Moskau. Eröffnet wird die Botschaft eines Landes, das man auf der Weltkarte vergeblich sucht. Der Name des geheimnisvollen Landes: die Akimuden. Die Beziehungen zwischen Moskau und den Akimuden führen zu einer ganzen Kette unglaublicher Ereignisse - komischer und absurder, poetischer und tragischer, mit Liebenden, mit Spionen ... Viktor Jerofejew, legendärer Chronist der permanenten Apokalypse in Russland und Autor des Kultbuchs "Der gute Stalin", kehrt auf die Bühne der Weltliteratur zurück. "Die Akimuden", ein atemberaubender Science-Fiction-Historien-Thriller, wagt einen Blick zurück in die Zukunft, dorthin, wo sich Russlands Schicksal entscheidet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2013Als Absacker eine Liebesnacht mit der auferstandenen Kleopatra
Viktor Jerofejew ist der Stardolmetscher der russischen Seele. In seinem neuen Roman "Die Akimuden" blickt der Autor in die blutige Vergangenheit und phantastische Zukunft seiner Heimat.
Von Kerstin Holm
Es muss schon ein begnadeter Schriftsteller sein, der sein ganz persönliches Leben, mit nur sparsamen Beimischungen von Science-Fiction, in einen Roman verwandeln kann. Gelungen ist das Viktor Jerofejew, dem literarischen wie publizistischen Deuter der russischen Dauerkatastrophe, mit deren Abgründen er so vertraut ist, dass er sie als Meisterschüler des Marquis de Sade auch zu genießen versteht, zumal er stets der olympisch aristokratischen Perspektive des Freundes und Kenners der Reichen, Berühmten und Mächtigen treu bleibt. Darin kommt ihm keiner gleich. Jerofejew, der Diplomatensohn, der in Paris aufwuchs und als europäischer Russe der Freigeisterei und der gepflegten Libertinage frönt, hält in Moskau zu den führenden Köpfen des Establishments und der Opposition gleichermaßen freundschaftlichen Kontakt und hat die Literatur zur höheren Form der Diplomatie gemacht.
Der Roman "Die Akimuden", der dieses Jahr im russischen Original und prompt auch in deutscher Übersetzung bei Hanser Berlin herauskam, ist nach längerer Pause, Jerofejews Erfolgsbuch "Der gute Stalin", etlichen Essaysammlungen und Reiseerzählungen endlich wieder einmal ein belletristisches Großwerk. Belletristisch? Der Autor feuert die schwere Artillerie der Phantastik ab, er lässt Tote auferstehen, über die Lebenden herfallen und die Macht übernehmen; eine Gesandtschaft von Außerirdischen tritt auf, die Flugzeuge verschwinden lassen und ihr Aussehen ihrer Umgebung anpassen können. Doch zu deren irdischem Intimfreund wird der Erzähler, dessen Ich ganz buchstäblich zu verstehen ist. Jerofejew, der Stardolmetscher der Seele seines Landes, verarbeitet in diesem vorläufigen künstlerischen Fazit neben älteren Reportagetexten vor allem sein dankbarstes Material, als welches sich sein familiärer und erotischer Memoirenschatz erwiesen hat.
Der Aufstand der russischen Toten hat, wie dem begriffsstutzigen Teil des Publikums vom erklärungsfreudigen Erzähler verraten wird, seine Gründe im Bleigewicht unbewältigter historischer Traumata einerseits und dem nationalen Vergangenheitskult andererseits. Er wendet die utopische Vision des russischen Philosophen Nikolai Fjodorow, die verstorbenen Ahnen wiederauferstehen zu lassen, an auf realgeschichtliche Vorväter, die revolutionsbedingt ihren Nachkommen zum Opfer fielen und, einmal reanimiert, Wiedergutmachung fordern. So bestrafen die Götter die von ihnen abgefallene Menschheit, vorerst nur auf ihrem planetaren Übungsgelände Russland.
Jerofejew, Jahrgang 1947 und damit in dem Alter, in dem man sich selbst historisch wird, verarbeitet auch eigene Begegnungen mit dem Tod, insbesondere dem seiner Eltern, die er in einem Schwebezustand zwischen Diesseits und Jenseits auftreten lässt. Sein Autor-Ich muss seine Wohnung mit obdachlosen Toten teilen, die bei ihm einquartiert und von Lebenden bald ununterscheidbar werden. In der einen oder anderen auferstandenen Frau meint er gar eine frühere Geliebte zu erkennen. Zur Freude von Liebhabern literarischer Lüsternheiten legt der bekennende Sybarit Jerofejew aber auch eine Lebensbeichte ab. Man erfährt, dass der leidenschaftliche Konsument französischer Delikatessen und Weine sich einen solchen Tonnenbauch angefressen hat, dass seine bisherige schöne Frau, die wahrscheinlich nur aus juristischer Vorsicht umbenannt wurde, im Bett streikt. Zum Glück trifft er eine noch Schönere, die sich sogar von den Warnungen der Schriftstellermutter vor seiner Lasterhaftigkeit nicht abschrecken lässt, im Gegenteil. Wie der Russe seine jetzige, wirklich wie von Botticelli erschaffene Gattin geradezu obsessiv anhand ihrer Intimzonen schildert, das hat etwas vom späten Picasso und dessen monomanen Genital-Kürzeln, freilich ohne dessen Elementargrandezza.
Überhaupt liest sich diese grell und szenisch wie ein Drehbuch geschriebene Beichte als ein Credo. Dass er treue Fans an der Nase herumführt und von russischen Regimegegnern, Machthabern, Kirchenmännern, Feministinnen fast gleichermaßen angefeindet wird, macht den Autor richtig stolz. Außerdem könne er nur zwischen allen Stühlen sitzend das Weltgeschehen verstehen und vielleicht beeinflussen, rechtfertigt er sich. Die wie ein obligates Gewürz über den Text ausgestreuten Namen des mit ihm bekannten amerikanischen Botschafters, des Oligarchen, des kremlnahen Musikers, die selbst nur ultrakurz oder gar nicht erscheinen, prädestinieren Jerofejew zum Fremdenführer des Götterbotschafters durchs Erdenleben. Der ist von Jerofejews savoir vivre begeistert und beginnt mit ihm und seiner Venus gar eine Dreiecksromanze. Und gibt, als positiv gewendete Antwort auf den Teufelsball in Bulgakows "Meister und Margarita", für Russlands Superdiplomaten einen Ball mit dessen kulturellen Ahnen, den klassischen Schriftstellern, die dazu eigens auferstehen, sowie als Absacker eine exklusive Liebesnacht mit der wiederbelebten Kleopatra.
Freilich, hinsichtlich der Begeisterung seiner Landsleute über sein Credo macht Jerofejew sich kaum Illusionen. Seine Revolution der Toten meint auch die Herrschaft des ressentimentgeladenen grauen Mobs sowie der lebensfeindlichen Prüderie, die er wie eine Nemesis im Anmarsch sieht. Jerofejew dichtet Alternativen, doch die misslingen gründlich. Dass sein Himmelsbote, der ein Evangelium der Sinnenfreude stiftet, Russland damit zu neuer Blüte führt, behauptet er nur. Dass die Überlebenswettkampfshow in den Tropen, die Jerofejew rekapituliert, als Argument taugt, dass Russen jedes Paradies zerstören, überzeugt nur bedingt. Historisch gelangen in Russland Reformen nur von harter Hand, etwa der eines Peters des Großen. Also träumt Jerofejew von einer Diktatur der Aufklärung für sein Land, für die es vor dem Versiegen der Rohstoffe nicht mal ein Motiv gibt.
Viktor Jerofejew: "Die Akimuden".
Roman.
Aus dem Russischen von Beate Rausch. Verlag Hanser Berlin, Berlin 2013. 461 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viktor Jerofejew ist der Stardolmetscher der russischen Seele. In seinem neuen Roman "Die Akimuden" blickt der Autor in die blutige Vergangenheit und phantastische Zukunft seiner Heimat.
Von Kerstin Holm
Es muss schon ein begnadeter Schriftsteller sein, der sein ganz persönliches Leben, mit nur sparsamen Beimischungen von Science-Fiction, in einen Roman verwandeln kann. Gelungen ist das Viktor Jerofejew, dem literarischen wie publizistischen Deuter der russischen Dauerkatastrophe, mit deren Abgründen er so vertraut ist, dass er sie als Meisterschüler des Marquis de Sade auch zu genießen versteht, zumal er stets der olympisch aristokratischen Perspektive des Freundes und Kenners der Reichen, Berühmten und Mächtigen treu bleibt. Darin kommt ihm keiner gleich. Jerofejew, der Diplomatensohn, der in Paris aufwuchs und als europäischer Russe der Freigeisterei und der gepflegten Libertinage frönt, hält in Moskau zu den führenden Köpfen des Establishments und der Opposition gleichermaßen freundschaftlichen Kontakt und hat die Literatur zur höheren Form der Diplomatie gemacht.
Der Roman "Die Akimuden", der dieses Jahr im russischen Original und prompt auch in deutscher Übersetzung bei Hanser Berlin herauskam, ist nach längerer Pause, Jerofejews Erfolgsbuch "Der gute Stalin", etlichen Essaysammlungen und Reiseerzählungen endlich wieder einmal ein belletristisches Großwerk. Belletristisch? Der Autor feuert die schwere Artillerie der Phantastik ab, er lässt Tote auferstehen, über die Lebenden herfallen und die Macht übernehmen; eine Gesandtschaft von Außerirdischen tritt auf, die Flugzeuge verschwinden lassen und ihr Aussehen ihrer Umgebung anpassen können. Doch zu deren irdischem Intimfreund wird der Erzähler, dessen Ich ganz buchstäblich zu verstehen ist. Jerofejew, der Stardolmetscher der Seele seines Landes, verarbeitet in diesem vorläufigen künstlerischen Fazit neben älteren Reportagetexten vor allem sein dankbarstes Material, als welches sich sein familiärer und erotischer Memoirenschatz erwiesen hat.
Der Aufstand der russischen Toten hat, wie dem begriffsstutzigen Teil des Publikums vom erklärungsfreudigen Erzähler verraten wird, seine Gründe im Bleigewicht unbewältigter historischer Traumata einerseits und dem nationalen Vergangenheitskult andererseits. Er wendet die utopische Vision des russischen Philosophen Nikolai Fjodorow, die verstorbenen Ahnen wiederauferstehen zu lassen, an auf realgeschichtliche Vorväter, die revolutionsbedingt ihren Nachkommen zum Opfer fielen und, einmal reanimiert, Wiedergutmachung fordern. So bestrafen die Götter die von ihnen abgefallene Menschheit, vorerst nur auf ihrem planetaren Übungsgelände Russland.
Jerofejew, Jahrgang 1947 und damit in dem Alter, in dem man sich selbst historisch wird, verarbeitet auch eigene Begegnungen mit dem Tod, insbesondere dem seiner Eltern, die er in einem Schwebezustand zwischen Diesseits und Jenseits auftreten lässt. Sein Autor-Ich muss seine Wohnung mit obdachlosen Toten teilen, die bei ihm einquartiert und von Lebenden bald ununterscheidbar werden. In der einen oder anderen auferstandenen Frau meint er gar eine frühere Geliebte zu erkennen. Zur Freude von Liebhabern literarischer Lüsternheiten legt der bekennende Sybarit Jerofejew aber auch eine Lebensbeichte ab. Man erfährt, dass der leidenschaftliche Konsument französischer Delikatessen und Weine sich einen solchen Tonnenbauch angefressen hat, dass seine bisherige schöne Frau, die wahrscheinlich nur aus juristischer Vorsicht umbenannt wurde, im Bett streikt. Zum Glück trifft er eine noch Schönere, die sich sogar von den Warnungen der Schriftstellermutter vor seiner Lasterhaftigkeit nicht abschrecken lässt, im Gegenteil. Wie der Russe seine jetzige, wirklich wie von Botticelli erschaffene Gattin geradezu obsessiv anhand ihrer Intimzonen schildert, das hat etwas vom späten Picasso und dessen monomanen Genital-Kürzeln, freilich ohne dessen Elementargrandezza.
Überhaupt liest sich diese grell und szenisch wie ein Drehbuch geschriebene Beichte als ein Credo. Dass er treue Fans an der Nase herumführt und von russischen Regimegegnern, Machthabern, Kirchenmännern, Feministinnen fast gleichermaßen angefeindet wird, macht den Autor richtig stolz. Außerdem könne er nur zwischen allen Stühlen sitzend das Weltgeschehen verstehen und vielleicht beeinflussen, rechtfertigt er sich. Die wie ein obligates Gewürz über den Text ausgestreuten Namen des mit ihm bekannten amerikanischen Botschafters, des Oligarchen, des kremlnahen Musikers, die selbst nur ultrakurz oder gar nicht erscheinen, prädestinieren Jerofejew zum Fremdenführer des Götterbotschafters durchs Erdenleben. Der ist von Jerofejews savoir vivre begeistert und beginnt mit ihm und seiner Venus gar eine Dreiecksromanze. Und gibt, als positiv gewendete Antwort auf den Teufelsball in Bulgakows "Meister und Margarita", für Russlands Superdiplomaten einen Ball mit dessen kulturellen Ahnen, den klassischen Schriftstellern, die dazu eigens auferstehen, sowie als Absacker eine exklusive Liebesnacht mit der wiederbelebten Kleopatra.
Freilich, hinsichtlich der Begeisterung seiner Landsleute über sein Credo macht Jerofejew sich kaum Illusionen. Seine Revolution der Toten meint auch die Herrschaft des ressentimentgeladenen grauen Mobs sowie der lebensfeindlichen Prüderie, die er wie eine Nemesis im Anmarsch sieht. Jerofejew dichtet Alternativen, doch die misslingen gründlich. Dass sein Himmelsbote, der ein Evangelium der Sinnenfreude stiftet, Russland damit zu neuer Blüte führt, behauptet er nur. Dass die Überlebenswettkampfshow in den Tropen, die Jerofejew rekapituliert, als Argument taugt, dass Russen jedes Paradies zerstören, überzeugt nur bedingt. Historisch gelangen in Russland Reformen nur von harter Hand, etwa der eines Peters des Großen. Also träumt Jerofejew von einer Diktatur der Aufklärung für sein Land, für die es vor dem Versiegen der Rohstoffe nicht mal ein Motiv gibt.
Viktor Jerofejew: "Die Akimuden".
Roman.
Aus dem Russischen von Beate Rausch. Verlag Hanser Berlin, Berlin 2013. 461 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Viktor Jerofejews neuer Roman "Die Akimuden" hat bei Katharina Granzin einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen. Das Geschichte - Russland wird von Zombies heimgesucht, die zunehmend das gesellschaftliche und politische Leben bestimmen - vereint für sie gekonnt dystopische und surrealistische Elemente und punktet immer wieder durch witzige-absurde Dialogen. Auch eine ordentliche Portion Erotik fehlt nach Auskunft der Rezensentin nicht. Allerdings hätte sie sich gewünscht, der Autor hätte seinen ausufernden Wortfluss besser gestaltet, um aus der Vielzahl der Stimmen eine echte Polyphonie zu erschaffen. Denn die schöne "Metapher vom politischen Zombietum" in Russland geht in diesem Strudel zu ihrem Bedauern unter.
© Perlentaucher Medien GmbH
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