Am Vorabend des Ersten Weltkriegs verbringen die Ehepaare Ashburnham und Dowell alljährlich glückliche Tage in Bad Nauheim. Erst nach dem Tod seiner Frau entdeckt John Dowell, dass der Schein in all den Jahren getrogen hat, und er beginnt, den wahren Charakter seiner Freunde und seiner Frau zu erkennen. Ein bewegender Roman, der den Leser mit jedem seiner betörenden Sätze tiefer in das Labyrinth der menschlichen Seele lockt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.2019Wahrheit und Lüge und ein ganzes Leben dazwischen
Unter Herzkranken: Ford Madox Fords Ehebruchsroman "Die allertraurigste Geschichte" als Neuausgabe
In einem nachträglichen Widmungsbrief an "Stella Ford", verfasst im Januar 1927 und abgedruckt zu Anfang der kürzlich bei Diogenes erschienenen Neuausgabe von Ford Madox Fords "Die allertraurigste Geschichte", bezeichnet der Autor seinen Roman über zwei einander in den Kurorten, Hauptstädten und Landhäusern Europas belügende und betrügende Ehepaare als "wahre Geschichte". Der Mann, von dem sie stamme, heiße Edward Ashburnham, wie der Protagonist des Romans, der "gute Soldat" des Titels im englischen Original. Dessen Tod und den der anderen Beteiligten habe er abwarten müssen, bevor er sich an die Arbeit machen konnte. Das Resultat dieser Arbeit, schreibt er nun, wurde sein bestes Buch.
Wenn auch nicht gerade bescheiden, ist diese letzte Behauptung wohl unbestreitbar. Bei der Bewertung des Rests helfen die drei besten Freunde eines Ford-Lesers: Skepsis, das Wort "sondern", die Setzung von Anführungszeichen. Bereits der Name des Briefschreibers ist größtenteils erdichtet. 1873 in der Grafschaft Surrey als Ford Hermann Hueffer geboren (entgegen einem selbstgestreuten Gerücht entstammte er väterlicherseits nicht deutschen Baronen, sondern einer Münsteraner Verlegerfamilie), veröffentlichte er die ersten seiner über achtzig Werke als Ford Hueffer. Eine Weile erschienen seine Bücher, darunter "Die allertraurigste Geschichte" im Jahr 1915, unter dem Namen Ford Madox Hueffer, eine Hommage an seinen Großvater, den präraffaelitischen Maler Ford Madox Brown.
Zu Ford Madox Ford wurde er erst 1919, nachdem er im Alter von einundvierzig Jahren mehr als überflüssiger denn als guter Soldat freiwillig und unter deutschem Namen mit der britischen Armee in den Ersten Weltkrieg gezogen war. Die Adressatin wiederum hieß noch weniger Ford als Ford selbst, nämlich gar nicht. Ebenso wenig war Stella Bowen jemals seine Ehefrau, wie es nicht nur er suggeriert, sondern auch das Impressum der Diogenes-Ausgabe, sondern eine von mehreren Geliebten, die Ford im Laufe seines Lebens vorgab, geheiratet zu haben. Und selbst nach Veröffentlichung mehrerer Ford-Biographien ist die Existenz eines "echten" Edward Ashburnham, gelinde gesagt, nicht belegt.
Kleinkarierte biographische Anmerkungen dieser Art sind hier nicht lediglich als Versuch zu verstehen, der notorisch unbeantworteten Frage "Wer in aller Welt war Ford Madox Ford?" (so der etwas manische Titel einer BBC-Sendung vor einigen Jahren) auf den Grund zu gehen. Vielmehr sind sie formell und thematisch instruktiv im Umgang mit dem, in den Worten des britischen Kunstkritikers Herbert Read, "ausgezeichnetsten Lügners unserer Zeit", der mal erzählte, Henry James habe ihn mit Tränen in den Augen um Hilfe bei einem Roman gebeten, mal, der französische Meisterkoch Auguste Escoffier habe einmal zu ihm gesagt: "Ich könnte Kochen von dir lernen, Ford." Wie bei vielen guten Lügen - und guten Fiktionen generell - ist all das weniger erfunden als hergestellt, fabriziert aus dem Rohmaterial gelebter Erfahrung.
Ehebruch, Erpressung, Selbstmord: Keine Katastrophe wird ausgespart.
Als Herausgeber zwei der einflussreichsten Literaturzeitschriften des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, der "English Review" und der "Transatlantic Review", stand Ford James und anderen Größen des englischsprachigen Modernismus durchaus nahe: Zusammen mit Joseph Conrad verfasste er einen Seeräuberroman, Ezra Pound riet er, er solle nicht so unverständlich schreiben, Jean Rhys verhalf er, wenig überraschend, zu einem Geliebten (sich selbst) und, noch weniger überraschend, zu ihrem Künstlernamen. D. H. Lawrence nannte ihn "jedermanns begnadeten Onkel".
Ein ziemlich begabter Koch scheint er ebenfalls wirklich gewesen zu sein; an das französische Rehgericht, das er 1937 nach einer Literaturkonferenz in Boulder, Colorado, zubereitete, erinnerte sich der amerikanische Dichter Robert Lowell noch über zwanzig Jahre später als das beste Abendessen seines Lebens - derart paradiesisch sei es gewesen, so Lowells beinahe unglaubwürdig fordianischer Zusatz, dass man gar nicht bemerkt habe, dass das Wild eigentlich Lammfleisch war.
Faktische Unzulänglichkeit, emotionale Orientierungslosigkeit, ein bis zur Selbstauflösung poröses Verständnis von Identität - womit Ford sich sein Leben lang amüsierte und plagte, hat er seinem Roman nicht nur nicht erspart, sondern es zu seinen strukturellen Prinzipien erhoben. Eine bloße Zusammenfassung der Handlung liest sich wie ein Konterschlag gegen den Vorwurf, im modernen Roman passiere nichts: Im Sommer 1904 lernen Hauptmann Edward Ashburnham und seine Frau Leonora das amerikanische Expat-Ehepaar John und Florence Dowell im hessischen Kurbad Nauheim kennen, wo sich Edward und Florence von ihren Herzleiden erholen sollen. Neun Jahre später sind beide tot, Leonora ist neu vermählt, und Dowell pflegt Ashburnhams letzte, wahnsinnig gewordene Geliebte Nancy Rufford.
In der Tat gibt es kaum eine persönliche Katastrophe - Selbstmord, Ehebruch, Nervenzusammenbrüche, Erpressung, Stürme auf hoher See -, die nicht mindestens einem seiner Protagonisten widerfährt. Doch mehr als die atemberaubenden zwischenmenschlichen Wirrungen, von denen sie erzählt, ist es ihre eigentümliche und beunruhigende Beziehung zu dem, was wir, mit zunehmend flauem Gefühl, "die Wahrheit" nennen, von der die allertraurigste Traurigkeit dieser Geschichte heute auszugehen scheint. Diese Relevanz mag auch den Verlag dazu verleitet haben, das Buch möglichst bald herauszugeben, dafür in einer nur leicht überarbeiteten Version von Fritz Lorchs und Helene Henzes Übersetzung.
Diesem Erzähler kann man nicht trauen: Er glaubt sich ja selbst nicht.
Etwas am Herzen zu haben bedeutet in Fords Herzkrankenroman immer auch, etwas auf dem Herzen zu haben - und es dann entweder vor anderen zu verheimlichen oder es so lange zu ignorieren, bis man selbst daran zugrunde geht: Ashburnham verbirgt seine Affären mit einer Reihe trauriger Frauen, die er glaubt nur zu verführen, um sie zu trösten; Leonora ohrfeigt eine dieser Frauen so heimlich, wie sie die miserablen Finanzen ihres Mannes regelt; Florences Geheimnis ist ihr schwaches Herz, das sie lediglich erfunden hat, um sich ihren Mann, nicht aber Edward Ashburnham, vom Leib zu halten. Fords Ich-Erzähler Dowell hingegen täuscht vor allem den Leser und verliert dabei keine Zeit: "Dies ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe", behauptet er wie ein Unbeteiligter im berühmten, sehr verbindlich klingenden ersten Satz des Romans, dabei ist er tief in sie verstrickt. Oder, wie er es formulieren würde, doch nicht?
Von Anfang an spielt uns Ford so gegen unser eigenes Bedürfnis aus, seinem Erzähler entweder zu vertrauen oder eben nicht zu vertrauen, einem Erzähler, der jedoch weniger als Lügner denn als Post-Truth-Pionier in Erscheinung tritt. Weder scheint er darüber Bescheid zu wissen, ob er über seine Protagonisten Bescheid weiß ("Meine Frau und ich kannten Hauptmann und Mrs. Ashburnham so gut, wie man jemanden nur kennen kann, und doch wussten wir auch wieder gar nichts von ihnen"), noch will er ein Urteil darüber fällen, was für eine Art von Geschichte er da überhaupt erzählt (eine Tragödie könne es nicht sein, schließlich finde sich in ihr "nichts Erhebendes", andererseits sei sie bevölkert von "edlen Menschen"). Selbst die eigenen Defizite als Erzähler hebt er ebenso oft hervor, wie er sie in Frage stellt: "Ist das nun eine Abschweifung oder ist es keine Abschweifung?" Mal nennt er Ashburnhams Verhalten "verrucht", dann wieder insistiert er, dieser sei edel und aufrecht. Mal will er zu arglos gewesen sein, um Florences Affären als Affären, ihren Selbstmord als Selbstmord zu erkennen, dann wieder referiert er wissend über Leidenschaft und Betrug. Mal spricht er von Nancy, als wäre sie tot, dann wieder erzählt er, sie vegetiere neben ihm dahin, das Wort "Federbälle" vor sich hinmurmelnd - ein flüchtiger Moment der Einsicht nicht nur in ihr eigenes Ausgeliefertsein, sondern auch das des Lesers, hin- und hergeschmettert zwischen entgegengesetzten Positionen, mit Dowell als einzigem, grotesk langarmigen Spieler.
Mit jedem Dowellschen "Ich weiß nicht" rückt jedoch die schwindelerregende Erkenntnis näher, dass in all seinen sorgfältig errichteten Entweder-oder-Szenarien nicht das eine oder das andere zutrifft, sondern beides oder nichts oder etwas völlig anderes. Dass Dowells Täuschungsmanöver nicht in einer Verdrehung der Tatsachen besteht, sondern im Erwecken des Anscheins, es gäbe einen Unterschied zwischen literarischer Täuschung und Tatsache, zwischen erzählerischer Zuverlässigkeit und Unzuverlässigkeit, um diesen dann so gewissenhaft zu untergraben, dass am Ende nur eine sehnsüchtige Erinnerung an solche Kategorien übrig bleibt.
Ihm durch "Die allertraurigste Geschichte" zu folgen ist, wie von jemandem an der Hand ins offene Meer geführt zu werden, der vorgibt, selbst nicht zu wissen, ob er ein guter Schwimmer ist. Elektrisiert und erschüttert, dass dies die einzige Hand ist, die wir haben, setzen wir einen Fuß vor den anderen.
Schwindlern und Hochstaplern legt man gerne nahe, doch lieber Romane zu schreiben. Diesen Rat eher eskalierend als befolgend, hat Ford einen Roman über einen Schwindler geschrieben, der die lebenswichtige Grenze zwischen Nichtwissen und Nicht-wissen-Können so meisterhaft verwischt, dass wir nie ganz sicher sein können, ob er wirklich einer ist.
KATHARINA LASZLO.
Ford Madox Ford: "Die allertraurigste Geschichte".
Aus dem Englischen von Fritz Lorch und Helene Henze. Nachwort von Julian Barnes. Diogenes Verlag, Zürich 2018. 320 S., geb., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unter Herzkranken: Ford Madox Fords Ehebruchsroman "Die allertraurigste Geschichte" als Neuausgabe
In einem nachträglichen Widmungsbrief an "Stella Ford", verfasst im Januar 1927 und abgedruckt zu Anfang der kürzlich bei Diogenes erschienenen Neuausgabe von Ford Madox Fords "Die allertraurigste Geschichte", bezeichnet der Autor seinen Roman über zwei einander in den Kurorten, Hauptstädten und Landhäusern Europas belügende und betrügende Ehepaare als "wahre Geschichte". Der Mann, von dem sie stamme, heiße Edward Ashburnham, wie der Protagonist des Romans, der "gute Soldat" des Titels im englischen Original. Dessen Tod und den der anderen Beteiligten habe er abwarten müssen, bevor er sich an die Arbeit machen konnte. Das Resultat dieser Arbeit, schreibt er nun, wurde sein bestes Buch.
Wenn auch nicht gerade bescheiden, ist diese letzte Behauptung wohl unbestreitbar. Bei der Bewertung des Rests helfen die drei besten Freunde eines Ford-Lesers: Skepsis, das Wort "sondern", die Setzung von Anführungszeichen. Bereits der Name des Briefschreibers ist größtenteils erdichtet. 1873 in der Grafschaft Surrey als Ford Hermann Hueffer geboren (entgegen einem selbstgestreuten Gerücht entstammte er väterlicherseits nicht deutschen Baronen, sondern einer Münsteraner Verlegerfamilie), veröffentlichte er die ersten seiner über achtzig Werke als Ford Hueffer. Eine Weile erschienen seine Bücher, darunter "Die allertraurigste Geschichte" im Jahr 1915, unter dem Namen Ford Madox Hueffer, eine Hommage an seinen Großvater, den präraffaelitischen Maler Ford Madox Brown.
Zu Ford Madox Ford wurde er erst 1919, nachdem er im Alter von einundvierzig Jahren mehr als überflüssiger denn als guter Soldat freiwillig und unter deutschem Namen mit der britischen Armee in den Ersten Weltkrieg gezogen war. Die Adressatin wiederum hieß noch weniger Ford als Ford selbst, nämlich gar nicht. Ebenso wenig war Stella Bowen jemals seine Ehefrau, wie es nicht nur er suggeriert, sondern auch das Impressum der Diogenes-Ausgabe, sondern eine von mehreren Geliebten, die Ford im Laufe seines Lebens vorgab, geheiratet zu haben. Und selbst nach Veröffentlichung mehrerer Ford-Biographien ist die Existenz eines "echten" Edward Ashburnham, gelinde gesagt, nicht belegt.
Kleinkarierte biographische Anmerkungen dieser Art sind hier nicht lediglich als Versuch zu verstehen, der notorisch unbeantworteten Frage "Wer in aller Welt war Ford Madox Ford?" (so der etwas manische Titel einer BBC-Sendung vor einigen Jahren) auf den Grund zu gehen. Vielmehr sind sie formell und thematisch instruktiv im Umgang mit dem, in den Worten des britischen Kunstkritikers Herbert Read, "ausgezeichnetsten Lügners unserer Zeit", der mal erzählte, Henry James habe ihn mit Tränen in den Augen um Hilfe bei einem Roman gebeten, mal, der französische Meisterkoch Auguste Escoffier habe einmal zu ihm gesagt: "Ich könnte Kochen von dir lernen, Ford." Wie bei vielen guten Lügen - und guten Fiktionen generell - ist all das weniger erfunden als hergestellt, fabriziert aus dem Rohmaterial gelebter Erfahrung.
Ehebruch, Erpressung, Selbstmord: Keine Katastrophe wird ausgespart.
Als Herausgeber zwei der einflussreichsten Literaturzeitschriften des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, der "English Review" und der "Transatlantic Review", stand Ford James und anderen Größen des englischsprachigen Modernismus durchaus nahe: Zusammen mit Joseph Conrad verfasste er einen Seeräuberroman, Ezra Pound riet er, er solle nicht so unverständlich schreiben, Jean Rhys verhalf er, wenig überraschend, zu einem Geliebten (sich selbst) und, noch weniger überraschend, zu ihrem Künstlernamen. D. H. Lawrence nannte ihn "jedermanns begnadeten Onkel".
Ein ziemlich begabter Koch scheint er ebenfalls wirklich gewesen zu sein; an das französische Rehgericht, das er 1937 nach einer Literaturkonferenz in Boulder, Colorado, zubereitete, erinnerte sich der amerikanische Dichter Robert Lowell noch über zwanzig Jahre später als das beste Abendessen seines Lebens - derart paradiesisch sei es gewesen, so Lowells beinahe unglaubwürdig fordianischer Zusatz, dass man gar nicht bemerkt habe, dass das Wild eigentlich Lammfleisch war.
Faktische Unzulänglichkeit, emotionale Orientierungslosigkeit, ein bis zur Selbstauflösung poröses Verständnis von Identität - womit Ford sich sein Leben lang amüsierte und plagte, hat er seinem Roman nicht nur nicht erspart, sondern es zu seinen strukturellen Prinzipien erhoben. Eine bloße Zusammenfassung der Handlung liest sich wie ein Konterschlag gegen den Vorwurf, im modernen Roman passiere nichts: Im Sommer 1904 lernen Hauptmann Edward Ashburnham und seine Frau Leonora das amerikanische Expat-Ehepaar John und Florence Dowell im hessischen Kurbad Nauheim kennen, wo sich Edward und Florence von ihren Herzleiden erholen sollen. Neun Jahre später sind beide tot, Leonora ist neu vermählt, und Dowell pflegt Ashburnhams letzte, wahnsinnig gewordene Geliebte Nancy Rufford.
In der Tat gibt es kaum eine persönliche Katastrophe - Selbstmord, Ehebruch, Nervenzusammenbrüche, Erpressung, Stürme auf hoher See -, die nicht mindestens einem seiner Protagonisten widerfährt. Doch mehr als die atemberaubenden zwischenmenschlichen Wirrungen, von denen sie erzählt, ist es ihre eigentümliche und beunruhigende Beziehung zu dem, was wir, mit zunehmend flauem Gefühl, "die Wahrheit" nennen, von der die allertraurigste Traurigkeit dieser Geschichte heute auszugehen scheint. Diese Relevanz mag auch den Verlag dazu verleitet haben, das Buch möglichst bald herauszugeben, dafür in einer nur leicht überarbeiteten Version von Fritz Lorchs und Helene Henzes Übersetzung.
Diesem Erzähler kann man nicht trauen: Er glaubt sich ja selbst nicht.
Etwas am Herzen zu haben bedeutet in Fords Herzkrankenroman immer auch, etwas auf dem Herzen zu haben - und es dann entweder vor anderen zu verheimlichen oder es so lange zu ignorieren, bis man selbst daran zugrunde geht: Ashburnham verbirgt seine Affären mit einer Reihe trauriger Frauen, die er glaubt nur zu verführen, um sie zu trösten; Leonora ohrfeigt eine dieser Frauen so heimlich, wie sie die miserablen Finanzen ihres Mannes regelt; Florences Geheimnis ist ihr schwaches Herz, das sie lediglich erfunden hat, um sich ihren Mann, nicht aber Edward Ashburnham, vom Leib zu halten. Fords Ich-Erzähler Dowell hingegen täuscht vor allem den Leser und verliert dabei keine Zeit: "Dies ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe", behauptet er wie ein Unbeteiligter im berühmten, sehr verbindlich klingenden ersten Satz des Romans, dabei ist er tief in sie verstrickt. Oder, wie er es formulieren würde, doch nicht?
Von Anfang an spielt uns Ford so gegen unser eigenes Bedürfnis aus, seinem Erzähler entweder zu vertrauen oder eben nicht zu vertrauen, einem Erzähler, der jedoch weniger als Lügner denn als Post-Truth-Pionier in Erscheinung tritt. Weder scheint er darüber Bescheid zu wissen, ob er über seine Protagonisten Bescheid weiß ("Meine Frau und ich kannten Hauptmann und Mrs. Ashburnham so gut, wie man jemanden nur kennen kann, und doch wussten wir auch wieder gar nichts von ihnen"), noch will er ein Urteil darüber fällen, was für eine Art von Geschichte er da überhaupt erzählt (eine Tragödie könne es nicht sein, schließlich finde sich in ihr "nichts Erhebendes", andererseits sei sie bevölkert von "edlen Menschen"). Selbst die eigenen Defizite als Erzähler hebt er ebenso oft hervor, wie er sie in Frage stellt: "Ist das nun eine Abschweifung oder ist es keine Abschweifung?" Mal nennt er Ashburnhams Verhalten "verrucht", dann wieder insistiert er, dieser sei edel und aufrecht. Mal will er zu arglos gewesen sein, um Florences Affären als Affären, ihren Selbstmord als Selbstmord zu erkennen, dann wieder referiert er wissend über Leidenschaft und Betrug. Mal spricht er von Nancy, als wäre sie tot, dann wieder erzählt er, sie vegetiere neben ihm dahin, das Wort "Federbälle" vor sich hinmurmelnd - ein flüchtiger Moment der Einsicht nicht nur in ihr eigenes Ausgeliefertsein, sondern auch das des Lesers, hin- und hergeschmettert zwischen entgegengesetzten Positionen, mit Dowell als einzigem, grotesk langarmigen Spieler.
Mit jedem Dowellschen "Ich weiß nicht" rückt jedoch die schwindelerregende Erkenntnis näher, dass in all seinen sorgfältig errichteten Entweder-oder-Szenarien nicht das eine oder das andere zutrifft, sondern beides oder nichts oder etwas völlig anderes. Dass Dowells Täuschungsmanöver nicht in einer Verdrehung der Tatsachen besteht, sondern im Erwecken des Anscheins, es gäbe einen Unterschied zwischen literarischer Täuschung und Tatsache, zwischen erzählerischer Zuverlässigkeit und Unzuverlässigkeit, um diesen dann so gewissenhaft zu untergraben, dass am Ende nur eine sehnsüchtige Erinnerung an solche Kategorien übrig bleibt.
Ihm durch "Die allertraurigste Geschichte" zu folgen ist, wie von jemandem an der Hand ins offene Meer geführt zu werden, der vorgibt, selbst nicht zu wissen, ob er ein guter Schwimmer ist. Elektrisiert und erschüttert, dass dies die einzige Hand ist, die wir haben, setzen wir einen Fuß vor den anderen.
Schwindlern und Hochstaplern legt man gerne nahe, doch lieber Romane zu schreiben. Diesen Rat eher eskalierend als befolgend, hat Ford einen Roman über einen Schwindler geschrieben, der die lebenswichtige Grenze zwischen Nichtwissen und Nicht-wissen-Können so meisterhaft verwischt, dass wir nie ganz sicher sein können, ob er wirklich einer ist.
KATHARINA LASZLO.
Ford Madox Ford: "Die allertraurigste Geschichte".
Aus dem Englischen von Fritz Lorch und Helene Henze. Nachwort von Julian Barnes. Diogenes Verlag, Zürich 2018. 320 S., geb., 29,- [Euro].
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