Blue hat den Blues. Ihr Vater, der Universitätsprofessor, zieht schon wieder um. Nie länger als ein Semester bleiben Tochter und Vater an einem Ort. Bald kennt Blue jedes College. Zum Glück hat sie die Bücher ihre engsten Vertrauten. Und so hungrig wie sie Geschichten auf Papier verschlingt, so lustvoll stürzt sie sich ins pralle Leben: Charmant und witzig besticht sie als wandelndes Lexikon und läßt zugleich keine Wodkaflasche an sich vorbeiziehen. Jeder weiß, Blue ist besonders. Man liegt ihr zu Füßen. Und dann passiert ein mysteriöser Mord und ihr Leben gerät aus den Fugen. Ein Aufsehen erregender und temporeicher Roman und ein spannend komischer Streifzug quer durch die Sätze von Shakespeare bis Cary Grant.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.2007Das alltägliche Unglück der Perfektion
Kein menschlicher Makel: Marisha Pessl und ihr viel gepriesener Debütroman
Die "New York Times" wählte ihr Buch unter die zehn besten des letzten Jahres, man verglich sie mit Nabokov.
Sie selbst würde sich vielleicht so beschreiben: Zierlich, Engelsgesicht, Korkenzieherlocken, die Sorte Mädchen, die man in der Schule schon nicht verstanden hat, weil alles an ihnen perfekt schien und ihr Tag mehr Stunden zu haben schien als deiner (Zeit für Jazzchor, Theatergruppe, Umwelt-AG, Schülerzeitung und Voltigieren. Und mittwochs nach dem Spanischkurs an der Volkshochschule noch zwei Stunden Salsa für Fortgeschrittene) (siehe "The Art of Mastering Time and the Multiple Values of Being Ahead", Robert Dechen, Science and Beyond, Stanford Quarterly, 1978/II). Vielleicht würde sie sich auch ganz anders beschreiben. Vielleicht ist sie auch ganz anders - es war nicht viel herauszubekommen über Marisha Pessl an diesem Nachmittag Ende Januar, an dem sie in ihrem Loft in Tribeca zum Interview empfing.
Vielleicht erst mal die Fakten. Marisha Pessl ist 1977 geboren und hat letzten Sommer in Amerika ihr erstes Buch veröffentlicht, da war sie also noch unter dreißig. Es ist ein dickes Buch, fast 600 Seiten, ein Roman, der von einem ungewöhnlichen Vater-Tochter-Paar handelt. Die "New York Times" wählte es unter die zehn besten Bücher des Jahres 2006; unter den Schriftstellern, mit denen Marisha Pessl in den Rezensionen verglichen wurde, sind, unter anderen, Dave Eggers, Donna Tart, Vladimir Nabokov.
"Die alltägliche Physik des Unglücks" ist aus Sicht einer verschrobenen 16-Jährigen namens Blue erzählt, die seit dem Unfalltod ihrer Mutter mit ihrem Vater, einem Professor, rastlos durch Amerika reist. Sie sind immer nur ein Unisemester lang an einem Ort, dann packen sie ihre Sachen und ziehen weiter. So ist ihr Vater, Gareth van Meer, ihr engster Vertrauter, ja, eigentlich überhaupt der einzige Mensch, zu dem sie eine Verbindung hat. Es ist eine exklusive Beziehung, die den Rest der Welt ausschließt und die Lücke, die der Tod der Mutter gerissen hat, mit Wissen füllt. Blue liest viel, am liebsten dicke Nachschlagewerke, und sie und ihr Vater vertreiben sich die Zeit, indem sie sich gegenseitig mit Zitaten zu übertrumpfen versuchen. Eine Art "Wer wird Millionär" auf Rädern, nicht immer gewinnt der Vater. Pessl zeichnet ihn als Mann, dem die Frauenwelt zu Füßen liegt - ein brillanter Denker mit sprühendem Witz und Temperament, gutaussehend, verwitwet und auch noch bindungsscheu. Wo immer er sich für ein Gastsemester niederlässt, bleibt mindestens eine Frau mit gebrochenem Herzen zurück. So geht das eine Weile bis auf Seite 84 Hannah Schneider ins Spiel kommt, eine schöne, alleinstehende Lehrerin, die Blue unterrichtet. Und dann geschehen einige Dinge, die einen erst an einen typischen Highschool-Film denken lassen (uncoole Außenseiterin trifft auf coole Clique) und sich dann zu einem Kriminalfall verdichten, an dessen Ausgangspunkt Hannah Schneider tot an einem Kabel baumelt, was an dieser Stelle verraten werden darf, weil es im Buch schon auf Seite eins angekündigt wird.
Pessl erzählt die Geschichte mit der Stimme von Blue, manchmal beinahe mündlich im Tonfall, als würde ein Mädchen ihrer besten Freundin eine Kassette besprechen - mit sarkastischen Randbemerkungen, popkulturellen Bezügen und Wörtern, die kursiv gedruckt sind und die gedehnte Betonung gleich mitliefern. Und weil Blue so schrecklich belesen ist, ist es natürlich auch die Erzählstimme des Buchs: keine Seite, auf der nicht mindestens drei literarische Querverweise wären, vollständig versehen mit Verfasser, Erscheinungsjahr, Seitenangabe. Viele dieser Quellen gibt es wirklich, viele hat die Autorin Pessl erfunden, sie hat das zweifelsohne sehr glaubwürdig gemacht, die Frage ist nur, ob etwas weniger davon den Charme ihres Buchs nicht erhöht hätte. Oder anders ausgedrückt: eine anfängliche Bewunderung für Bildung und Erfindungsreichtum der Erzählerin weicht Überdruss und ruft schließlich Antipathie hervor. Nein, man mag sie nicht besonders, diese angeberisch strebsame Blue, die zu allem und jedem aus dem passenden Nachschlagewerk zitieren kann. Und es ist wohl nur ein immer wieder hervorblitzender Humor, der sie davor rettet, sich zwischen frühzeitig zugeschlagenen Buchdeckeln zu verlieren.
Marisha Pessl wohnt in einem großen Loft im New Yorker Viertel Tribeca. Sie trägt einen engen schwarzen Pullover, einen körperbetonten Glockenrock und spitze Stiefeletten. Ihre zwei Katzen heißen Hitchcock und Fellini, über dem Kamin hängt ein Filmposter, auf dem Cary Grant zu sehen ist. Das Loft, das in der Hauptsache aus einem sehr hohen Raum mit Backsteinwänden besteht, in dem man die Wahl zwischen drei verschiedenen Sitzecken hat (Sofa vor dem Kamin, Sofa vor dem Flatscreen-Fernseher, Esstisch), sieht aus wie aus einer Fotostrecke in "Elle Déco": Es dominieren Brauntöne, hier und da unterbrochen von etwas Zebramuster, wie in einem Hotelzimmer läuft stumm CNN. Als sie zwischendrin kurz telefoniert, tut sie dies im Stehen und winkelt dabei ein Bein nach hinten ab, wie man das aus Filmen kennt, in denen Marilyn Monroe eine dicke Brille trägt.
Was hat sie an einer altklugen 16-Jährigen interessiert, die mit ihrem Vater durchs Land reist?
"In meiner Jugendtheatergruppe waren ein paar Kinder, die von ihren Eltern zu Hause unterrichtet wurden. Das fand ich immer so mysteriös, dass Eltern deine Lehrer sind. Wie intensiv und isoliert das sein muss. Du verpasst die ganze amerikanische Sozialisierung, Highschool, Cheerleader-Gruppe, die Zuordnung zur beliebten oder unbeliebten Gruppe in der Schule. Das hat mich interessiert. Und vielleicht haben auch ein paar Professoren mit hineingespielt, die ich im ersten Jahr an der Uni hatte. Philosophieprofessoren, überlebensgroß. Sie waren Mitte fünfzig, vielleicht sechzig, trugen viel Cord, hatten eine Vielfalt an Exfrauen und trafen sich mit ihren jungen Studentinnen, und man wusste nie genau, was die da machten."
Gibt es Ähnlichkeiten zwischen ihr und Blue?
"Wir lieben beide Bücher, aber ich bin sicher experimenteller, und ich habe nicht all diese Referenztexte gelesen, die mir andauernd einfallen, wenn ich durch mein Leben gehe. Ich bin nicht so isoliert aufgewachsen und hatte eine ganze Reihe an außerschulischen Aktivitäten. Manche Leute machen den Fehler, zu denken, dass ich Blue sei und dass ich damit angäbe, wie viele Bücher ich gelesen habe. Dabei habe ich wahrscheinlich nicht viel mehr gelesen als andere College-Absolventen. Es hat mich überrascht, dass Leute das als Angeberei missverstehen. Ich hatte es als schmerzhaft empfunden, dass Blue in ihrer Bücherwelt lebt, und als komisch. Sie ist eingekerkert in Gelesenem. Ich hatte gehofft, dass der Humor durchscheint."
Marisha Pessl spricht mit einer sanften Stimme, die manchmal sehr hoch wird. Es gab eine Zeit, in der sie Schauspielerin werden wollte. Sie ging zu Vorsprechen, und zum Geldverdienen arbeitete sie bei einer Finanzberatung. Nebenher schrieb sie. Sie schreibe, seit sie sechs Jahre alt sei, sagt sie. In ihren ersten Geschichten wurde viel geritten. Sie erinnert sich an einen Text, in dem die Hauptpersonen umkamen, nachdem sie Pferde aus einem brennenden Stall gerettet hatten. Pessl wuchs in einem kleinen Ort in North Carolina auf. Ihr Vater ist Österreicher und wohnt heute wieder in Steyr, sie wuchs bei der Mutter auf. Nach dem College zog Pessl nach New York, wo sie englische Literatur und Playwriting studierte. An der "Alltäglichen Physik des Unglücks" hat sie drei Jahre lang geschrieben. Irgendwann in dieser Zeit kündigte sie bei der Finanzberatung und zog mit ihrem Freund, der heute ihr Ehemann ist, nach London. Dort beendete sie das Buch und schickte es an zehn Agenten. Sie legte einen Brief bei, in dem sie vollmundig ankündigte: "Dies ist ein Debütroman, wie Sie ihn dieses Jahr nicht noch einmal lesen werden. Eine komische, enzyklopädische und wild ehrgeizige literarische Fabel über Liebe und Verlust, Jugend und Sehnsucht, Betrug und Terror." Unter den Zusagen suchte sie sich die Agentin aus, die Jonathan Franzen vertritt. Lange vor Veröffentlichung ihres Debüts galt sie im Literaturgeschäft als heiß. Von einem sechsstelligen Vorschuss war zu lesen; eben wurden die Filmrechte verkauft, das Drehbuch wird Scott Rudin adaptieren, der Mann, der auch "The Hours" und "Notes on a Scandal" geschrieben hat.
Marisha Pessl hat blaue Augen, die sie beim Sprechen rund aufreißt. Ihre haselnussbraunen Haare fallen in weichen, perfekt gelegten Wellen über ihre Schultern. Sie trägt kleine silberne Hängeohrringe mit Brillanten darin, eine silberne Kette und ein Silberarmband. Sie lächelt viel. Es ist ein positives Cheerleader-Lächeln. Wenn sie einen anspricht, vergisst sie nicht, den Vornamen dazuzusagen. Das Interview dauert eine Stunde. Es gibt während dieser Zeit nicht einen Moment, an dem ein Zweifel in ihr aufschimmert oder eine Frage, die sie noch nicht zu ihrer Zufriedenheit für sich beantwortet hätte. Ihre Freundlichkeit wirkt wie ein Panzer, ein makelloser, hübscher und tadellos funktionierender Panzer. Auf alles gibt es eine artige Antwort, meistens ist es einfach die, die am sorglosesten klingt. Alles, alles scheint ganz einfach, ein Kinderspiel, Bücherschreiben eins zwei drei, nein, dieses ist nicht ihr erstes Buch, sie hat davor schon zwei geschrieben, eins davon 900 Seiten lang, doch das waren eher Vorübungen, sie wurden nicht veröffentlicht, aber das macht nichts, das war richtig so, sie ist froh, dass sie nicht veröffentlicht wurden, und wie buchstabiert man noch mal Problem?
Sie tanzt gerne, sieht Freunde, sie liest, natürlich, aber nicht übertrieben viel, ganz normal, am Abend vor dem Einschlafen. Sie war eine beliebte Schülerin. Sie hat mit 25 geheiratet. Ihre Eltern sind geschieden, aber sie hat zu beiden guten Kontakt. Sie liebt New York. Sie liebt Literatur. Nabokov. "Lolita". Aber sie liebt auch Filme. Und sie liebt es, Menschen zu beobachten. Sie schreibt nie über sich selbst, das wäre doch viel zu uninteressant. Sie kann sich problemlos in Menschen hineindenken. Sie wäre ja fast Schauspielerin geworden. Sie ist sehr gerne Schriftstellerin. Im Moment schreibt sie an etwas Neuem. Sie möchte noch nichts darüber sagen. Am Ende bedankt sie sich für das schöne Gespräch. Sie bedankt sich vielleicht eine Spur zu überschwenglich. Sonst war kein Fehler zu entdecken. Alles perfekt. Nicht der kleinste Makel. Außer eben diesem.
JOHANNA ADORJÁN
Marisha Pessl: "Die alltägliche Physik des Unglücks". Aus dem Englischen von Adelheid Zöfel. Verlag S. Fischer. 601 Seiten, 19,90 Euro. Erscheint am 12. März.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kein menschlicher Makel: Marisha Pessl und ihr viel gepriesener Debütroman
Die "New York Times" wählte ihr Buch unter die zehn besten des letzten Jahres, man verglich sie mit Nabokov.
Sie selbst würde sich vielleicht so beschreiben: Zierlich, Engelsgesicht, Korkenzieherlocken, die Sorte Mädchen, die man in der Schule schon nicht verstanden hat, weil alles an ihnen perfekt schien und ihr Tag mehr Stunden zu haben schien als deiner (Zeit für Jazzchor, Theatergruppe, Umwelt-AG, Schülerzeitung und Voltigieren. Und mittwochs nach dem Spanischkurs an der Volkshochschule noch zwei Stunden Salsa für Fortgeschrittene) (siehe "The Art of Mastering Time and the Multiple Values of Being Ahead", Robert Dechen, Science and Beyond, Stanford Quarterly, 1978/II). Vielleicht würde sie sich auch ganz anders beschreiben. Vielleicht ist sie auch ganz anders - es war nicht viel herauszubekommen über Marisha Pessl an diesem Nachmittag Ende Januar, an dem sie in ihrem Loft in Tribeca zum Interview empfing.
Vielleicht erst mal die Fakten. Marisha Pessl ist 1977 geboren und hat letzten Sommer in Amerika ihr erstes Buch veröffentlicht, da war sie also noch unter dreißig. Es ist ein dickes Buch, fast 600 Seiten, ein Roman, der von einem ungewöhnlichen Vater-Tochter-Paar handelt. Die "New York Times" wählte es unter die zehn besten Bücher des Jahres 2006; unter den Schriftstellern, mit denen Marisha Pessl in den Rezensionen verglichen wurde, sind, unter anderen, Dave Eggers, Donna Tart, Vladimir Nabokov.
"Die alltägliche Physik des Unglücks" ist aus Sicht einer verschrobenen 16-Jährigen namens Blue erzählt, die seit dem Unfalltod ihrer Mutter mit ihrem Vater, einem Professor, rastlos durch Amerika reist. Sie sind immer nur ein Unisemester lang an einem Ort, dann packen sie ihre Sachen und ziehen weiter. So ist ihr Vater, Gareth van Meer, ihr engster Vertrauter, ja, eigentlich überhaupt der einzige Mensch, zu dem sie eine Verbindung hat. Es ist eine exklusive Beziehung, die den Rest der Welt ausschließt und die Lücke, die der Tod der Mutter gerissen hat, mit Wissen füllt. Blue liest viel, am liebsten dicke Nachschlagewerke, und sie und ihr Vater vertreiben sich die Zeit, indem sie sich gegenseitig mit Zitaten zu übertrumpfen versuchen. Eine Art "Wer wird Millionär" auf Rädern, nicht immer gewinnt der Vater. Pessl zeichnet ihn als Mann, dem die Frauenwelt zu Füßen liegt - ein brillanter Denker mit sprühendem Witz und Temperament, gutaussehend, verwitwet und auch noch bindungsscheu. Wo immer er sich für ein Gastsemester niederlässt, bleibt mindestens eine Frau mit gebrochenem Herzen zurück. So geht das eine Weile bis auf Seite 84 Hannah Schneider ins Spiel kommt, eine schöne, alleinstehende Lehrerin, die Blue unterrichtet. Und dann geschehen einige Dinge, die einen erst an einen typischen Highschool-Film denken lassen (uncoole Außenseiterin trifft auf coole Clique) und sich dann zu einem Kriminalfall verdichten, an dessen Ausgangspunkt Hannah Schneider tot an einem Kabel baumelt, was an dieser Stelle verraten werden darf, weil es im Buch schon auf Seite eins angekündigt wird.
Pessl erzählt die Geschichte mit der Stimme von Blue, manchmal beinahe mündlich im Tonfall, als würde ein Mädchen ihrer besten Freundin eine Kassette besprechen - mit sarkastischen Randbemerkungen, popkulturellen Bezügen und Wörtern, die kursiv gedruckt sind und die gedehnte Betonung gleich mitliefern. Und weil Blue so schrecklich belesen ist, ist es natürlich auch die Erzählstimme des Buchs: keine Seite, auf der nicht mindestens drei literarische Querverweise wären, vollständig versehen mit Verfasser, Erscheinungsjahr, Seitenangabe. Viele dieser Quellen gibt es wirklich, viele hat die Autorin Pessl erfunden, sie hat das zweifelsohne sehr glaubwürdig gemacht, die Frage ist nur, ob etwas weniger davon den Charme ihres Buchs nicht erhöht hätte. Oder anders ausgedrückt: eine anfängliche Bewunderung für Bildung und Erfindungsreichtum der Erzählerin weicht Überdruss und ruft schließlich Antipathie hervor. Nein, man mag sie nicht besonders, diese angeberisch strebsame Blue, die zu allem und jedem aus dem passenden Nachschlagewerk zitieren kann. Und es ist wohl nur ein immer wieder hervorblitzender Humor, der sie davor rettet, sich zwischen frühzeitig zugeschlagenen Buchdeckeln zu verlieren.
Marisha Pessl wohnt in einem großen Loft im New Yorker Viertel Tribeca. Sie trägt einen engen schwarzen Pullover, einen körperbetonten Glockenrock und spitze Stiefeletten. Ihre zwei Katzen heißen Hitchcock und Fellini, über dem Kamin hängt ein Filmposter, auf dem Cary Grant zu sehen ist. Das Loft, das in der Hauptsache aus einem sehr hohen Raum mit Backsteinwänden besteht, in dem man die Wahl zwischen drei verschiedenen Sitzecken hat (Sofa vor dem Kamin, Sofa vor dem Flatscreen-Fernseher, Esstisch), sieht aus wie aus einer Fotostrecke in "Elle Déco": Es dominieren Brauntöne, hier und da unterbrochen von etwas Zebramuster, wie in einem Hotelzimmer läuft stumm CNN. Als sie zwischendrin kurz telefoniert, tut sie dies im Stehen und winkelt dabei ein Bein nach hinten ab, wie man das aus Filmen kennt, in denen Marilyn Monroe eine dicke Brille trägt.
Was hat sie an einer altklugen 16-Jährigen interessiert, die mit ihrem Vater durchs Land reist?
"In meiner Jugendtheatergruppe waren ein paar Kinder, die von ihren Eltern zu Hause unterrichtet wurden. Das fand ich immer so mysteriös, dass Eltern deine Lehrer sind. Wie intensiv und isoliert das sein muss. Du verpasst die ganze amerikanische Sozialisierung, Highschool, Cheerleader-Gruppe, die Zuordnung zur beliebten oder unbeliebten Gruppe in der Schule. Das hat mich interessiert. Und vielleicht haben auch ein paar Professoren mit hineingespielt, die ich im ersten Jahr an der Uni hatte. Philosophieprofessoren, überlebensgroß. Sie waren Mitte fünfzig, vielleicht sechzig, trugen viel Cord, hatten eine Vielfalt an Exfrauen und trafen sich mit ihren jungen Studentinnen, und man wusste nie genau, was die da machten."
Gibt es Ähnlichkeiten zwischen ihr und Blue?
"Wir lieben beide Bücher, aber ich bin sicher experimenteller, und ich habe nicht all diese Referenztexte gelesen, die mir andauernd einfallen, wenn ich durch mein Leben gehe. Ich bin nicht so isoliert aufgewachsen und hatte eine ganze Reihe an außerschulischen Aktivitäten. Manche Leute machen den Fehler, zu denken, dass ich Blue sei und dass ich damit angäbe, wie viele Bücher ich gelesen habe. Dabei habe ich wahrscheinlich nicht viel mehr gelesen als andere College-Absolventen. Es hat mich überrascht, dass Leute das als Angeberei missverstehen. Ich hatte es als schmerzhaft empfunden, dass Blue in ihrer Bücherwelt lebt, und als komisch. Sie ist eingekerkert in Gelesenem. Ich hatte gehofft, dass der Humor durchscheint."
Marisha Pessl spricht mit einer sanften Stimme, die manchmal sehr hoch wird. Es gab eine Zeit, in der sie Schauspielerin werden wollte. Sie ging zu Vorsprechen, und zum Geldverdienen arbeitete sie bei einer Finanzberatung. Nebenher schrieb sie. Sie schreibe, seit sie sechs Jahre alt sei, sagt sie. In ihren ersten Geschichten wurde viel geritten. Sie erinnert sich an einen Text, in dem die Hauptpersonen umkamen, nachdem sie Pferde aus einem brennenden Stall gerettet hatten. Pessl wuchs in einem kleinen Ort in North Carolina auf. Ihr Vater ist Österreicher und wohnt heute wieder in Steyr, sie wuchs bei der Mutter auf. Nach dem College zog Pessl nach New York, wo sie englische Literatur und Playwriting studierte. An der "Alltäglichen Physik des Unglücks" hat sie drei Jahre lang geschrieben. Irgendwann in dieser Zeit kündigte sie bei der Finanzberatung und zog mit ihrem Freund, der heute ihr Ehemann ist, nach London. Dort beendete sie das Buch und schickte es an zehn Agenten. Sie legte einen Brief bei, in dem sie vollmundig ankündigte: "Dies ist ein Debütroman, wie Sie ihn dieses Jahr nicht noch einmal lesen werden. Eine komische, enzyklopädische und wild ehrgeizige literarische Fabel über Liebe und Verlust, Jugend und Sehnsucht, Betrug und Terror." Unter den Zusagen suchte sie sich die Agentin aus, die Jonathan Franzen vertritt. Lange vor Veröffentlichung ihres Debüts galt sie im Literaturgeschäft als heiß. Von einem sechsstelligen Vorschuss war zu lesen; eben wurden die Filmrechte verkauft, das Drehbuch wird Scott Rudin adaptieren, der Mann, der auch "The Hours" und "Notes on a Scandal" geschrieben hat.
Marisha Pessl hat blaue Augen, die sie beim Sprechen rund aufreißt. Ihre haselnussbraunen Haare fallen in weichen, perfekt gelegten Wellen über ihre Schultern. Sie trägt kleine silberne Hängeohrringe mit Brillanten darin, eine silberne Kette und ein Silberarmband. Sie lächelt viel. Es ist ein positives Cheerleader-Lächeln. Wenn sie einen anspricht, vergisst sie nicht, den Vornamen dazuzusagen. Das Interview dauert eine Stunde. Es gibt während dieser Zeit nicht einen Moment, an dem ein Zweifel in ihr aufschimmert oder eine Frage, die sie noch nicht zu ihrer Zufriedenheit für sich beantwortet hätte. Ihre Freundlichkeit wirkt wie ein Panzer, ein makelloser, hübscher und tadellos funktionierender Panzer. Auf alles gibt es eine artige Antwort, meistens ist es einfach die, die am sorglosesten klingt. Alles, alles scheint ganz einfach, ein Kinderspiel, Bücherschreiben eins zwei drei, nein, dieses ist nicht ihr erstes Buch, sie hat davor schon zwei geschrieben, eins davon 900 Seiten lang, doch das waren eher Vorübungen, sie wurden nicht veröffentlicht, aber das macht nichts, das war richtig so, sie ist froh, dass sie nicht veröffentlicht wurden, und wie buchstabiert man noch mal Problem?
Sie tanzt gerne, sieht Freunde, sie liest, natürlich, aber nicht übertrieben viel, ganz normal, am Abend vor dem Einschlafen. Sie war eine beliebte Schülerin. Sie hat mit 25 geheiratet. Ihre Eltern sind geschieden, aber sie hat zu beiden guten Kontakt. Sie liebt New York. Sie liebt Literatur. Nabokov. "Lolita". Aber sie liebt auch Filme. Und sie liebt es, Menschen zu beobachten. Sie schreibt nie über sich selbst, das wäre doch viel zu uninteressant. Sie kann sich problemlos in Menschen hineindenken. Sie wäre ja fast Schauspielerin geworden. Sie ist sehr gerne Schriftstellerin. Im Moment schreibt sie an etwas Neuem. Sie möchte noch nichts darüber sagen. Am Ende bedankt sie sich für das schöne Gespräch. Sie bedankt sich vielleicht eine Spur zu überschwenglich. Sonst war kein Fehler zu entdecken. Alles perfekt. Nicht der kleinste Makel. Außer eben diesem.
JOHANNA ADORJÁN
Marisha Pessl: "Die alltägliche Physik des Unglücks". Aus dem Englischen von Adelheid Zöfel. Verlag S. Fischer. 601 Seiten, 19,90 Euro. Erscheint am 12. März.
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