlmeier scheint einen besonderen Zweck zu verfolgen, scheint das Zentrum seines Buches ausgehöhlt zu haben, um Raum zu schaffen für Übernatürliches. Was psychologisch fehlt, wird metaphysisch ausgefüllt. Denn wenn auch Joel Spazierer, wie sich Andras inzwischen nennt (ein jüdischer Name schützt vor Rückfragen), nie den Wunsch empfand, ein guter Mensch zu werden, so möchte er doch lernen, „zwischen Gut und Böse zu unterscheiden“ – was schon die Schlange im Paradies Eva empfahl: So werdet ihr sein wie Götter.
Der Roman ist voller theologischer Spuren, aber es ist nicht leicht, sie in einen schlüssigen Zusammenhang zu bringen. Der Ich-Erzähler beherbergt zeitweilig Katze, Marder und Rotkehlchen unter seinem Bett, halb Hexenküche, halb Paradiesgarten. Der Fliegengott – ein Beiname Beelzebubs, wie man aus „Faust I“ in Erinnerung hat – bekommt seine Auftritte, und es gibt weitere Anspielungen auf Faust und Mephisto. Immer wieder wird der Gedanke variiert, der auf die Kirchenväter, vor allem Augustinus, und weiter auf Platon zurückgeht, das Böse habe kein eigenes Sein, sei ein Mangelzustand. Und etwas Leeres ist um unseren Helden.
Das theologische Problem wird ausgerechnet in der DDR zu seinem Höhepunkt gesteigert. Als Geliebter einer italienischen Kommunistin aus reicher Familie hört Joel von Ernst Thälmann und beschließt, an dessen Heiligenlegende teilzuhaben. Er legt sich eine neue Identität als Enkel des berühmten Mannes zu und reist als Dr. theol. Koch, Vorname Ernst-Thälmann, in die DDR ein, um dort Asyl zu suchen. Ein Thälmann-Enkel, der fehlt gerade. Nach kurzer Irritation nimmt man ihn begeistert auf. Zwar macht sich niemand Illusionen über die Scharade. Aber die mürbe DDR ist in die Phase eingetreten, in der es nicht mehr darum geht, die „Zukunft zu verklären, sondern der Vergangenheit Glanz zu verleihen“. Das Erbe bedarf der „mythischen Erhebung“ im „dialektischen Sinn“.
Dass der Thälmann-Enkel sich als Doktor der Theologie vorstellt, lässt sich nutzen; flugs wird ihm ein Institut für wissenschaftlichen Atheismus gegründet. Dort hält er beliebte Vorlesungen, die sich mit „sozialistischer Transzendenz“ bzw. „kommunistischer Metaphysik“ befassen und Anlass geben zu fragen: „Wer glaubt an den Gott?“ Von dem Gott war bis dahin oft schon die Rede, immer mit dem bestimmten Artikel. Ein Christ würde den nicht verwenden, für ihn ist „Gott“ ein Name, nicht anders als Jesus. Was es bedeutet, Gott mit Artikel zu versehen, das wird in Ost-Berlin nun offen diskutiert. Der letzte der Diskutanten schlägt vor, darin die Ausdrucksweise des „monotheistischen Atheisten“ zu sehen, das dürfte auch die Haltung des Erzählers nicht schlecht treffen.
So enden die Abenteuer des Joel Spazierer in einer glaubenslosen Predigt. Alle wissen um die Fiktion, aber alle wissen auch um deren Notwendigkeit, keineswegs regiert der bloße Zynismus. Aber was dann? Unserem – nicht gerade gottsuchenden, aber gottumspielenden – Helden gefällt eine Bemerkung C. G. Jungs, er habe es nicht nötig, an Gott zu glauben, er wisse es. „Mir geht es genauso: Ich glaube nicht, aber ich weiß, dass es ihn gibt.“
Und tatsächlich hat er Epiphanien, Begegnungen mit Gott, an deren Realitätsgehalt er nicht zweifelt, aber es ist eine Realität, die ihn nicht weiter berührt. Auf den allerletzten Seiten erzählt der Doktor der Theologie Ernst-Thälmann Koch den DDR-Größen ein Märchen, dessen offenkundige Pointe darauf geht, dass der Gegner, den wir töten wollen, uns töten wird, dass wir also mit unseren Gegnern leben müssen. Und damit ist die letzte Wurst in den Köhlmeierschen Problemeintopf geschnitten.
„Ich besaß nie den Ehrgeiz,
ein guter Mensch zu werden.“
„Ich glaube nicht an Gott,
aber ich weiß, dass es ihn gibt.“
Der Held in Michael Köhlmeiers neuem Roman sieht den gestirnten Himmel über sich, hat aber kein moralisches Gesetz in sich und verkehrt mit Beelzebub (hier der fallende Satan in Gustave Dorés Illustration zu Miltons „Paradies Lost“).
FOTO: GETTY IMAGES
Michael Köhlmeier:
Die Abenteuer des Joel Spazierer. Roman. Hanser Verlag, München 2013.
656 Seiten, 24,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Das hier ist ein Schelmenroman, alles ist möglich, alles ist erfunden und wahr zugleich." Paul Jandl, Die Welt, 26.01.13
"Ein ungeheurer Wurf ... Was sind die Sünden des Herrn Spazierer, verglichen mit denen in Ehren verstorbener Regenten? Erdnüsschen. Köhlmeier reizt dieses Motiv nicht aus, aber es ist das eigentliche seines Buchs, mit dem er sich selbst übertroffen hat." Michael Maar, Die Zeit, 31.01.13
"Nicht anders sollte man diesen Roman lesen: Der Schelm hat sich bei Köhlmeier eine Unschuld bewahrt, die jederzeit die Schuld durchschauen kann. Diese Eigenschaft macht Joel Spazierer zur Romanfigur schlechthin. Vor diesem Hintergrund einer großen Komödie ist er Menschenfreund und Verbrecher in einem." Paul Jandl, Die Welt, 26.01.13
"Ein grandioser Wurf, eine der großartigsten Neuerscheinungen dieses Bücherfrühlings." Jutta Duhm-Heitzmann, WDR 5, 26.02.13
"Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Michael Köhlmeier ein großer Erzähler ist: Hier ist er. Mit seinem neuen Roman ist ihm das Kunststück gelungen, das Psychogramm eines wahrhaft bösen Buben zu zeichnen, der trotzdem sympathisch ist. ... Zum anderen entwirft er mit leichter Hand einen Abriss europäischer Geschichte der vergangenen 60 Jahre." Antje Weber, Süddeutsche Zeitung, 04.04.13
"Vom Erzähler Köhlmeier ist es nur ein kurzer Schritt zum Lyriker Köhlmeier, der im 'Zauberspruch' ein literarisches Selbstporträt liefert: 'Den Kopf in den Wolken und im Schoss'." Hansjörg Graf, Neue Zürcher Zeitung, 09.04.13
"Wie kommt man darauf, sich so ein liebenswertes Monster auszudenken? Wir bangen und hoffen, Spazierer möge es noch einmal schaffen, entkommen, überleben. Auch wenn er dafür noch einen Mord begehen muss." Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.01.13
"Ein ungeheurer Wurf ... Was sind die Sünden des Herrn Spazierer, verglichen mit denen in Ehren verstorbener Regenten? Erdnüsschen. Köhlmeier reizt dieses Motiv nicht aus, aber es ist das eigentliche seines Buchs, mit dem er sich selbst übertroffen hat." Michael Maar, Die Zeit, 31.01.13
"Nicht anders sollte man diesen Roman lesen: Der Schelm hat sich bei Köhlmeier eine Unschuld bewahrt, die jederzeit die Schuld durchschauen kann. Diese Eigenschaft macht Joel Spazierer zur Romanfigur schlechthin. Vor diesem Hintergrund einer großen Komödie ist er Menschenfreund und Verbrecher in einem." Paul Jandl, Die Welt, 26.01.13
"Ein grandioser Wurf, eine der großartigsten Neuerscheinungen dieses Bücherfrühlings." Jutta Duhm-Heitzmann, WDR 5, 26.02.13
"Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Michael Köhlmeier ein großer Erzähler ist: Hier ist er. Mit seinem neuen Roman ist ihm das Kunststück gelungen, das Psychogramm eines wahrhaft bösen Buben zu zeichnen, der trotzdem sympathisch ist. ... Zum anderen entwirft er mit leichter Hand einen Abriss europäischer Geschichte der vergangenen 60 Jahre." Antje Weber, Süddeutsche Zeitung, 04.04.13
"Vom Erzähler Köhlmeier ist es nur ein kurzer Schritt zum Lyriker Köhlmeier, der im 'Zauberspruch' ein literarisches Selbstporträt liefert: 'Den Kopf in den Wolken und im Schoss'." Hansjörg Graf, Neue Zürcher Zeitung, 09.04.13
"Wie kommt man darauf, sich so ein liebenswertes Monster auszudenken? Wir bangen und hoffen, Spazierer möge es noch einmal schaffen, entkommen, überleben. Auch wenn er dafür noch einen Mord begehen muss." Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.01.13