Produktdetails
- Verlag: Köln : Komet
- ISBN-13: 9783898363235
- Artikelnr.: 23983984
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.04.2010Der Mann, der keine Könige mochte
Vor 100 Jahren starb der Dampfschifflotse, Wanderdrucker und erste wahrhaft amerikanische Schriftsteller Mark Twain
Im Alter von dreißig Jahren hatte Samuel Langhorne Clemens schon einiges hinter sich. Aus einem kleinen Dorf am Mississippi stammend, musste er nach dem Tod seines Vaters frühzeitig als Botenjunge und Gehilfe eines Schmieds zum Unterhalt der Familie beitragen, wurde Lehrling in einer Druckerei, brannte mit achtzehn durch, hielt es nirgends lange aus, ging als Drucker, Reporter und Zeitungsmann in den Osten der USA, dann weit in den Westen, der eben erst anfing, der Wilde zu werden, zunächst nach Iowa, dann in die neuen Goldgräberstädte Nevadas und Kaliforniens. Zwischendrin lagen einige Jahre, die er als Lotse auf den Schaufelraddampfern des Mississippi verbrachte, ein Job, der wichtiger und angesehener war als der des Kapitäns, denn beim Lotsen lag die Verantwortung, das Schiff sicher über die wandernden Untiefen des immer launischen Stroms zu führen. Vor kurzem erst hatte er sich ein Pseudonym zugelegt, Mark Twain, und damit der Welt verkündet, dass er sich ihr nunmehr vor allem als Autor zu präsentieren gedachte.
Jetzt, im Jahr 1866, erhielt er eine Gelegenheit, die sich als der Wendepunkt seiner Karriere erweisen sollte: Der „Sacramento Union”, eine kalifornische Zeitung, entsandte ihn auf der soeben eingerichteten Dampfschifflinie quer über den Pazifischen Ozean als Korrespondenten nach Hawaii. (Erst jetzt ist das Journal dieser Reise auf Deutsch beim Mare-Verlag erschienen.) Druckmaschinen und Dampfschiffe: Diese zwei eminenten Vehikel des Fortschritts, diese Beschleuniger des Reisens und Publizierens faszinierten Mark Twain bis an sein Lebensende. Zweiundzwanzigmal wird er zuletzt den Atlantik per Dampfer überquert haben; und noch in reifen Jahren ruinierte er sich vollkommen mit der Investition für eine Druckmaschine, die beim Probelauf auseinanderflog.
In Hawaii liefen die Dinge anders als in den Prairien, wo die Eingeborenen unter die Räder der westwärts vordringenden Planwagen gerieten. Hier hatte es ein einheimischer Häuptling, Kamehameha der Große, geschafft, unter Zuhilfenahme europäischer Feuerwaffen einen zentral regierten Staat zu errichten. Mark Twain berichtet von den hawaianischen Mädchen, die kühn den Strand von Honolulu entlangreiten und nackt in der Brandung baden, ein so gewöhnlicher Anblick, dass nicht einmal mehr die prüden Weißen herschauen.
Doch was ihn wirklich in den Bann schlägt, ist die Tatsache, dass sich dieses Land als Monarchie europäischen Zuschnitts organisiert hat. „Ich hatte noch nie zuvor einen König gesehen.” Den Kronprinzen trifft er sogar persönlich. „Er hatte ein recht freundliches Gesicht und die beste Nase im ganzen Königreich, ob weiß oder braun. Ein prachtvoller Zinken, auf den er stolz sein kann. Er hat allerdings e i n e n großen Fehler – er ist ein Gewohnheitstrinker (. . . ) Wenn ich eine Predigt schreiben könnte, ihn zu bekehren, würde ich dies mit Freuden tun.”
So fasst Mark Twain in einer Geste des Spotts zwei Berufsstände zusammen, zu denen er sein ganzes Leben hindurch ein schwieriges Verhältnis hatte: Monarchen und Geistliche. Das segensreiche Wirken der Missionare auf Hawaii kommentiert er: "Wie entsetzlich, wenn man bedenkt, das Abertausende auf dieser schönen Insel in ihr Grab sanken, ohne zu ahnen, dass es eine Hölle gibt!" Das geschieht nun nicht mehr, die christlichen Kirchen haben festen Fuß gefasst und verleiden den Hawaianern so nach und nach alles, was ihnen Spaß macht.
Seine eigene Bekehrung zum Besseren sollte ihn gleichwohl schon bald ereilen. Hals über Kopf verliebt er sich in eine zehn Jahre jüngere Frau, von der er vorerst nichts als ein Porträt auf einem Porzellan-Medaillon zu sehen bekommt: Olivia Langdon, von ihm zärtlich „Livy” genannt. Sie heiraten 1870. Seine Briefe an sie sind erfüllt von einem romantischen Überschwang, über den zu lästern er in seinen veröffentlichten Werken wohl schwerlich unterlassen hätte, wäre er ihm bei einem Anderen begegnet.
Twain ist damals schon ein renommierter Vortragskünstler, mit seinen Reportagen aus Hawaii hat er den Durchbruch geschafft; in dieser Zeit vor der Erfindung der bild- und tontragenden Massenmedien füllt er die größten Theatersäle. Aber Manieren hat er immer noch keine. Seiner Frau zuliebe bringt er jedoch die größten Opfer. Er schwört ihr, nicht mehr zu fluchen, er sitzt nunmehr anständig auf einem Sessel und fläzt sich nicht mehr nach westlicher Art formlos hinein, er hört auf, Whiskey zu trinken. Nur um Eines fleht er sie an: Sie möge ihm weiterhin das m ä ß i g e Rauchen gestatten.
„Nein, liebe Livy, ich werde das Rauchen ebenso behandeln wie den Zeigefinger meiner linken Hand: Wenn Du mich ernsthaft darum bitten würdest, diesen Finger abzuhacken, & ich wüsste, dass Du es wirklich ernst meinst, & glaubte, dass dieser Finger meinem Wohlergehen auf irgendeine geheimnisvolle Art und Weise im Weg stünde, & wenn es mir klar wäre, dass Du nicht vollkommen zufrieden & glücklich sein könntest, solange er an meiner Hand bliebe, dann gebe ich Dir mein Wort, dass ich ihn abschneiden würde.”
Das heißt: Bitte bitte mich nicht! Livy hatte dann doch ein Einsehen. Für sich und seine wachsende Familie baut er ein großes luxuriöses Haus in Hartford, Connecticut, und mausert sich zum respektierten Bürger der neuenglischen Gesellschaft. Aber noch einmal kehrt er Mitte der 1870er-Jahre an den Ort seines Ursprungs zurück, an den großen Mississippi. Dort findet er die Inspiration für die drei Werke, die seinen dauernden Ruhm begründen sollten: „Life on the Mississippi”, „The Adventures of Tom Sawyer”, „The Adventures of Huckleberry Finn”.
Die Biografie des Stroms fällt für ihn zwei deutlich getrennte Hälften auseinander, eine vorgeschichtliche und eine geschichtliche. Die Vorgeschichte setzt ein im 17. Jahrhundert, als die Europäer, genauer die Franzosen, erstmals den Mississippi befahren und das ganze Gebiet für den Sonnenkönig in Besitz nehmen, ein Anspruch, den Twain für hochfahrend und lächerlich erklärt. Er zieht es vor, statt von Ludwig XIV. von Ludwig dem Fauligen zu sprechen, oder auch vom Sultan von Versailles.
Die Geschichte des Mississippi im engeren Sinn beginnt für ihn erst, als amerikanische Siedler, die die Appalachen überqueren, das Land wahrhaft erschließen und sich fest niederlassen. Denn hier waren es nicht anmaßende Emissäre, sondern die Nation selbst, die sich in Bewegung setzte. Der Hohn, den Mark Twain ziemlich einförmig über die Volksvertreter ausgießt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, wie tief er an das amerikanische Volk und dessen demokratische Gesinnung glaubte.
Als Twain seine Bücher in den Siebziger- und Achtzigerjahren schreibt, liegt auch diese Zeit der Landnahme schon weit zurück; aber wiederum nicht so weit, dass sie sich für ihn nicht auf wehmütige Weise mit seinen eigenen Kindheits- und Jugenderinnerungen verbände. Die beiden Bücher über Tom Sawyer und Huck Finn gehören eng zusammen, sie werden auch stets im selben Atemzug genannt, und zwar meist so, als wäre das zweite eine Art Anhängsel des ersten. Dabei verhält es sich umgekehrt: Tom Sawyer darf als eine Vorübung und Einleitung gelten. Tom ist zwar ein notorischer Frechdachs, aber letzten Endes doch ein braver Bürgerssohn, eine Art Michel von Lönneberga der Neuen Welt. Ihm steht ein stramm auktorialer Erzähler zur Seite, der schon durch seine manierliche Darstellung dafür sorgt, dass die Dinge nicht aus dem Ruder laufen.
Dagegen erhebt im zweiten Buch der Landstreicher Huck seine unordentliche Stimme. Erstzmals spricht Amerika selbst, ohne des europäisch geschulten Mundstücks zu bedürfen. Und es geht nicht mehr um Jungestreiche, sondern um wirklich wichtige Dinge: Wird es Hucks Begleiter, dem geflohenen schwarzen Sklaven Jim, gelingen, seine Freiheit zu erkämpfen, oder fällt er seinen Verfolgern in die Hände? Huck leidet Gewissensqualen, weil er die ungeheuerliche Sünde begeht, einen Nigger zu stehlen, der doch Eigentum der Witwe Douglas ist. Schließlich entscheidet er sich, er wolle in Gottesnamen zur Hölle fahren - aber Jim lässt er nicht im Stich. So fahren sie weiter versteckt und bei Nacht den großen Strom hinab und leben von der Hand in den Mund. Dabei, sinniert Jim, wäre er doch eigentlich ein reicher Mann; denn er brächte auf dem Markt leicht seine achthundert Dollar ein.
Tom Sawyer macht seinen Übersetzern wenig Mühe, keine größere jedenfalls als den Lehrern in der Sonntagsschule; aber was Huckleberry Finn zu berichten hat, das stellt eine echte Herausforderung dar. Eine Zeitlang lassen sich Huck und Jim von zwei Schwindlern begleiten, die ihr hinterwäldlerisches Publikum beeindrucken, indem sie zum sichersten Mittel überhaupt greifen: Sie behaupten, königlichen Geblütes zu sein! Erst gibt der eine sich als Herzog zu erkennen, was der andere sogleich zu übertrumpfen versucht. Im Original liest sich die Szene so:
„,Bilgewater, kin I trust you?’ says the old man, still sort of sobbing.
,To the bitter death!’ He took the old man by the hand and squeezed it, and says, ,That secret of your being: speak!’
,Bilgewater, I am the late Dauphin!’”
Hier lässt Mark Twain seiner Geringschätzung für die monarchischen Traditionen Europas ebenso wie für den schafsmäßigen Respekt, den seine Landsleute diesen erweisen, freien humoristischen Lauf. Andreas Nohl, der rechtzeitig zu Twains hundertstem Todestag eine Neuübersetzung bei Hanser vorlegt, macht daraus: „,Bilgewater, kann ich Ihnen vertrauen?’, sagte der alte Mann immer noch schluchzend. ,Bis zum bitteren Tod!’ Er nahm die Hand des alten Mannes, drückte sie und sagte: ,Das Geheimnis Ihres Daseins – sprechen Sie!’,Bilgewater, ich bin der ehemalige Delphin!’”
Das ist korrekt und solide, möglicherweise etwas harthörig gegen die feinen Tonkontraste. Originell ist jedoch die Erfindung des „Delphins”, mit dem sich Nohl ein summarisches Äquivalent für die Fehlleistungen der zwei Halunken beim Griff ins hohe Register ausgedacht hat. Der Diogenes-Verlag hat, ebenfalls pünktlich zum Jubiläum, die alte Übersetzung von Lore Krüger wieder zu Ehren gebracht (sie allerdings leider mit den betulichen Bleistift-Zeichnungen von Tatjana Hauptmann illustriert). Dort liest man: „,Bilgewater, kann ich dir trauen?’, fragte der Alte und schluchzte immer noch. ,Bis in den bittren Tod!’ Er nahm den Alten bei der Hand, drückte sie und sagte: ,Das Geheimnis deines Seins: Sprich!’,Bilgewater, ich bin der verstorbene Dauphin!’” Der verstorbene Dauphin, das ist es! Es nimmt der Frechheit der Akteure und der Leichtgläubigkeit der Zuschauer genau jenes Maß, das Twain im Sinn hatte.
Mark Twain schrieb nach dem Huckleberry Finn noch ein Vierteljahrhundert lang viele Bücher, aber dessen Rang dürfte er nicht wieder erreicht haben. Der Manesse-Verlag hat einen vergessenen Roman ausgegraben, den „Knallkopf Wilson” – „Pudd’nhead Wilson”; doch obwohl man natürlich auch hier immer wieder an der Klaue den Löwen erkennt (der sich inzwischen zum an Locken und Brauen stark bebuschten Salonlöwen entwickelt hatte), muss man es dennoch für ein selbstgerechtes Werklein erklären, das die Gleichheit aller Menschen einschließlich der Schwarzen durch einen hochgradig unwahrscheinlichen Verwechslungs-Plot moralisierend zu erweisen sucht.
Das Beste daran sind die Maximen aus Knallkopf Wilsons Hauskalender, von denen die einzelnen Kapitel eingeleitet werden. „Der auffälligste Unterschied zwischen einer Katze und einer Lüge”, heißt es da, „ist, dass eine Katze nur neun Leben hat.” Oder: „Warum freuen wir uns bei einer Geburt und trauern bei einem Begräbnis? Weil wir nicht die Personen sind, um die es geht.”
Den allseits beliebten Humoristen wollte Twain immer weniger geben; der Sarkasmus, seinem Witz immer nah, gewinnt an Schärfe. Noch immer war er berühmt, umworben und prinzipiell sehr wohlhabend; aber er wirtschaftete schlecht, kam aus den Schulden nicht heraus, fühlte sich durch die Vortragsreisen zunehmend ausgelaugt und musste zudem viel privates Unglück tragen. Von den drei Töchtern, die das Kleinkindalter überlebt hatten, starb eine an Hirnhautentzündung, eine andere, die ihm liebste, bei einem epileptischen Anfall in der Badewanne; die dritte ging, zu seinem Schmerz, ihre eigenen Wege. Endlich starb auch noch die geliebte Livy.
Doch wandte er sich in seinen letzten Lebensjahren noch einmal anderen Zielen zu. Nachdrücklicher als zuvor bezog er Stellung zu zeitgenössischen Geschehnissen, zum brutalen Krieg der Engländer gegen die Buren in Südafrika, zur misslingenden amerikanischen Kolonialpolitik auf den Philippinen. Man braucht das Wort „Philippinen” bei Twain nur gegen das andere, „Vietnam”, zu ersetzen, um zu erkennen, dass dieselben Fehler immer wieder gemacht werden wollen. Und vor allem fand er denjenigen, den er vielleicht immer schon gesucht und der sich ihm bis dahin hartnäckig entzogen hatte, den einen großen Feind, den zu hassen sich wahrhaft lohnte. Es war natürlich ein König: Leopold II. von Belgien.
Das heute wenig bekannte „Selbstgespräch König Leopolds” führt den Monarchen vor, wie er in seinen privaten Gemächern mit höchstem Unwillen durch die Pamphlete blättert, die ihm gelten. Leopold hatte in Zentralafrika, mit Duldung und Billigung aller Mächte einschließlich der Vereinigten Staaten, sein Privatreich gegründet, den „Kongo-Freistaat”, in dem ihm schlechterdings alles bis hinab zu den Nahrungsmitteln seiner Untertanen gehörte. Seine Kongo-Gesellschaft plünderte das Land mit grenzenloser Gier, Schätzungen sprachen von zehn bis fünfzehn Millionen Toten durch Exekutionen, Erschöpfung, Hunger und Kannibaliusmus. Dies alles erfährt man aus Mark Twains Text, jedoch stets so, dass es dem König selbst in den Mund gelegt wird. „Und selbst wenn es zuträfe: Es ist doch Verleumdung, wenn man es gegen einen K ö n i g äußert!” Dazu fasst er das schwere Kruzifix, das er um den Hals trägt, und „küsst es hastig”.
An diesem späten Punkt seines Lebens fängt Mark Twain noch einmal etwas ganz Neues an. Twain ist wohl der Erste überhaupt, der zu Hybrid- und Montageformen greift, um das dokumentarische Material des noch jungen finsteren Jahrhunderts zu dramatisieren. Seiner Spur wird ein rundes Jahrzehnt später Karl Kraus folgen (der Mark Twain sonst durchaus nicht schätzte), als er auf den Ersten Weltkrieg mit dem Monsterwerk „Die Letzten Tage der Menschheit” reagiert. Twains Ein-Personen-Dramolett endet mit der Frage: Darf man einen König hängen? Seine Antwort, wenig überraschend: Aber ja!
Am 21. April 1910 ist Mark Twain im Alter von 74 Jahren gestorben.
BURKHARD MÜLLER
MARK TWAIN: Post aus Hawaii. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Alexander Pechmann. Mare Verlag, Hamburg 2010. 355 Seiten, 24 Euro.
MARK TWAIN: Sommerwogen. Eine Liebe in Briefen. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Alexander Pechmann. Aufbau Verlag, Berlin 2010, 303 Seiten, 16,95 Euro.
MARK TWAIN: Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Andreas Nohl. Hanser Verlag, München 2010. 711 Seiten, 34,90 Euro.
MARK TWAIN: Tom Sawyers Abenteuer / Huckleberry Finns Abenteuer. Aus dem Englischen übersetzt von Lore Krüger. Mit Bildern von Tatjana Hauptmann. Diogenes Verlag, Zürich 2010. 2 Bände, zus. 798 Seiten, 29,90 Euro.
MARK TWAIN: Knallkopf Wilson. Eine Geschichte. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. Mit einem Nachwort von Manfred Pfister. Manesse Verlag, Zürich 2010. 318 Seiten, 19,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Vor 100 Jahren starb der Dampfschifflotse, Wanderdrucker und erste wahrhaft amerikanische Schriftsteller Mark Twain
Im Alter von dreißig Jahren hatte Samuel Langhorne Clemens schon einiges hinter sich. Aus einem kleinen Dorf am Mississippi stammend, musste er nach dem Tod seines Vaters frühzeitig als Botenjunge und Gehilfe eines Schmieds zum Unterhalt der Familie beitragen, wurde Lehrling in einer Druckerei, brannte mit achtzehn durch, hielt es nirgends lange aus, ging als Drucker, Reporter und Zeitungsmann in den Osten der USA, dann weit in den Westen, der eben erst anfing, der Wilde zu werden, zunächst nach Iowa, dann in die neuen Goldgräberstädte Nevadas und Kaliforniens. Zwischendrin lagen einige Jahre, die er als Lotse auf den Schaufelraddampfern des Mississippi verbrachte, ein Job, der wichtiger und angesehener war als der des Kapitäns, denn beim Lotsen lag die Verantwortung, das Schiff sicher über die wandernden Untiefen des immer launischen Stroms zu führen. Vor kurzem erst hatte er sich ein Pseudonym zugelegt, Mark Twain, und damit der Welt verkündet, dass er sich ihr nunmehr vor allem als Autor zu präsentieren gedachte.
Jetzt, im Jahr 1866, erhielt er eine Gelegenheit, die sich als der Wendepunkt seiner Karriere erweisen sollte: Der „Sacramento Union”, eine kalifornische Zeitung, entsandte ihn auf der soeben eingerichteten Dampfschifflinie quer über den Pazifischen Ozean als Korrespondenten nach Hawaii. (Erst jetzt ist das Journal dieser Reise auf Deutsch beim Mare-Verlag erschienen.) Druckmaschinen und Dampfschiffe: Diese zwei eminenten Vehikel des Fortschritts, diese Beschleuniger des Reisens und Publizierens faszinierten Mark Twain bis an sein Lebensende. Zweiundzwanzigmal wird er zuletzt den Atlantik per Dampfer überquert haben; und noch in reifen Jahren ruinierte er sich vollkommen mit der Investition für eine Druckmaschine, die beim Probelauf auseinanderflog.
In Hawaii liefen die Dinge anders als in den Prairien, wo die Eingeborenen unter die Räder der westwärts vordringenden Planwagen gerieten. Hier hatte es ein einheimischer Häuptling, Kamehameha der Große, geschafft, unter Zuhilfenahme europäischer Feuerwaffen einen zentral regierten Staat zu errichten. Mark Twain berichtet von den hawaianischen Mädchen, die kühn den Strand von Honolulu entlangreiten und nackt in der Brandung baden, ein so gewöhnlicher Anblick, dass nicht einmal mehr die prüden Weißen herschauen.
Doch was ihn wirklich in den Bann schlägt, ist die Tatsache, dass sich dieses Land als Monarchie europäischen Zuschnitts organisiert hat. „Ich hatte noch nie zuvor einen König gesehen.” Den Kronprinzen trifft er sogar persönlich. „Er hatte ein recht freundliches Gesicht und die beste Nase im ganzen Königreich, ob weiß oder braun. Ein prachtvoller Zinken, auf den er stolz sein kann. Er hat allerdings e i n e n großen Fehler – er ist ein Gewohnheitstrinker (. . . ) Wenn ich eine Predigt schreiben könnte, ihn zu bekehren, würde ich dies mit Freuden tun.”
So fasst Mark Twain in einer Geste des Spotts zwei Berufsstände zusammen, zu denen er sein ganzes Leben hindurch ein schwieriges Verhältnis hatte: Monarchen und Geistliche. Das segensreiche Wirken der Missionare auf Hawaii kommentiert er: "Wie entsetzlich, wenn man bedenkt, das Abertausende auf dieser schönen Insel in ihr Grab sanken, ohne zu ahnen, dass es eine Hölle gibt!" Das geschieht nun nicht mehr, die christlichen Kirchen haben festen Fuß gefasst und verleiden den Hawaianern so nach und nach alles, was ihnen Spaß macht.
Seine eigene Bekehrung zum Besseren sollte ihn gleichwohl schon bald ereilen. Hals über Kopf verliebt er sich in eine zehn Jahre jüngere Frau, von der er vorerst nichts als ein Porträt auf einem Porzellan-Medaillon zu sehen bekommt: Olivia Langdon, von ihm zärtlich „Livy” genannt. Sie heiraten 1870. Seine Briefe an sie sind erfüllt von einem romantischen Überschwang, über den zu lästern er in seinen veröffentlichten Werken wohl schwerlich unterlassen hätte, wäre er ihm bei einem Anderen begegnet.
Twain ist damals schon ein renommierter Vortragskünstler, mit seinen Reportagen aus Hawaii hat er den Durchbruch geschafft; in dieser Zeit vor der Erfindung der bild- und tontragenden Massenmedien füllt er die größten Theatersäle. Aber Manieren hat er immer noch keine. Seiner Frau zuliebe bringt er jedoch die größten Opfer. Er schwört ihr, nicht mehr zu fluchen, er sitzt nunmehr anständig auf einem Sessel und fläzt sich nicht mehr nach westlicher Art formlos hinein, er hört auf, Whiskey zu trinken. Nur um Eines fleht er sie an: Sie möge ihm weiterhin das m ä ß i g e Rauchen gestatten.
„Nein, liebe Livy, ich werde das Rauchen ebenso behandeln wie den Zeigefinger meiner linken Hand: Wenn Du mich ernsthaft darum bitten würdest, diesen Finger abzuhacken, & ich wüsste, dass Du es wirklich ernst meinst, & glaubte, dass dieser Finger meinem Wohlergehen auf irgendeine geheimnisvolle Art und Weise im Weg stünde, & wenn es mir klar wäre, dass Du nicht vollkommen zufrieden & glücklich sein könntest, solange er an meiner Hand bliebe, dann gebe ich Dir mein Wort, dass ich ihn abschneiden würde.”
Das heißt: Bitte bitte mich nicht! Livy hatte dann doch ein Einsehen. Für sich und seine wachsende Familie baut er ein großes luxuriöses Haus in Hartford, Connecticut, und mausert sich zum respektierten Bürger der neuenglischen Gesellschaft. Aber noch einmal kehrt er Mitte der 1870er-Jahre an den Ort seines Ursprungs zurück, an den großen Mississippi. Dort findet er die Inspiration für die drei Werke, die seinen dauernden Ruhm begründen sollten: „Life on the Mississippi”, „The Adventures of Tom Sawyer”, „The Adventures of Huckleberry Finn”.
Die Biografie des Stroms fällt für ihn zwei deutlich getrennte Hälften auseinander, eine vorgeschichtliche und eine geschichtliche. Die Vorgeschichte setzt ein im 17. Jahrhundert, als die Europäer, genauer die Franzosen, erstmals den Mississippi befahren und das ganze Gebiet für den Sonnenkönig in Besitz nehmen, ein Anspruch, den Twain für hochfahrend und lächerlich erklärt. Er zieht es vor, statt von Ludwig XIV. von Ludwig dem Fauligen zu sprechen, oder auch vom Sultan von Versailles.
Die Geschichte des Mississippi im engeren Sinn beginnt für ihn erst, als amerikanische Siedler, die die Appalachen überqueren, das Land wahrhaft erschließen und sich fest niederlassen. Denn hier waren es nicht anmaßende Emissäre, sondern die Nation selbst, die sich in Bewegung setzte. Der Hohn, den Mark Twain ziemlich einförmig über die Volksvertreter ausgießt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, wie tief er an das amerikanische Volk und dessen demokratische Gesinnung glaubte.
Als Twain seine Bücher in den Siebziger- und Achtzigerjahren schreibt, liegt auch diese Zeit der Landnahme schon weit zurück; aber wiederum nicht so weit, dass sie sich für ihn nicht auf wehmütige Weise mit seinen eigenen Kindheits- und Jugenderinnerungen verbände. Die beiden Bücher über Tom Sawyer und Huck Finn gehören eng zusammen, sie werden auch stets im selben Atemzug genannt, und zwar meist so, als wäre das zweite eine Art Anhängsel des ersten. Dabei verhält es sich umgekehrt: Tom Sawyer darf als eine Vorübung und Einleitung gelten. Tom ist zwar ein notorischer Frechdachs, aber letzten Endes doch ein braver Bürgerssohn, eine Art Michel von Lönneberga der Neuen Welt. Ihm steht ein stramm auktorialer Erzähler zur Seite, der schon durch seine manierliche Darstellung dafür sorgt, dass die Dinge nicht aus dem Ruder laufen.
Dagegen erhebt im zweiten Buch der Landstreicher Huck seine unordentliche Stimme. Erstzmals spricht Amerika selbst, ohne des europäisch geschulten Mundstücks zu bedürfen. Und es geht nicht mehr um Jungestreiche, sondern um wirklich wichtige Dinge: Wird es Hucks Begleiter, dem geflohenen schwarzen Sklaven Jim, gelingen, seine Freiheit zu erkämpfen, oder fällt er seinen Verfolgern in die Hände? Huck leidet Gewissensqualen, weil er die ungeheuerliche Sünde begeht, einen Nigger zu stehlen, der doch Eigentum der Witwe Douglas ist. Schließlich entscheidet er sich, er wolle in Gottesnamen zur Hölle fahren - aber Jim lässt er nicht im Stich. So fahren sie weiter versteckt und bei Nacht den großen Strom hinab und leben von der Hand in den Mund. Dabei, sinniert Jim, wäre er doch eigentlich ein reicher Mann; denn er brächte auf dem Markt leicht seine achthundert Dollar ein.
Tom Sawyer macht seinen Übersetzern wenig Mühe, keine größere jedenfalls als den Lehrern in der Sonntagsschule; aber was Huckleberry Finn zu berichten hat, das stellt eine echte Herausforderung dar. Eine Zeitlang lassen sich Huck und Jim von zwei Schwindlern begleiten, die ihr hinterwäldlerisches Publikum beeindrucken, indem sie zum sichersten Mittel überhaupt greifen: Sie behaupten, königlichen Geblütes zu sein! Erst gibt der eine sich als Herzog zu erkennen, was der andere sogleich zu übertrumpfen versucht. Im Original liest sich die Szene so:
„,Bilgewater, kin I trust you?’ says the old man, still sort of sobbing.
,To the bitter death!’ He took the old man by the hand and squeezed it, and says, ,That secret of your being: speak!’
,Bilgewater, I am the late Dauphin!’”
Hier lässt Mark Twain seiner Geringschätzung für die monarchischen Traditionen Europas ebenso wie für den schafsmäßigen Respekt, den seine Landsleute diesen erweisen, freien humoristischen Lauf. Andreas Nohl, der rechtzeitig zu Twains hundertstem Todestag eine Neuübersetzung bei Hanser vorlegt, macht daraus: „,Bilgewater, kann ich Ihnen vertrauen?’, sagte der alte Mann immer noch schluchzend. ,Bis zum bitteren Tod!’ Er nahm die Hand des alten Mannes, drückte sie und sagte: ,Das Geheimnis Ihres Daseins – sprechen Sie!’,Bilgewater, ich bin der ehemalige Delphin!’”
Das ist korrekt und solide, möglicherweise etwas harthörig gegen die feinen Tonkontraste. Originell ist jedoch die Erfindung des „Delphins”, mit dem sich Nohl ein summarisches Äquivalent für die Fehlleistungen der zwei Halunken beim Griff ins hohe Register ausgedacht hat. Der Diogenes-Verlag hat, ebenfalls pünktlich zum Jubiläum, die alte Übersetzung von Lore Krüger wieder zu Ehren gebracht (sie allerdings leider mit den betulichen Bleistift-Zeichnungen von Tatjana Hauptmann illustriert). Dort liest man: „,Bilgewater, kann ich dir trauen?’, fragte der Alte und schluchzte immer noch. ,Bis in den bittren Tod!’ Er nahm den Alten bei der Hand, drückte sie und sagte: ,Das Geheimnis deines Seins: Sprich!’,Bilgewater, ich bin der verstorbene Dauphin!’” Der verstorbene Dauphin, das ist es! Es nimmt der Frechheit der Akteure und der Leichtgläubigkeit der Zuschauer genau jenes Maß, das Twain im Sinn hatte.
Mark Twain schrieb nach dem Huckleberry Finn noch ein Vierteljahrhundert lang viele Bücher, aber dessen Rang dürfte er nicht wieder erreicht haben. Der Manesse-Verlag hat einen vergessenen Roman ausgegraben, den „Knallkopf Wilson” – „Pudd’nhead Wilson”; doch obwohl man natürlich auch hier immer wieder an der Klaue den Löwen erkennt (der sich inzwischen zum an Locken und Brauen stark bebuschten Salonlöwen entwickelt hatte), muss man es dennoch für ein selbstgerechtes Werklein erklären, das die Gleichheit aller Menschen einschließlich der Schwarzen durch einen hochgradig unwahrscheinlichen Verwechslungs-Plot moralisierend zu erweisen sucht.
Das Beste daran sind die Maximen aus Knallkopf Wilsons Hauskalender, von denen die einzelnen Kapitel eingeleitet werden. „Der auffälligste Unterschied zwischen einer Katze und einer Lüge”, heißt es da, „ist, dass eine Katze nur neun Leben hat.” Oder: „Warum freuen wir uns bei einer Geburt und trauern bei einem Begräbnis? Weil wir nicht die Personen sind, um die es geht.”
Den allseits beliebten Humoristen wollte Twain immer weniger geben; der Sarkasmus, seinem Witz immer nah, gewinnt an Schärfe. Noch immer war er berühmt, umworben und prinzipiell sehr wohlhabend; aber er wirtschaftete schlecht, kam aus den Schulden nicht heraus, fühlte sich durch die Vortragsreisen zunehmend ausgelaugt und musste zudem viel privates Unglück tragen. Von den drei Töchtern, die das Kleinkindalter überlebt hatten, starb eine an Hirnhautentzündung, eine andere, die ihm liebste, bei einem epileptischen Anfall in der Badewanne; die dritte ging, zu seinem Schmerz, ihre eigenen Wege. Endlich starb auch noch die geliebte Livy.
Doch wandte er sich in seinen letzten Lebensjahren noch einmal anderen Zielen zu. Nachdrücklicher als zuvor bezog er Stellung zu zeitgenössischen Geschehnissen, zum brutalen Krieg der Engländer gegen die Buren in Südafrika, zur misslingenden amerikanischen Kolonialpolitik auf den Philippinen. Man braucht das Wort „Philippinen” bei Twain nur gegen das andere, „Vietnam”, zu ersetzen, um zu erkennen, dass dieselben Fehler immer wieder gemacht werden wollen. Und vor allem fand er denjenigen, den er vielleicht immer schon gesucht und der sich ihm bis dahin hartnäckig entzogen hatte, den einen großen Feind, den zu hassen sich wahrhaft lohnte. Es war natürlich ein König: Leopold II. von Belgien.
Das heute wenig bekannte „Selbstgespräch König Leopolds” führt den Monarchen vor, wie er in seinen privaten Gemächern mit höchstem Unwillen durch die Pamphlete blättert, die ihm gelten. Leopold hatte in Zentralafrika, mit Duldung und Billigung aller Mächte einschließlich der Vereinigten Staaten, sein Privatreich gegründet, den „Kongo-Freistaat”, in dem ihm schlechterdings alles bis hinab zu den Nahrungsmitteln seiner Untertanen gehörte. Seine Kongo-Gesellschaft plünderte das Land mit grenzenloser Gier, Schätzungen sprachen von zehn bis fünfzehn Millionen Toten durch Exekutionen, Erschöpfung, Hunger und Kannibaliusmus. Dies alles erfährt man aus Mark Twains Text, jedoch stets so, dass es dem König selbst in den Mund gelegt wird. „Und selbst wenn es zuträfe: Es ist doch Verleumdung, wenn man es gegen einen K ö n i g äußert!” Dazu fasst er das schwere Kruzifix, das er um den Hals trägt, und „küsst es hastig”.
An diesem späten Punkt seines Lebens fängt Mark Twain noch einmal etwas ganz Neues an. Twain ist wohl der Erste überhaupt, der zu Hybrid- und Montageformen greift, um das dokumentarische Material des noch jungen finsteren Jahrhunderts zu dramatisieren. Seiner Spur wird ein rundes Jahrzehnt später Karl Kraus folgen (der Mark Twain sonst durchaus nicht schätzte), als er auf den Ersten Weltkrieg mit dem Monsterwerk „Die Letzten Tage der Menschheit” reagiert. Twains Ein-Personen-Dramolett endet mit der Frage: Darf man einen König hängen? Seine Antwort, wenig überraschend: Aber ja!
Am 21. April 1910 ist Mark Twain im Alter von 74 Jahren gestorben.
BURKHARD MÜLLER
MARK TWAIN: Post aus Hawaii. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Alexander Pechmann. Mare Verlag, Hamburg 2010. 355 Seiten, 24 Euro.
MARK TWAIN: Sommerwogen. Eine Liebe in Briefen. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Alexander Pechmann. Aufbau Verlag, Berlin 2010, 303 Seiten, 16,95 Euro.
MARK TWAIN: Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Andreas Nohl. Hanser Verlag, München 2010. 711 Seiten, 34,90 Euro.
MARK TWAIN: Tom Sawyers Abenteuer / Huckleberry Finns Abenteuer. Aus dem Englischen übersetzt von Lore Krüger. Mit Bildern von Tatjana Hauptmann. Diogenes Verlag, Zürich 2010. 2 Bände, zus. 798 Seiten, 29,90 Euro.
MARK TWAIN: Knallkopf Wilson. Eine Geschichte. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. Mit einem Nachwort von Manfred Pfister. Manesse Verlag, Zürich 2010. 318 Seiten, 19,95 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.2010Sein oder Nichtsein, das ist des Pudels Kern
Die Nachricht von seinem Ableben ist auch zu seinem hundertsten Todestag noch verfrüht: Eine Neuübersetzung von Mark Twains "Tom Sawyer" und "Huckleberry Finn" gibt Lesern allen Alters die schönste literarische Frühprägung zurück.
Von Markus Gasser
Für ihn log keiner: Noch am Schluss seines langen Lebens sollte sich Mark Twain genau an jenen Tag erinnern, da Livy ihm beteuert hatte, sie würde ihn niemals lieben, doch zu einem guten Christen erziehen können - nur weil keiner für ihn lügen wollte.
Verwildert und faul, nikotinsüchtig und gottlos: Als Vater Langdon dem Verlöbnis seiner Lieblingstochter Livy mit dem nicht mehr ganz jungen Samuel Clemens aus Hannibal, Missouri, nur dann zustimmen wollte, wenn dieser die denkbar günstigsten Referenzen vorzuweisen hatte, wussten sich die Verfasser der sechs eingeholten Leumundszeugnisse vor Enthusiasmus ob Sams Lasterhaftigkeit kaum zu fassen. Ein ehemaliger Sonntagsschullehrer wunderte sich gar, dass dieser Clemens nicht Dorfsäufer geworden und längst unter der Erde sei - obwohl der, unter dem bald berühmtesten Pseudonym der Welt, mit seinen Vortragstourneen bereits zu einer Art Buffalo Bill der Stegreifkomik geworden war. "Haben Sie denn gar keine Freunde, die für Sie lügen können?", fragte Vater Langdon, den bereits der Krebs zerfraß: "Niemand, der Zeugnis ablegt für Sie? Dann will ich es tun."
Die Empfehlungsschreiben wären für Tom Sawyer und Huckleberry Finn kaum löblicher ausgefallen: Als Tom in seinen "Abenteuern", sieben Jahre nach Sams Verlobung mit Livy verfasst, an einem Montagmorgen vor einem prügelfreudigen Lehrer wagt, seine Verspätung damit zu legitimieren, er habe Huck Finn, Sohn des Dorfsäufers, getroffen, kommt dies einer Gotteslästerung gleich, die nur mit gründlichen Gertenschlägen gesühnt werden kann. Dafür aber darf Tom neben Becky Thatcher sitzen, die ihn von fern bereits betörte: in einer zielgenauen Parodie auf alle Werther-Gefühligkeit.
Und doch hat es Mark Twain in Sachen Erotik selten so hintergründig ernst gemeint wie in jener Szene, da sich Becky und Tom Sawyer abwechselnd an einem Kaugummi gütlich tun: Lediglich der drohende Hungertod und Indianer Joe verhindern verhohlen, dass Tom und Becky später - wie ein etwas grober Interpret einmal meinte - "im Höhlenlabyrinth übereinander herfallen". Unter den vielen Besuchern im gotischen Dampfschiffschloss der Familie Twain in Connecticut war es ein running gag, dass Becky Livy war. Sam hatte sie sich mit seinen Briefen erobert, und die beiden liebten einander bis ins Alter so sehr, dass sie von Zimmer zu Zimmer Depeschen schickten, als ein Arzt - "ein Medizinmann" laut Twain - ihm die Besuche bei der herzkranken Livy verbot; die Vögel draußen im Garten bat er darum, behutsamer zu singen, um Livys Bettruhe nicht zu stören. Gemeinsam mit seinen drei Töchtern war sie seine erste Lektorin: Er ahnte voraus, was sie ihm streichen würde, und versetzte seine Manuskripte - zum endlosen Hörgenuss seiner Töchter - mit den ausgefeiltesten Scheußlichkeiten, damit sie das, was er "drinhaben" wollte, unbeanstandet beließ. Sie war das fehlbare Jüngste Gericht seiner Meisterschaft: "Manchmal strich sie zu wenig weg, und ich strich es selbst. Es hatte seine Schuldigkeit getan: Meine Töchter hatten gelacht (und Livy auch)." Zu einem guten Christen - gottesinnig, alkohol- und zigarrenfrei - erzog sie ihn nie. Kaum dass sie verheiratet waren, ging das Gezerre um seine Laster los, das er, ein Meister in der Kunst, mit dem Rauchen nicht aufzuhören, immer zu seinen Gunsten entschied: "Wenn Du es wirklich wünschst, schwöre ich den Zigarren ab - Du würdest Deine Kirchenbesuche ja auch einstellen, wenn ich Dich darum bäte." Deshalb auch schlägt in "Huckleberry Finns Abenteuern" dessen "Sivilisierung" durch die Witwe Douglas so glücklich fehl, die Huck im "Tom Sawyer" vor der Verstümmelung durch Indianer Joe gerettet hat. Livy liebte das Buch.
Bei der Witwe hat Huck gerade genug Orthographie eingepaukt bekommen, um seine Memoiren überhaupt schreiben zu können - wenn auch in einer Haltung, die gegen alles verstößt, was in den Vereinigten Staaten des neunzehnten Jahrhunderts als "Zivilisation" herhalten musste: gegen den Glauben, "Neger" seien eine zur Versklavung bestimmte "Rasse"; gegen das verbriefte Recht, jeder dürfe eine Waffe mit sich führen, gegen religiöse Erweckungshysterie, Gebote zur richtigen Lebensführung und - mit Shakespeares Werken als Himmelsleiter - das "schöne Schreiben", um das sich Huck so wenig schert wie um den biblischen Moses. "Denn Tote interessieren mich nicht die Bohne."
Für Twain war das Englisch der Briten eine tote Sprache wie Latein; Hawthorne, Melville und Henry James, obschon gebürtige Amerikaner, gaben sich europäischer als jeder Europäer und ließen ihr Publikum bald hinter sich. Mark Twain indes, "immer auf der Jagd nach dem größeren Wild, den Massen", setzte - auch wider die Europa blind nacheifernden Vereinigten Staaten - mit seinem "Huckleberry Finn" die Unabhängigkeitserklärung für die Literatur Amerikas auf. Würde er dort heute erstmals erscheinen, wären die Kritiker trotz aller Begeisterung über "the Great American Novel" irritiert davon, wie fleißig er dafür in den Wäldern Kiplings, Faulkners, Hemingways, Kerouacs, Bellows, Mailers, Salingers, Vonneguts, Bob Dylans, Toni Morrisons und García Márquez' gewildert hat. Kein anderes Werk sollte Clemens derart ausgiebig Gelegenheit geben, Mark Twain zu sein, da er sich fast sieben Jahre in die Rolle Huck Finns verschloss. Sein Roman wurde auch deshalb zum Mythos, weil wir während der Lektüre wie unter Zauberbann Huck Finn sind und damit Mark Twain: ein Erwachsener in Teenagergestalt. Und dabei fiel ihm nichts schwerer als dieses Buch.
Verzweifelt war er mehrmals nahe daran, das Manuskript zu verbrennen. Erst als er seinen Mississippi erneut bereist hatte, um erleben zu müssen, dass nach dem Bürgerkrieg die Sklavenbefreiung im Süden missraten war, wuchs sich die geplante Fortsetzung des "Tom Sawyer" zu dessen hell-düsterem Gegenstück aus. Wie er dafür täglich seinen Federhalter "im Höllenfeuer gehärtet" hatte, blieb lange unbemerkt: Gleich Swift mit seinem "Gulliver" wollte auch Twain die Menschheit verurteilen - und hinterließ wider Willen in aberhundert gesäuberten Ausgaben ein Jugendbuch. So meint auch ein jeder, er wüsste, was drinsteht: Ebenso wenig wie die "Odyssee" davon handelt, dass einer übers Meer nach Hause fährt, um die Freier seiner Frau zu massakrieren, sind im "Huckleberry Finn" ein vierzehnjähriger Zuckerfassbewohner und "Nigger Jim" einfach nur ein paar leichtfertige Abenteuer lang den Mississippi stromabwärts in Richtung Freiheit unterwegs. Denn wo auch immer sie ihr Floß vertäuen, geraten sie in verschlafene Höllen, die sich als Dorfidyllen tarnen, an lynchfröhliche Mobs und sinnlos verfehdete Sippen, die den abendländischen Rosenkriegsadel imitieren, und an zwei Halunken, die sich als "König" und "Herzog" ausgeben und - in einer paradoxen Volte gegen Europa und amerikanischen Europa-Enthusiasmus - Shakespeare-Monologe mit Hilfe Goethes verunstaltend neu arrangieren: "Sein oder Nichtsein, das ist des Pudels Kern."
In einer solchen Welt kommt man ohnehin nur mit Lügen durch, und so wie Huck den Autor von "Tom Sawyer" anfangs der Flunkerei bezichtigt hat, so lügt er für Jim, den entlaufenen Sklaven. Der ist immerhin seine dreihundert Dollar wert, und es hat in der Literatur selten einen berührenderen Moment gegeben als den, da Huck hin- und hergerissen ist zwischen dem ihm angetrimmten Gewissen, das darin, Jim nicht zu verraten, eine Todsünde sieht, und seinem Mitleidsinstinkt: Er entscheidet sich zugunsten Jims und glaubt, nun zur Hölle fahren zu müssen: "All right, then, I'll go to hell." Im Gegensatz zu Tom Sawyers angelesenem Pathos, das Walter Scott nachahmt und Alexandre Dumas, ist Hucks Gemüt existentiell von Grund auf: Tom spielt Angst, Huck hat sie, und nichts peinigt den Leser mehr als jene grotesken Schlusskapitel, in denen Tom den vom "König" verkauften Jim zu befreien plant. Sie lösen bis heute schärfste Polemiken aus und sind prekär doch nur auf den ersten Blick.
Andreas Nohls gepflegte Neuübersetzung beweist, dass der Roman noch schwerer ins Deutsche zu übersetzen sein dürfte als ins Englische die österreichische Simon-Brenner-Suada von Wolf Haas. Sein Verlag verspricht, Nohl hätte im Nachwort eine Neuinterpretation dieser Schlusskapitel zu bieten - mit der sich 1950 allerdings schon T. S. Eliot behalf: Twain hätte versucht, am Schluss den Kreis zu "Tom Sawyer" zu schließen. Das ist, wenn man Twains Gesamtwerk und Romannotizen kennt, so ungenau wie irrelevant: Dass Tom Jim einem Fluchtplan unterjocht, obwohl der längst frei ist, nur um seine aus abendländischer Literatur, aus Casanova, Scott und Dumas zusammengekleisterten Phantasien befriedigen zu können, ist die finale Kritik an einem Europa, das gerne vergisst, wer mit der Versklavung der afrikanischstämmigen Menschheit begonnen hat. Da Tom Jim für seine literarischen Spielchen ein weiteres Mal zum "Nigger" erniedrigt, beendet Huck sein Buch mit der Absage an alle Literatur, auch an die eigene: Hätte er gewusst, wie schwer es sei, "ein Buch zu machen", hätte er es erst gar nicht versucht, und "ich tu's bestimmt nicht noch einmal". Der letzte Ausweg, der ihm bleibt, die Flucht vor dieser "Sivilisation" gen Westen, steht im langen Schatten von Jims Prophezeiung, Huck werde am Galgen enden: Twain hatte zehnjährig dem langsamen Galgentod des "Niggerfreunds" Robert Hardy zusehen müssen, "die lieben Leute kamen von weit her und machten mit Kind und Kegel, Apfelwein und Kuchen ein Picknick daraus". Für solcherlei werde, erboste sich der "huckophile" Faulkner, der ganze Süden bis zum Weltenende büßen müssen.
So empfindet nicht erst der calvinistische Moral-Erblasten tragende Calvin Burden aus Faulkners "Licht im August" die Sklaverei als Fluch, den die weiße Rasse über sich brachte - Twain dehnte ihn zunächst auf seine Familie, die von Sklavenhaltern abstammte, und zuletzt auf die ganze Menschheit aus: "Ich kann mir nicht helfen", gestand er, "ich bin von Adam und Eva enttäuscht." Ein Jahr vor seinem Tod war er vor lauter Bitterkeit nicht imstande, der Beerdigung seiner Tochter Jean beizuwohnen, die ihm bei einem epileptischen Anfall am Weihnachtstag in der Badewanne ertrunken war. "Jedes Haus, das ich bewohne, weihen die Geister meiner Toten für mich ein."
Seine Frau und zwei seiner Töchter hatte er überlebt, und im letzten Jahrzehnt kleidete er sich nurmehr in weißen Flanell: wie ein Kind, das sich vorm Dunkel fürchtet und seine Eltern bittet, über Nacht das Licht brennen zu lassen. Einmal erreichte die Nachricht von seinem Ableben die betrübte Öffentlichkeit, und prompt konterte Twain telegraphisch, die Nachricht sei grob übertrieben. Ins Grab hetzen ließ er sich nicht; zuallerletzt erwartete er sich davon "eine erste ruhige Nacht". Das Wort "Unsterblichkeit", zu oft geringeren Autoren angemessen, versteht sich hier ganz von selbst.
"Haben Sie denn gar keine Freunde, die für Sie lügen und Zeugnis ablegen können?" Wer würde da nicht mit Vater Langdon sagen: "Ich will es tun"?
Mark Twain: "Tom Sawyer & Huckleberry Finn". Herausgegeben und neu übersetzt von Andreas Nohl. Hanser Verlag, München 2010. 711 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Nachricht von seinem Ableben ist auch zu seinem hundertsten Todestag noch verfrüht: Eine Neuübersetzung von Mark Twains "Tom Sawyer" und "Huckleberry Finn" gibt Lesern allen Alters die schönste literarische Frühprägung zurück.
Von Markus Gasser
Für ihn log keiner: Noch am Schluss seines langen Lebens sollte sich Mark Twain genau an jenen Tag erinnern, da Livy ihm beteuert hatte, sie würde ihn niemals lieben, doch zu einem guten Christen erziehen können - nur weil keiner für ihn lügen wollte.
Verwildert und faul, nikotinsüchtig und gottlos: Als Vater Langdon dem Verlöbnis seiner Lieblingstochter Livy mit dem nicht mehr ganz jungen Samuel Clemens aus Hannibal, Missouri, nur dann zustimmen wollte, wenn dieser die denkbar günstigsten Referenzen vorzuweisen hatte, wussten sich die Verfasser der sechs eingeholten Leumundszeugnisse vor Enthusiasmus ob Sams Lasterhaftigkeit kaum zu fassen. Ein ehemaliger Sonntagsschullehrer wunderte sich gar, dass dieser Clemens nicht Dorfsäufer geworden und längst unter der Erde sei - obwohl der, unter dem bald berühmtesten Pseudonym der Welt, mit seinen Vortragstourneen bereits zu einer Art Buffalo Bill der Stegreifkomik geworden war. "Haben Sie denn gar keine Freunde, die für Sie lügen können?", fragte Vater Langdon, den bereits der Krebs zerfraß: "Niemand, der Zeugnis ablegt für Sie? Dann will ich es tun."
Die Empfehlungsschreiben wären für Tom Sawyer und Huckleberry Finn kaum löblicher ausgefallen: Als Tom in seinen "Abenteuern", sieben Jahre nach Sams Verlobung mit Livy verfasst, an einem Montagmorgen vor einem prügelfreudigen Lehrer wagt, seine Verspätung damit zu legitimieren, er habe Huck Finn, Sohn des Dorfsäufers, getroffen, kommt dies einer Gotteslästerung gleich, die nur mit gründlichen Gertenschlägen gesühnt werden kann. Dafür aber darf Tom neben Becky Thatcher sitzen, die ihn von fern bereits betörte: in einer zielgenauen Parodie auf alle Werther-Gefühligkeit.
Und doch hat es Mark Twain in Sachen Erotik selten so hintergründig ernst gemeint wie in jener Szene, da sich Becky und Tom Sawyer abwechselnd an einem Kaugummi gütlich tun: Lediglich der drohende Hungertod und Indianer Joe verhindern verhohlen, dass Tom und Becky später - wie ein etwas grober Interpret einmal meinte - "im Höhlenlabyrinth übereinander herfallen". Unter den vielen Besuchern im gotischen Dampfschiffschloss der Familie Twain in Connecticut war es ein running gag, dass Becky Livy war. Sam hatte sie sich mit seinen Briefen erobert, und die beiden liebten einander bis ins Alter so sehr, dass sie von Zimmer zu Zimmer Depeschen schickten, als ein Arzt - "ein Medizinmann" laut Twain - ihm die Besuche bei der herzkranken Livy verbot; die Vögel draußen im Garten bat er darum, behutsamer zu singen, um Livys Bettruhe nicht zu stören. Gemeinsam mit seinen drei Töchtern war sie seine erste Lektorin: Er ahnte voraus, was sie ihm streichen würde, und versetzte seine Manuskripte - zum endlosen Hörgenuss seiner Töchter - mit den ausgefeiltesten Scheußlichkeiten, damit sie das, was er "drinhaben" wollte, unbeanstandet beließ. Sie war das fehlbare Jüngste Gericht seiner Meisterschaft: "Manchmal strich sie zu wenig weg, und ich strich es selbst. Es hatte seine Schuldigkeit getan: Meine Töchter hatten gelacht (und Livy auch)." Zu einem guten Christen - gottesinnig, alkohol- und zigarrenfrei - erzog sie ihn nie. Kaum dass sie verheiratet waren, ging das Gezerre um seine Laster los, das er, ein Meister in der Kunst, mit dem Rauchen nicht aufzuhören, immer zu seinen Gunsten entschied: "Wenn Du es wirklich wünschst, schwöre ich den Zigarren ab - Du würdest Deine Kirchenbesuche ja auch einstellen, wenn ich Dich darum bäte." Deshalb auch schlägt in "Huckleberry Finns Abenteuern" dessen "Sivilisierung" durch die Witwe Douglas so glücklich fehl, die Huck im "Tom Sawyer" vor der Verstümmelung durch Indianer Joe gerettet hat. Livy liebte das Buch.
Bei der Witwe hat Huck gerade genug Orthographie eingepaukt bekommen, um seine Memoiren überhaupt schreiben zu können - wenn auch in einer Haltung, die gegen alles verstößt, was in den Vereinigten Staaten des neunzehnten Jahrhunderts als "Zivilisation" herhalten musste: gegen den Glauben, "Neger" seien eine zur Versklavung bestimmte "Rasse"; gegen das verbriefte Recht, jeder dürfe eine Waffe mit sich führen, gegen religiöse Erweckungshysterie, Gebote zur richtigen Lebensführung und - mit Shakespeares Werken als Himmelsleiter - das "schöne Schreiben", um das sich Huck so wenig schert wie um den biblischen Moses. "Denn Tote interessieren mich nicht die Bohne."
Für Twain war das Englisch der Briten eine tote Sprache wie Latein; Hawthorne, Melville und Henry James, obschon gebürtige Amerikaner, gaben sich europäischer als jeder Europäer und ließen ihr Publikum bald hinter sich. Mark Twain indes, "immer auf der Jagd nach dem größeren Wild, den Massen", setzte - auch wider die Europa blind nacheifernden Vereinigten Staaten - mit seinem "Huckleberry Finn" die Unabhängigkeitserklärung für die Literatur Amerikas auf. Würde er dort heute erstmals erscheinen, wären die Kritiker trotz aller Begeisterung über "the Great American Novel" irritiert davon, wie fleißig er dafür in den Wäldern Kiplings, Faulkners, Hemingways, Kerouacs, Bellows, Mailers, Salingers, Vonneguts, Bob Dylans, Toni Morrisons und García Márquez' gewildert hat. Kein anderes Werk sollte Clemens derart ausgiebig Gelegenheit geben, Mark Twain zu sein, da er sich fast sieben Jahre in die Rolle Huck Finns verschloss. Sein Roman wurde auch deshalb zum Mythos, weil wir während der Lektüre wie unter Zauberbann Huck Finn sind und damit Mark Twain: ein Erwachsener in Teenagergestalt. Und dabei fiel ihm nichts schwerer als dieses Buch.
Verzweifelt war er mehrmals nahe daran, das Manuskript zu verbrennen. Erst als er seinen Mississippi erneut bereist hatte, um erleben zu müssen, dass nach dem Bürgerkrieg die Sklavenbefreiung im Süden missraten war, wuchs sich die geplante Fortsetzung des "Tom Sawyer" zu dessen hell-düsterem Gegenstück aus. Wie er dafür täglich seinen Federhalter "im Höllenfeuer gehärtet" hatte, blieb lange unbemerkt: Gleich Swift mit seinem "Gulliver" wollte auch Twain die Menschheit verurteilen - und hinterließ wider Willen in aberhundert gesäuberten Ausgaben ein Jugendbuch. So meint auch ein jeder, er wüsste, was drinsteht: Ebenso wenig wie die "Odyssee" davon handelt, dass einer übers Meer nach Hause fährt, um die Freier seiner Frau zu massakrieren, sind im "Huckleberry Finn" ein vierzehnjähriger Zuckerfassbewohner und "Nigger Jim" einfach nur ein paar leichtfertige Abenteuer lang den Mississippi stromabwärts in Richtung Freiheit unterwegs. Denn wo auch immer sie ihr Floß vertäuen, geraten sie in verschlafene Höllen, die sich als Dorfidyllen tarnen, an lynchfröhliche Mobs und sinnlos verfehdete Sippen, die den abendländischen Rosenkriegsadel imitieren, und an zwei Halunken, die sich als "König" und "Herzog" ausgeben und - in einer paradoxen Volte gegen Europa und amerikanischen Europa-Enthusiasmus - Shakespeare-Monologe mit Hilfe Goethes verunstaltend neu arrangieren: "Sein oder Nichtsein, das ist des Pudels Kern."
In einer solchen Welt kommt man ohnehin nur mit Lügen durch, und so wie Huck den Autor von "Tom Sawyer" anfangs der Flunkerei bezichtigt hat, so lügt er für Jim, den entlaufenen Sklaven. Der ist immerhin seine dreihundert Dollar wert, und es hat in der Literatur selten einen berührenderen Moment gegeben als den, da Huck hin- und hergerissen ist zwischen dem ihm angetrimmten Gewissen, das darin, Jim nicht zu verraten, eine Todsünde sieht, und seinem Mitleidsinstinkt: Er entscheidet sich zugunsten Jims und glaubt, nun zur Hölle fahren zu müssen: "All right, then, I'll go to hell." Im Gegensatz zu Tom Sawyers angelesenem Pathos, das Walter Scott nachahmt und Alexandre Dumas, ist Hucks Gemüt existentiell von Grund auf: Tom spielt Angst, Huck hat sie, und nichts peinigt den Leser mehr als jene grotesken Schlusskapitel, in denen Tom den vom "König" verkauften Jim zu befreien plant. Sie lösen bis heute schärfste Polemiken aus und sind prekär doch nur auf den ersten Blick.
Andreas Nohls gepflegte Neuübersetzung beweist, dass der Roman noch schwerer ins Deutsche zu übersetzen sein dürfte als ins Englische die österreichische Simon-Brenner-Suada von Wolf Haas. Sein Verlag verspricht, Nohl hätte im Nachwort eine Neuinterpretation dieser Schlusskapitel zu bieten - mit der sich 1950 allerdings schon T. S. Eliot behalf: Twain hätte versucht, am Schluss den Kreis zu "Tom Sawyer" zu schließen. Das ist, wenn man Twains Gesamtwerk und Romannotizen kennt, so ungenau wie irrelevant: Dass Tom Jim einem Fluchtplan unterjocht, obwohl der längst frei ist, nur um seine aus abendländischer Literatur, aus Casanova, Scott und Dumas zusammengekleisterten Phantasien befriedigen zu können, ist die finale Kritik an einem Europa, das gerne vergisst, wer mit der Versklavung der afrikanischstämmigen Menschheit begonnen hat. Da Tom Jim für seine literarischen Spielchen ein weiteres Mal zum "Nigger" erniedrigt, beendet Huck sein Buch mit der Absage an alle Literatur, auch an die eigene: Hätte er gewusst, wie schwer es sei, "ein Buch zu machen", hätte er es erst gar nicht versucht, und "ich tu's bestimmt nicht noch einmal". Der letzte Ausweg, der ihm bleibt, die Flucht vor dieser "Sivilisation" gen Westen, steht im langen Schatten von Jims Prophezeiung, Huck werde am Galgen enden: Twain hatte zehnjährig dem langsamen Galgentod des "Niggerfreunds" Robert Hardy zusehen müssen, "die lieben Leute kamen von weit her und machten mit Kind und Kegel, Apfelwein und Kuchen ein Picknick daraus". Für solcherlei werde, erboste sich der "huckophile" Faulkner, der ganze Süden bis zum Weltenende büßen müssen.
So empfindet nicht erst der calvinistische Moral-Erblasten tragende Calvin Burden aus Faulkners "Licht im August" die Sklaverei als Fluch, den die weiße Rasse über sich brachte - Twain dehnte ihn zunächst auf seine Familie, die von Sklavenhaltern abstammte, und zuletzt auf die ganze Menschheit aus: "Ich kann mir nicht helfen", gestand er, "ich bin von Adam und Eva enttäuscht." Ein Jahr vor seinem Tod war er vor lauter Bitterkeit nicht imstande, der Beerdigung seiner Tochter Jean beizuwohnen, die ihm bei einem epileptischen Anfall am Weihnachtstag in der Badewanne ertrunken war. "Jedes Haus, das ich bewohne, weihen die Geister meiner Toten für mich ein."
Seine Frau und zwei seiner Töchter hatte er überlebt, und im letzten Jahrzehnt kleidete er sich nurmehr in weißen Flanell: wie ein Kind, das sich vorm Dunkel fürchtet und seine Eltern bittet, über Nacht das Licht brennen zu lassen. Einmal erreichte die Nachricht von seinem Ableben die betrübte Öffentlichkeit, und prompt konterte Twain telegraphisch, die Nachricht sei grob übertrieben. Ins Grab hetzen ließ er sich nicht; zuallerletzt erwartete er sich davon "eine erste ruhige Nacht". Das Wort "Unsterblichkeit", zu oft geringeren Autoren angemessen, versteht sich hier ganz von selbst.
"Haben Sie denn gar keine Freunde, die für Sie lügen und Zeugnis ablegen können?" Wer würde da nicht mit Vater Langdon sagen: "Ich will es tun"?
Mark Twain: "Tom Sawyer & Huckleberry Finn". Herausgegeben und neu übersetzt von Andreas Nohl. Hanser Verlag, München 2010. 711 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main