»Wenn ich meine Notizen und Aufzeichnungen zu Sherlock Holmes' Fällen zwischen 1882 und 1890 überfliege, stoße ich auf so viele, die seltsame und interessante Züge aufweisen, daß es mir nicht leicht wird, zu entscheiden, welche ich aufnehmen und welche ich ruhen lassen soll.« Dr. Watson berichtet von zwölf Fällen, in denen der Meisterdetektiv kuriose und geheimnisvolle Verbrechen löst. Obwohl er dabei wieder seine überragenden Fähigkeiten unter Beweis stellt, erlebt er auch eine herbe Niederlage.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.06.2008Das Studium des Verbrechens
Sherlock Holmes als unsterblicher Weggefährte
Ist es vorstellbar, dass sich eine Dreizehnjährige, ein Vierzehnjähriger am Beginn seiner Ichwerdung statt für Gedichte von Hölderlin oder Emily Dickinson, statt für Erzählungen von Hemingway oder Katherine Mansfield, statt für Romane von T.C. Boyle oder Simone de Beauvoir für einen Kriminalroman entscheidet? Könnte ein Kriminalroman jedem anderen Roman ebenbürtig sein, dessen poetische Wucht ein für alle Mal das Tor zur Welt der Bücher sprengt, in der wir dann ein tröstendes Echo vernehmen wie nirgendwo sonst im alltäglichen Lärm? Warum denn nicht? Abenteuerromane schaffen das ja auch. „Die Schatzinsel”, „Robinson Crusoe”, „Der Letzte der Mohikaner”, „Tom Sawyer und Huckleberry Finn” und hundert andere Bücher: Wegbereiter ins Offene, ins Leben im Inneren des Lebens.
„Pah, mein Lieber, was schert sich denn das Publikum, das große unaufmerksame Publikum, das nicht einmal einen Weber an seinem Zahn oder einen Setzer an seinem linken Daumen erkennen würde, um die feineren Nuancen von Analyse und Deduktion! Aber selbst wenn Sie ins Triviale geraten sind, kann ich Sie nicht tadeln, denn die Zeit der großen Fälle ist vorüber. Der Mensch, oder jedenfalls der verbrecherische Mensch, hat all seinen Unternehmungsgeist und seine Originalität verloren.” So sprach der vielleicht inspirierteste Detektiv der Kriminalliteratur, Sherlock Holmes, im Jahr 1892. Und der Vorwurf, sein Biograf – der einzige „Eckermann”, den das Genre je hervorgebracht hat – sei an manchen Stellen „ins Triviale geraten”, entspringt ausschließlich der Egozentrik und der Launenhaftigkeit des großen Deduzierers. Alles, was der ehemalige Militärarzt Dr. John H. Watson im Lauf der neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts an unerhörten, teils schauerlichen, teils erschütternden Fällen notiert hat, rührt an das Urmenschliche allen Erzählens. Es sind, so unterhaltend sie anmuten mögen, Werke voller profunder Ideen und Erkenntnisse.
Die Sammlung „Die Abenteuer des Sherlock Holmes” (Erzählungen. Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2007, 432 S., 10 Euro) bietet den perfekten Einstieg auch für Leser – egal welchen Alters –, die Krimis allenfalls im Fernsehen ertragen und von Romanen grundsätzlich mehr erwarten als Zerstreuung. In der neuen, bravourösen Übersetzung von Gisbert Haefs, dessen großes schriftstellerisches Talent ihn bei der Arbeit offensichtlich zusätzlich befeuerte, funkeln die Geschichten an allen Ecken und Enden. Ein wunderbar beschwingter Ton bringt auch im Deutschen den im Grunde unnachahmlichen, nach britischer Art ironisch-doppelbödigen Stil des Originals zur Geltung.
Die Dialoge und Monologe, von denen die Erzählungen nur so strotzen, wirken sehr zeitgemäß, obwohl Haefs auf jegliche Modernismen und drehbuchmäßige Verschnellerungstricks verzichtet hat. Zum Glück. So blieb die Atmosphäre der Alltagswelt im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert in London erhalten, der Duktus der Figuren entspricht vollkommen ihrer Gegenwart, und uns im 21. Jahrhundert erscheinen die Abenteuer weder abgenutzt noch lächerlich in ihrer phasenweisen Skurrilität, sondern auch unter heutigen Gesichtspunkten unbedingt plausibel und realitätsnah.
Nachdem Dr. Watson bei Holmes ausgezogen ist und sich eine Wohnung mit seiner zukünftigen Frau genommen hat, trennen sich die Wege der beide Freunde und Rätsellöser für eine Weile, dem Arzt fehlt vor lauter Verpflichtungen die Zeit für einen Besuch. „Holmes dagegen, der jede Form von Gesellschaft mit seiner ganzen Bohème-Seele verabscheute, blieb in unserer Behausung in der Baker Street, vergrub sich zwischen seinen alten Büchern und verbrachte die Wochen abwechselnd mit Kokain und Ehrgeiz, der Schläfrigkeit der Droge und der unbezähmbaren Tatkraft seines lebhaften Wesens. Wie zuvor zog ihn das Studium des Verbrechens zutiefst an.”
Doyles Kunstgriff war genial. Der Autor etablierte seinen Helden, den gern sich selbst bespiegelnden Sherlock Holmes, nicht aus der Sicht eines auktorialen Erzählers, sondern aus der Perspektive des nüchternen, in mancherlei Hinsicht fast naiv auftretenden Dr. Watson, der einige Belehrungen aushalten muss. „Sie sehen, aber Sie beobachten nicht.” Und wenn der Arzt vorschnell Schlüsse zieht, fährt ihm Holmes, genüsslich seine Kirschholz-Pfeife schmauchend, in die Parade. „Es ist ein schwerer Fehler, Theorien aufzustellen, bevor man Tatsachen hat. Dann fängt man unmerklich an, die Tatsachen zu verdrehen, bis sie zu den Theorien passen, statt die Theorien den Tatsachen anzupassen.”
Doch der Ich-Erzähler Watson folgt seinem Meister auch auf den scheinbar entlegensten Gedankengängen und begibt sich mit ihm ein ums andere Mal in bedrohliche Situationen, die etwa ohne den Einsatz eines Revolvers nicht zu bewältigen wären („Die Blutbuchen”). Denn diese Geschichten, in denen so viel gesprochen, diskutiert, deduziert und analysiert wird, sind reich an Handlung und atemberaubender Wendungen – wie geschaffen für alle, die gerade mit dem Abenteuer Lesen beginnen.
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Sherlock Holmes als unsterblicher Weggefährte
Ist es vorstellbar, dass sich eine Dreizehnjährige, ein Vierzehnjähriger am Beginn seiner Ichwerdung statt für Gedichte von Hölderlin oder Emily Dickinson, statt für Erzählungen von Hemingway oder Katherine Mansfield, statt für Romane von T.C. Boyle oder Simone de Beauvoir für einen Kriminalroman entscheidet? Könnte ein Kriminalroman jedem anderen Roman ebenbürtig sein, dessen poetische Wucht ein für alle Mal das Tor zur Welt der Bücher sprengt, in der wir dann ein tröstendes Echo vernehmen wie nirgendwo sonst im alltäglichen Lärm? Warum denn nicht? Abenteuerromane schaffen das ja auch. „Die Schatzinsel”, „Robinson Crusoe”, „Der Letzte der Mohikaner”, „Tom Sawyer und Huckleberry Finn” und hundert andere Bücher: Wegbereiter ins Offene, ins Leben im Inneren des Lebens.
„Pah, mein Lieber, was schert sich denn das Publikum, das große unaufmerksame Publikum, das nicht einmal einen Weber an seinem Zahn oder einen Setzer an seinem linken Daumen erkennen würde, um die feineren Nuancen von Analyse und Deduktion! Aber selbst wenn Sie ins Triviale geraten sind, kann ich Sie nicht tadeln, denn die Zeit der großen Fälle ist vorüber. Der Mensch, oder jedenfalls der verbrecherische Mensch, hat all seinen Unternehmungsgeist und seine Originalität verloren.” So sprach der vielleicht inspirierteste Detektiv der Kriminalliteratur, Sherlock Holmes, im Jahr 1892. Und der Vorwurf, sein Biograf – der einzige „Eckermann”, den das Genre je hervorgebracht hat – sei an manchen Stellen „ins Triviale geraten”, entspringt ausschließlich der Egozentrik und der Launenhaftigkeit des großen Deduzierers. Alles, was der ehemalige Militärarzt Dr. John H. Watson im Lauf der neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts an unerhörten, teils schauerlichen, teils erschütternden Fällen notiert hat, rührt an das Urmenschliche allen Erzählens. Es sind, so unterhaltend sie anmuten mögen, Werke voller profunder Ideen und Erkenntnisse.
Die Sammlung „Die Abenteuer des Sherlock Holmes” (Erzählungen. Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2007, 432 S., 10 Euro) bietet den perfekten Einstieg auch für Leser – egal welchen Alters –, die Krimis allenfalls im Fernsehen ertragen und von Romanen grundsätzlich mehr erwarten als Zerstreuung. In der neuen, bravourösen Übersetzung von Gisbert Haefs, dessen großes schriftstellerisches Talent ihn bei der Arbeit offensichtlich zusätzlich befeuerte, funkeln die Geschichten an allen Ecken und Enden. Ein wunderbar beschwingter Ton bringt auch im Deutschen den im Grunde unnachahmlichen, nach britischer Art ironisch-doppelbödigen Stil des Originals zur Geltung.
Die Dialoge und Monologe, von denen die Erzählungen nur so strotzen, wirken sehr zeitgemäß, obwohl Haefs auf jegliche Modernismen und drehbuchmäßige Verschnellerungstricks verzichtet hat. Zum Glück. So blieb die Atmosphäre der Alltagswelt im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert in London erhalten, der Duktus der Figuren entspricht vollkommen ihrer Gegenwart, und uns im 21. Jahrhundert erscheinen die Abenteuer weder abgenutzt noch lächerlich in ihrer phasenweisen Skurrilität, sondern auch unter heutigen Gesichtspunkten unbedingt plausibel und realitätsnah.
Nachdem Dr. Watson bei Holmes ausgezogen ist und sich eine Wohnung mit seiner zukünftigen Frau genommen hat, trennen sich die Wege der beide Freunde und Rätsellöser für eine Weile, dem Arzt fehlt vor lauter Verpflichtungen die Zeit für einen Besuch. „Holmes dagegen, der jede Form von Gesellschaft mit seiner ganzen Bohème-Seele verabscheute, blieb in unserer Behausung in der Baker Street, vergrub sich zwischen seinen alten Büchern und verbrachte die Wochen abwechselnd mit Kokain und Ehrgeiz, der Schläfrigkeit der Droge und der unbezähmbaren Tatkraft seines lebhaften Wesens. Wie zuvor zog ihn das Studium des Verbrechens zutiefst an.”
Doyles Kunstgriff war genial. Der Autor etablierte seinen Helden, den gern sich selbst bespiegelnden Sherlock Holmes, nicht aus der Sicht eines auktorialen Erzählers, sondern aus der Perspektive des nüchternen, in mancherlei Hinsicht fast naiv auftretenden Dr. Watson, der einige Belehrungen aushalten muss. „Sie sehen, aber Sie beobachten nicht.” Und wenn der Arzt vorschnell Schlüsse zieht, fährt ihm Holmes, genüsslich seine Kirschholz-Pfeife schmauchend, in die Parade. „Es ist ein schwerer Fehler, Theorien aufzustellen, bevor man Tatsachen hat. Dann fängt man unmerklich an, die Tatsachen zu verdrehen, bis sie zu den Theorien passen, statt die Theorien den Tatsachen anzupassen.”
Doch der Ich-Erzähler Watson folgt seinem Meister auch auf den scheinbar entlegensten Gedankengängen und begibt sich mit ihm ein ums andere Mal in bedrohliche Situationen, die etwa ohne den Einsatz eines Revolvers nicht zu bewältigen wären („Die Blutbuchen”). Denn diese Geschichten, in denen so viel gesprochen, diskutiert, deduziert und analysiert wird, sind reich an Handlung und atemberaubender Wendungen – wie geschaffen für alle, die gerade mit dem Abenteuer Lesen beginnen.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Für Friedrich Ani sind die Sherlock-Holmes-Kriminalerzählungen von Arthur Conan Doyle überhaupt ein idealer Einstieg in die Welt des Lesens, und er zeigt sich zudem von der Neuübersetzung von Gisbert Haefs restlos begeistert. Haefs, dessen schriftstellerischen Qualitäten bei der Übertragung voll zur Geltung kommen, wie der Rezensent preist, gelinge das Kunststück, die Kriminalerzählungen "zeitgemäß" und frisch klingen zu lassen und sie zugleich überzeugend im London Ende des 19. Jahrhunderts zu verankern, freut sich Ani. An Conan Doyles Erzählungen beeindruckt Ani stets aufs Neue die ausgeklügelte Erzählperspektive, den inspirierten Holmes durch die Augen des sehr viel nüchterner und naiver wirkenden Watson zu zeigen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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