Als das Berliner Museum für Fotografie im Jahr 2014 die Serie "Die absolute Landschaft" von Michael Ruetz zeigte, zog die Ausstellung 160'000 Besucher an. Auf den breiten Panorama-Bildern war immer das gleiche Motiv zu sehen: der Blick auf eine Voralpen-Szenerie mit Wiesen, Bäumen, einigen Bauernhöfen, Straßen und Bergen am Horizont. Ein unspektakuläres Sujet - sollte man meinen. Welch ein Irrtum! Denn die Bilder zeigen großes, elementares Welttheater: alle denkbaren Variationen von Licht, Schatten, Wetter und Jahreszeit. Man sieht die wundervollsten Frühlingsstimmungen und tristen Winternebel; es gibt großartig in die Höhe gestaffelte Wolkenformationen und das zarte, ruhige Herbstlicht in seiner eigenartigen Transparenz; da sind Gewitterhimmel, von mehreren Dutzend Blitzen durchzuckt, und doppelte Regenbögen, die den Horizont von einem Ende zum anderen überspannen. Selbst eine Mondfinsternis ist dokumentiert. In ihrer formalen Konsequenz wirkt die Bilderreihe wie eine moderne Variation der "36 Ansichten des Berges Fuji" von Hokusai - die Essenz einer Landschaft in der Ungleichheit des Gleichen. Das verborgene und eigentliche Thema der Bilder ist jedoch die Zeit. Dies gilt zunächst für die Länge des Projektes selbst: Nicht weniger als 8'820 Tage hat Michael Ruetz dem Vorhaben gewidmet - es dauerte von 1989 bis 2012. Durch diese Insistenz gelingt ihm, die Zeit als etwas Unsichtbares sichtbar zu machen - als das Medium von Wechsel und Konstanz zugleich. Dieses ebenso ungewöhnliche wie herausragende Werk erfordert ein außerordentliche buchtechnische Realisierung. Um den Reichtum der Bilder und die majestätische Weite des Panoramas angemessen zur Geltung kommen zu lassen, werden die Aufnahmen im A3-Überformat auf bestem Bilderdruckpapier reproduziert.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungLicht, Raum und Zeit
Eine unendliche Geschichte in überwältigenden Panoramen: Michael Ruetz hat die absolute Landschaft gefunden.
Von Freddy Langer
Am Anfang war die Idee. Die Idee, eine Landschaft zu fotografieren. Nein, den Wechsel einer Landschaft zu fotografieren. Im Wandel der Tageszeiten, der Jahreszeiten, der Jahre. Dann erst suchte Michael Ruetz nach einem Haus, auf dessen Balkon er eine ganze Batterie von Kameras unter einem Dach geschützt aufstellen könnte, mit ungestörtem Blick auf das Alpenvorland. Er fand es im Chiemgau, kaufte es und zog mit der Familie ein. Dass ihn dieser Einfall am Ende mehr als zweiundzwanzig Jahre lang beschäftigt halten sollte, damit hatte er nicht gerechnet. Ein Lebenswerk würden es andere nennen. Ganz emphatisch. Ruetz indes spricht von "Untersuchungszeitraum" und benennt die Dauer entsprechend spröde mit 8120 Tagen, 1160 Wochen, 267 Monaten.
Aber welch eine Landschaft! Ruetz bezeichnet sie als "absolut". Alles da, was für das Ideal verlangt wird. Eine Senke zunächst, dann Hügel, eine weitere Senke, dahinter ein See und dann die erste Alpenkette, endlos weit entfernt, doch bei Föhn wie zum Greifen nah und erkennbar bis hinein ins wilde, zerfetzte Dachsteingebirge, weit mehr als hundert Kilometer entfernt. Ganz vorne aber breitet sich eine Pastorale aus, mit Gehöft und Dörfchen eingebettet zwischen Wiesen und Wäldchen, Äckern und Feldern, die im Laufe des Tages ihre Strahlkraft ändern und im Laufe des Jahres ihre Farben.
Raum und Zeit: Nicht zuletzt darum geht es in der Fotografie. In jedem einzelnen Bild. Niemand hat daraus einleuchtendere Konsequenzen gezogen als Michael Ruetz, der in aufwendigen und genaugenommen nie abgeschlossenen Bildserien über Jahre hinweg auch die Umgestaltung von Orten, vor allem Berlins, vom immer selben Standpunkt aus dokumentierte. "Timescapes" nennt er diese Arbeiten, in denen die Welt wie im Zeitraffer vorbei huscht. Oder wie auf einem Palimpsest die historischen Schichten übereinander liegen. Abriss, Aufbau, Abriss. Hier die Mauer weg, dort eine Straße hin - alle paar Jahre eine neue Ansicht.
Bei seiner "Absoluten Landschaft" (als Buch erschienen im Nimbus Verlag, 198 Euro) sind es nicht die Menschen, die für Veränderung sorgen. Da ist es die Natur selbst. Wenn Häuser hier verschwinden, wurden sie nicht abgerissen, sondern liegen versteckt hinter den im Sommer dichtbelaubten Büschen. Prompt sind sie im Winter wieder da. Das passiert eben, und auch daraus beziehen die Aufnahmen einen gewissen Reiz. Das ureigentliche Interesse Ruetz' aber gilt dem Licht. Den wenigen Minuten der Morgendämmerung, bevor die Sonne über den Horizont steigt. Dem ersten Moment am Abend, nachdem sie untergegangen ist. Dem harten Licht des Mittags. Und der Nacht, die er während eines Gewitters über Stunden hinweg belichtet. Was Ruetz auf diese Weise auch zusammengetragen hat, ist die Biographie eines Landstrichs.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine unendliche Geschichte in überwältigenden Panoramen: Michael Ruetz hat die absolute Landschaft gefunden.
Von Freddy Langer
Am Anfang war die Idee. Die Idee, eine Landschaft zu fotografieren. Nein, den Wechsel einer Landschaft zu fotografieren. Im Wandel der Tageszeiten, der Jahreszeiten, der Jahre. Dann erst suchte Michael Ruetz nach einem Haus, auf dessen Balkon er eine ganze Batterie von Kameras unter einem Dach geschützt aufstellen könnte, mit ungestörtem Blick auf das Alpenvorland. Er fand es im Chiemgau, kaufte es und zog mit der Familie ein. Dass ihn dieser Einfall am Ende mehr als zweiundzwanzig Jahre lang beschäftigt halten sollte, damit hatte er nicht gerechnet. Ein Lebenswerk würden es andere nennen. Ganz emphatisch. Ruetz indes spricht von "Untersuchungszeitraum" und benennt die Dauer entsprechend spröde mit 8120 Tagen, 1160 Wochen, 267 Monaten.
Aber welch eine Landschaft! Ruetz bezeichnet sie als "absolut". Alles da, was für das Ideal verlangt wird. Eine Senke zunächst, dann Hügel, eine weitere Senke, dahinter ein See und dann die erste Alpenkette, endlos weit entfernt, doch bei Föhn wie zum Greifen nah und erkennbar bis hinein ins wilde, zerfetzte Dachsteingebirge, weit mehr als hundert Kilometer entfernt. Ganz vorne aber breitet sich eine Pastorale aus, mit Gehöft und Dörfchen eingebettet zwischen Wiesen und Wäldchen, Äckern und Feldern, die im Laufe des Tages ihre Strahlkraft ändern und im Laufe des Jahres ihre Farben.
Raum und Zeit: Nicht zuletzt darum geht es in der Fotografie. In jedem einzelnen Bild. Niemand hat daraus einleuchtendere Konsequenzen gezogen als Michael Ruetz, der in aufwendigen und genaugenommen nie abgeschlossenen Bildserien über Jahre hinweg auch die Umgestaltung von Orten, vor allem Berlins, vom immer selben Standpunkt aus dokumentierte. "Timescapes" nennt er diese Arbeiten, in denen die Welt wie im Zeitraffer vorbei huscht. Oder wie auf einem Palimpsest die historischen Schichten übereinander liegen. Abriss, Aufbau, Abriss. Hier die Mauer weg, dort eine Straße hin - alle paar Jahre eine neue Ansicht.
Bei seiner "Absoluten Landschaft" (als Buch erschienen im Nimbus Verlag, 198 Euro) sind es nicht die Menschen, die für Veränderung sorgen. Da ist es die Natur selbst. Wenn Häuser hier verschwinden, wurden sie nicht abgerissen, sondern liegen versteckt hinter den im Sommer dichtbelaubten Büschen. Prompt sind sie im Winter wieder da. Das passiert eben, und auch daraus beziehen die Aufnahmen einen gewissen Reiz. Das ureigentliche Interesse Ruetz' aber gilt dem Licht. Den wenigen Minuten der Morgendämmerung, bevor die Sonne über den Horizont steigt. Dem ersten Moment am Abend, nachdem sie untergegangen ist. Dem harten Licht des Mittags. Und der Nacht, die er während eines Gewitters über Stunden hinweg belichtet. Was Ruetz auf diese Weise auch zusammengetragen hat, ist die Biographie eines Landstrichs.
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