24,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Gebundenes Buch

Rom 1978. Die Entführung Aldo Moros durch die Brigate Rosse und seine Ermordung nach 55 Tagen im "Volksgefängnis", aus dem er als Vorsitzender der Democrazia Cristiana wie als Familienvater Briefe schreibend um sein Leben kämpft, sind für Sciascia schmerzlicher Anlass, dem Palazzo, den Allermächtigsten im Staat, den Prozess zu machen, im Gedenken an den Freund Pier Paolo Pasolini. So schlussfolgert er: Zum Tod war Moro verurteilt von seinen christdemokratischen Freunden mit ihrer harten, heuchlerischen Nichtverhandlungslinie, die Medien als willige Erfüllungsgehilfen. Moros ideologisch…mehr

Produktbeschreibung
Rom 1978. Die Entführung Aldo Moros durch die Brigate Rosse und seine Ermordung nach 55 Tagen im "Volksgefängnis", aus dem er als Vorsitzender der Democrazia Cristiana wie als Familienvater Briefe schreibend um sein Leben kämpft, sind für Sciascia schmerzlicher Anlass, dem Palazzo, den Allermächtigsten im Staat, den Prozess zu machen, im Gedenken an den Freund Pier Paolo Pasolini. So schlussfolgert er: Zum Tod war Moro verurteilt von seinen christdemokratischen Freunden mit ihrer harten, heuchlerischen Nichtverhandlungslinie, die Medien als willige Erfüllungsgehilfen. Moros ideologisch verirrte Kerkermeister waren der ausführende Arm. Sciascia, auf Borges gestützt, erkennt: Das Buch über Moros zeitlose Tragödie der Macht war bereits geschrieben, als sich das Verbrechen ereignete. Neuübersetzung
Autorenporträt
Einige Lebensetappen des großen Leonardo Sciascia Leonardo Sciascia kam am 8. Januar 1921 zur Welt: in Racalmuto, zwischen Agrigent (Girgenti) und Caltanisetta, inmitten der Schwefelgrubenwelt. Der Vater Pasquale war in die USA auswandert, diente freiwillig in der Army, blieb über diese seine Zeit wortkarg und verschlossen sein Leben lang; allenfalls verschaffte er sich in cholerischen Anfällen Luft oder in einem diktatorischen Familienregime, zu dem die 1919 geehelichte Genoveffa Martorelli gehörte und 1923 der Bruder Giuseppe, nach dessen Geburt Leonardo ins Haus der Tanten verbracht wird. Der Bruder in die Fußstapfen des Schwefelgrubenverwaltervaters gezwungen, nimmt sich 1948 das Leben. Leonardo spricht kaum je darüber, zu schwer die Last. Neben der Grundschule las Leonardo schon früh gewichtige Werke, es war die Zeit, da Bücher noch als Lebensmittel verstanden wurden, von Die Brautleute über Casanovas Memoiren. Mit 14 zog er zusammen mit der Familie nach Caltanisetta, wo er ein istituto magistrale, Schule zur Grundschullehrerausbildung besuchte; dort unterrichtete auch Vitaliano Brancati, Romanschriftsteller und Dramaturg aus Pachino, neue Lektüren für Leonardo waren Caldwell, Hemingway, Dos Passos, Faulkner. 1941 tritt er einen Job als Verwalter eines Getreidelagers an, schreibt sich an der Pädagogischen Hochschule in Messina ein; verlässt sie vorzeitig. 1944 - ist der 2. WK. mit der Landung der Alliierten in Sizlien zu Ende; seine ersten Zeitungsartikel erscheinen. Im Juli heiratete er, gerade 23jährig, Maria Andronico, im Jahr darauf kommt Laura, 1946 dann Anna Maria zur Welt. 1949 ¿ tritt er in Racalmuto seine Stelle als Grundschullehrer an, gründet mit dem Verleger und Buchhändler Salvatore Sciascia, Caltanisetta, die Zeitschrift ¿Galleriä; aus seinen Notizen eines Grundschullehrers entstehen die Parrocchie di Regalpetra (1956) (dt. mehrere Titel): das sehr berührende Erinnerungspanorama seiner Heimatstadt, die fiktive Realität eines sehr authentischen Siziliens, ein J¿accuse des faschistischen Ventennios, der anschließenden Demokratie in all ihrer Unreife und Unehrlichkeit, der Condition humaine nach vollständiger Aushöhlung von Moralität und Gewissen. Verhalten und mächtig zugleich Sciascias Erzählen holt er die schreckliche Wirklichkeit der Salzbauern und Schwefelgrubenarbeiter ans Licht, deren Arbeit, die einzig mögliche, zugleich ihr Todesurteil darstellt; die Schulkinder, in deren Gesichter die Qualen der Väter und die totale Aussichtslosigkeit auf eine wirkliche Zukunft gezeichnet sind. Die zweite Ausgabe erschien 1967 zusammen mit dem hier und heute von uns ins Deutsche übersetzten Werk Tod des Inquisitors (1964): die historische Studie eines so genannten Häretikers, seines idealen Mitbürgers aus Racalmuto, der 1658 den spanischen Inquisitor tötete, just als der ihn in der Folterkammer aufsuchte, und zwar mit seinen eisernen Handschellen (spätere Quellen sprechen von einem Foltereisen): sein Held Diego la Matina, der nach weiteren Folterungen in einem volksfestartigen Autodafé im Jahr auf dem Scheiterhaufen landet, bis zum Ende die Würde des Menschen hochhält, niemals einer nicht ausgewiesenen häretischen Schuld ¿nichts weiter als ein Menschlichsein, ein Sozialsein ¿ abschwört, vor Gott, gegen Gott argumentiert und diesen als ungerecht bezeichnet. Auf diesen idealen Mitbürger war Sciascia bei den Recherchen zu seinem von vielen als sein bestes bezeichneten Werk gestoßen ¿ das Ägyptische Konzil (1963), bekannt auch als der arabische Betrug. Sciascias Werk umfasst viele tausend Seiten. Der erste ins Deutsche übersetzte (Kriminal)Roman war Der Tag der Eule (1961), der erste in Italien, der die Mafia zum Thema hatte, Gewichtig auch Sciascias politische Karriere, die er 1975 als Kommunalpolitiker im Gemeinderat von Palermo begann (1967 war er mit der Familie in den Viale Scaduto nach P. gezogen), 1977 verlässt er unter Polemiken dieses Amt, was sich in Streitgesprächen und -schriften über die Rolle der Intellektuellen gegenüber dem Terrorismus niederschlägt; schreibt für zahlreiche nationale und sizilia
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Andreas Rossmann wühlt die Lektüre von Leonardo Sciascias Buch über den Fall Aldo Moro auch 45 Jahre nach der Erstveröffentlichung noch auf. Moros Ermordung durch die Roten Brigaden 1978 beleuchtet der Autor laut Rossmann wie ein Kriminologe. Dass Sciascia auch seinen Priandello und seinen Borges kennt und mit gespitzter Feder an die Interpretation des Falles und der folgenden politischen und gesellschaftlichen Diskurse geht, macht den Text für Rossmann umso lesenswerter. Eine erstaunliche Mischung aus genauer Recherche, Lektüre und Sprachkritik, meint Rossmann begeistert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.2023

Chronik eines angekündigten Todes
Der Leser als Detektiv: "Die Affaire Moro" von Leonardo Sciascia liegt in neuer, erhellender Übersetzung vor

Das Glühwürmchen gibt grünes Licht. Als Leonardo Sciascia auf seinem Abendspaziergang erstmals "seit mindestens vierzig Jahren" wieder eines von ihnen entdeckt, weckt das Erinnerungen: an seine sizilianische Kindheit, als sie "cannileddi di picuraru", Kerzlein der Schäfer, hießen, und an Pier Paolo Pasolini, der "im Namen der Glühwürmchen dem 'Palazzo' den Prozess machen" wollte. "Die Leere der Macht" war der Artikel überschrieben, der am 1. Februar 1975, neun Monate vor Pasolinis gewaltsamem Tod, im "Corriere della Sera" erschien und unter dem Titel "Von den Glühwürmchen" in "Freibeuterschriften" aufgenommen wurde.

Das Verschwinden der Glühwürmchen, das Anfang der Sechzigerjahre infolge der Umweltverschmutzung begann, nahm Pasolini als Metapher, um das christdemokratische "Regime" in zwei Phasen zu unterteilen: Vor dem Verschwinden galten die gleichen "Werte" (Kirche, Vaterland, Familie, Gehorsam, Disziplin, Ordnung, Sparsamkeit, Moral) wie im Faschismus, nach dem Verschwinden traten die "Werte" eines neuen Gesellschaftsmodells an ihre Stelle, das mit der bäuerlichen und frühindustriellen Welt nichts mehr gemein hat. "In der Übergangsphase (. . .) haben die christdemokratischen Machthaber fast mit einem Schlag ihre Ausdrucksweise geändert und sich einen völlig neuen Jargon angewöhnt", bemerkt Pasolini und nennt als Beispiel Aldo Moro, der, damals Ministerpräsident, zweieinhalb Jahre nach ihm Opfer eines Gewaltverbrechens werden sollte. Das gemeinsame Schicksal greift Sciascia auf: "Mit Pasolini. Für Pasolini" schreibt er "Die Affaire Moro" im Gedenken an den Freund, dem er sich "brüderlich und fern zugleich" seit 1951 verbunden fühlt, "als setzte ich nach über zwanzig Jahren einen Briefwechsel fort".

Ein Schlüsseltext über ein Schlüsselverbrechen: Am 16. März 1978, dem Tag, an dem im italienischen Parlament die erste christdemokratische Regierung vorgestellt werden soll, die mit den Stimmen der Kommunisten zustande kommt, wird Aldo Moro, Vorsitzender der Democrazia Cristiana (DC) und Architekt des "historischen Kompromisses", von den "Roten Brigaden" in Rom entführt; sie töten seine fünf Leibwächter und halten ihn bis zum 9. Mai, als sein Leichnam in einem Auto aufgefunden wird, gefangen - ein Anschlag auf den Staat, der das Land 55 Tage in Atem hielt und bis heute beschäftigt. Sciascia hatte zunächst erklärt, dazu lieber schweigen zu wollen, doch Moros Schicksal lässt ihm keine Ruhe. In einem Rutsch schreibt er "Die Affaire Moro", erschöpft schließt er das Pamphlet am 24. August ab. Das "Büchlein", das kurz darauf erscheint, habe, so notiert er im Tagebuch "Schwarz auf schwarz" (1979), dazu beigetragen, "die Wahrheit ans Licht zu bringen". Vieles, was erst danach bekannt wurde, hat ihn bestätigt.

Die Schrift ist kein Untersuchungsbericht, wie ihn Sciascia, der für den Partito Radicale in der Abgeordnetenkammer saß, 1982 als Vorsitzender einer Kommission der parlamentarischen Minderheit vorlegte (und er in dieser von Monika Lustig erhellend neu übersetzten Wiederauflage dokumentiert wird). Der Schriftsteller als Kriminologe, der Leser, so Fabio Stassi im Nachwort, als Detektiv: Mit an der Literatur, insbesondere an Pirandello und Borges geschulter Interpretationskunst rekonstruiert Sciascia die Entführung und unterzieht den Diskurs darüber - die Forderungen der Terroristen, Briefe Moros an die Partei und die Familie, Verlautbarungen der Politik und des Papstes, Appelle und Zeitungskommentare - einer labyrinthischen Recherche, in der mikroskopische Lektüre und zeitgeschichtliche Einordnung, sprachkritische Ironie und intellektueller Scharfsinn ineinandergreifen.

Hellhörig für Nebentöne und Ungereimtheiten erörtert Sciascia, warum Moro den ersten Brief an den Innenminister und nicht an den Justizminister adressiert hat, zieht daraus Rückschlüsse auf den Ort des "Volksgefängnisses", die der Polizei entgangen sind, und kommt auf die zentrale Frage eines Gefangenenaustauschs. Dass dieser in der Vergangenheit immer wieder stattgefunden hat, wie Moro seiner Partei in Erinnerung ruft, aber lässt die DC ihre unnachgiebige Haltung nicht aufgeben, vielmehr versichern in dem "erbarmungslosen Prozess der Vergeltung" fünfzig "langjährige Freunde" Moros feierlich, dass der Mann, der befreit werden will, nicht (mehr) der sei, "den wir kennen". Das "Melodram der Liebe für den Staat" erzählt auch die Geschichte der Entzweiung zwischen der DC und ihrem Vorsitzenden: "Mein Blut wird auf sie zurückfallen", schreibt Moro im letzten Brief an seine Frau. Die Gefangennahme schafft neue Konstellationen: Die Partei nimmt sie als Todesurteil, bei Leonardo Sciascia weckt sie Mitgefühl. "Ich stand Moros Politik ablehnend gegenüber. Doch ab dem Moment, da er in der Gewalt der Brigate Rosse war, ist er für mich zum Allernächsten geworden", sagte er 1981 im Gespräch.

Fünfundvierzig Jahre nach der Erstveröffentlichung bleibt "Die Affaire Moro" eine aufwühlende Lektüre. Das Buch hat den Autor verändert: "Der Fall Moro, das kann ich sagen, hat mein Leben gezeichnet", bekannte Sciascia im Jahr 1980. "Es steht jedenfalls fest, auch wenn es mir nicht gelänge, ein weiteres Buch zu schreiben, das über die 'Affaire' Moro hat mich vollauf befriedigt, als wäre es ein Kompendium all derer, die ich geschrieben habe oder die es mir nicht mehr gelingt zu schreiben." ANDREAS ROSSMANN

Leonardo Sciascia: "Die Affaire Moro". Ein Roman.

Aus dem Italienischen von Monika Lustig. Essay von Fabio Stassi. Edition Converso, Karlsruhe 2023.

240 S., geb., 24.- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr