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2 Kundenbewertungen

Blue hat den Blues. Ihr Vater, der Universitätsprofessor, zieht schon wieder um. Nie länger als ein Semester bleiben Tochter und Vater an einem Ort. Bald kennt Blue jedes College. Zum Glück hat sie die Bücher – ihre engsten Vertrauten. Und so hungrig wie sie Geschichten auf Papier verschlingt, so lustvoll stürzt sie sich ins pralle Leben: Charmant und witzig besticht sie als wandelndes Lexikon und läßt zugleich keine Wodkaflasche an sich vorbeiziehen. Jeder weiß, Blue ist besonders. Man liegt ihr zu Füßen. Und dann passiert ein mysteriöser Mord, und ihr Leben gerät aus den Fugen. Ein Aufsehen…mehr

Produktbeschreibung
Blue hat den Blues. Ihr Vater, der Universitätsprofessor, zieht schon wieder um. Nie länger als ein Semester bleiben Tochter und Vater an einem Ort. Bald kennt Blue jedes College. Zum Glück hat sie die Bücher – ihre engsten Vertrauten. Und so hungrig wie sie Geschichten auf Papier verschlingt, so lustvoll stürzt sie sich ins pralle Leben: Charmant und witzig besticht sie als wandelndes Lexikon und läßt zugleich keine Wodkaflasche an sich vorbeiziehen. Jeder weiß, Blue ist besonders. Man liegt ihr zu Füßen. Und dann passiert ein mysteriöser Mord, und ihr Leben gerät aus den Fugen. Ein Aufsehen erregender und temporeicher Roman und ein spannend komischer Streifzug quer durch die Sätze von Shakespeare bis Cary Grant.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.2007

Das alltägliche Unglück der Perfektion
Kein menschlicher Makel: Marisha Pessl und ihr viel gepriesener Debütroman

Die "New York Times" wählte ihr Buch unter die zehn besten des letzten Jahres, man verglich sie mit Nabokov.

Sie selbst würde sich vielleicht so beschreiben: Zierlich, Engelsgesicht, Korkenzieherlocken, die Sorte Mädchen, die man in der Schule schon nicht verstanden hat, weil alles an ihnen perfekt schien und ihr Tag mehr Stunden zu haben schien als deiner (Zeit für Jazzchor, Theatergruppe, Umwelt-AG, Schülerzeitung und Voltigieren. Und mittwochs nach dem Spanischkurs an der Volkshochschule noch zwei Stunden Salsa für Fortgeschrittene) (siehe "The Art of Mastering Time and the Multiple Values of Being Ahead", Robert Dechen, Science and Beyond, Stanford Quarterly, 1978/II). Vielleicht würde sie sich auch ganz anders beschreiben. Vielleicht ist sie auch ganz anders - es war nicht viel herauszubekommen über Marisha Pessl an diesem Nachmittag Ende Januar, an dem sie in ihrem Loft in Tribeca zum Interview empfing.

Vielleicht erst mal die Fakten. Marisha Pessl ist 1977 geboren und hat letzten Sommer in Amerika ihr erstes Buch veröffentlicht, da war sie also noch unter dreißig. Es ist ein dickes Buch, fast 600 Seiten, ein Roman, der von einem ungewöhnlichen Vater-Tochter-Paar handelt. Die "New York Times" wählte es unter die zehn besten Bücher des Jahres 2006; unter den Schriftstellern, mit denen Marisha Pessl in den Rezensionen verglichen wurde, sind, unter anderen, Dave Eggers, Donna Tart, Vladimir Nabokov.

"Die alltägliche Physik des Unglücks" ist aus Sicht einer verschrobenen 16-Jährigen namens Blue erzählt, die seit dem Unfalltod ihrer Mutter mit ihrem Vater, einem Professor, rastlos durch Amerika reist. Sie sind immer nur ein Unisemester lang an einem Ort, dann packen sie ihre Sachen und ziehen weiter. So ist ihr Vater, Gareth van Meer, ihr engster Vertrauter, ja, eigentlich überhaupt der einzige Mensch, zu dem sie eine Verbindung hat. Es ist eine exklusive Beziehung, die den Rest der Welt ausschließt und die Lücke, die der Tod der Mutter gerissen hat, mit Wissen füllt. Blue liest viel, am liebsten dicke Nachschlagewerke, und sie und ihr Vater vertreiben sich die Zeit, indem sie sich gegenseitig mit Zitaten zu übertrumpfen versuchen. Eine Art "Wer wird Millionär" auf Rädern, nicht immer gewinnt der Vater. Pessl zeichnet ihn als Mann, dem die Frauenwelt zu Füßen liegt - ein brillanter Denker mit sprühendem Witz und Temperament, gutaussehend, verwitwet und auch noch bindungsscheu. Wo immer er sich für ein Gastsemester niederlässt, bleibt mindestens eine Frau mit gebrochenem Herzen zurück. So geht das eine Weile bis auf Seite 84 Hannah Schneider ins Spiel kommt, eine schöne, alleinstehende Lehrerin, die Blue unterrichtet. Und dann geschehen einige Dinge, die einen erst an einen typischen Highschool-Film denken lassen (uncoole Außenseiterin trifft auf coole Clique) und sich dann zu einem Kriminalfall verdichten, an dessen Ausgangspunkt Hannah Schneider tot an einem Kabel baumelt, was an dieser Stelle verraten werden darf, weil es im Buch schon auf Seite eins angekündigt wird.

Pessl erzählt die Geschichte mit der Stimme von Blue, manchmal beinahe mündlich im Tonfall, als würde ein Mädchen ihrer besten Freundin eine Kassette besprechen - mit sarkastischen Randbemerkungen, popkulturellen Bezügen und Wörtern, die kursiv gedruckt sind und die gedehnte Betonung gleich mitliefern. Und weil Blue so schrecklich belesen ist, ist es natürlich auch die Erzählstimme des Buchs: keine Seite, auf der nicht mindestens drei literarische Querverweise wären, vollständig versehen mit Verfasser, Erscheinungsjahr, Seitenangabe. Viele dieser Quellen gibt es wirklich, viele hat die Autorin Pessl erfunden, sie hat das zweifelsohne sehr glaubwürdig gemacht, die Frage ist nur, ob etwas weniger davon den Charme ihres Buchs nicht erhöht hätte. Oder anders ausgedrückt: eine anfängliche Bewunderung für Bildung und Erfindungsreichtum der Erzählerin weicht Überdruss und ruft schließlich Antipathie hervor. Nein, man mag sie nicht besonders, diese angeberisch strebsame Blue, die zu allem und jedem aus dem passenden Nachschlagewerk zitieren kann. Und es ist wohl nur ein immer wieder hervorblitzender Humor, der sie davor rettet, sich zwischen frühzeitig zugeschlagenen Buchdeckeln zu verlieren.

Marisha Pessl wohnt in einem großen Loft im New Yorker Viertel Tribeca. Sie trägt einen engen schwarzen Pullover, einen körperbetonten Glockenrock und spitze Stiefeletten. Ihre zwei Katzen heißen Hitchcock und Fellini, über dem Kamin hängt ein Filmposter, auf dem Cary Grant zu sehen ist. Das Loft, das in der Hauptsache aus einem sehr hohen Raum mit Backsteinwänden besteht, in dem man die Wahl zwischen drei verschiedenen Sitzecken hat (Sofa vor dem Kamin, Sofa vor dem Flatscreen-Fernseher, Esstisch), sieht aus wie aus einer Fotostrecke in "Elle Déco": Es dominieren Brauntöne, hier und da unterbrochen von etwas Zebramuster, wie in einem Hotelzimmer läuft stumm CNN. Als sie zwischendrin kurz telefoniert, tut sie dies im Stehen und winkelt dabei ein Bein nach hinten ab, wie man das aus Filmen kennt, in denen Marilyn Monroe eine dicke Brille trägt.

Was hat sie an einer altklugen 16-Jährigen interessiert, die mit ihrem Vater durchs Land reist?

"In meiner Jugendtheatergruppe waren ein paar Kinder, die von ihren Eltern zu Hause unterrichtet wurden. Das fand ich immer so mysteriös, dass Eltern deine Lehrer sind. Wie intensiv und isoliert das sein muss. Du verpasst die ganze amerikanische Sozialisierung, Highschool, Cheerleader-Gruppe, die Zuordnung zur beliebten oder unbeliebten Gruppe in der Schule. Das hat mich interessiert. Und vielleicht haben auch ein paar Professoren mit hineingespielt, die ich im ersten Jahr an der Uni hatte. Philosophieprofessoren, überlebensgroß. Sie waren Mitte fünfzig, vielleicht sechzig, trugen viel Cord, hatten eine Vielfalt an Exfrauen und trafen sich mit ihren jungen Studentinnen, und man wusste nie genau, was die da machten."

Gibt es Ähnlichkeiten zwischen ihr und Blue?

"Wir lieben beide Bücher, aber ich bin sicher experimenteller, und ich habe nicht all diese Referenztexte gelesen, die mir andauernd einfallen, wenn ich durch mein Leben gehe. Ich bin nicht so isoliert aufgewachsen und hatte eine ganze Reihe an außerschulischen Aktivitäten. Manche Leute machen den Fehler, zu denken, dass ich Blue sei und dass ich damit angäbe, wie viele Bücher ich gelesen habe. Dabei habe ich wahrscheinlich nicht viel mehr gelesen als andere College-Absolventen. Es hat mich überrascht, dass Leute das als Angeberei missverstehen. Ich hatte es als schmerzhaft empfunden, dass Blue in ihrer Bücherwelt lebt, und als komisch. Sie ist eingekerkert in Gelesenem. Ich hatte gehofft, dass der Humor durchscheint."

Marisha Pessl spricht mit einer sanften Stimme, die manchmal sehr hoch wird. Es gab eine Zeit, in der sie Schauspielerin werden wollte. Sie ging zu Vorsprechen, und zum Geldverdienen arbeitete sie bei einer Finanzberatung. Nebenher schrieb sie. Sie schreibe, seit sie sechs Jahre alt sei, sagt sie. In ihren ersten Geschichten wurde viel geritten. Sie erinnert sich an einen Text, in dem die Hauptpersonen umkamen, nachdem sie Pferde aus einem brennenden Stall gerettet hatten. Pessl wuchs in einem kleinen Ort in North Carolina auf. Ihr Vater ist Österreicher und wohnt heute wieder in Steyr, sie wuchs bei der Mutter auf. Nach dem College zog Pessl nach New York, wo sie englische Literatur und Playwriting studierte. An der "Alltäglichen Physik des Unglücks" hat sie drei Jahre lang geschrieben. Irgendwann in dieser Zeit kündigte sie bei der Finanzberatung und zog mit ihrem Freund, der heute ihr Ehemann ist, nach London. Dort beendete sie das Buch und schickte es an zehn Agenten. Sie legte einen Brief bei, in dem sie vollmundig ankündigte: "Dies ist ein Debütroman, wie Sie ihn dieses Jahr nicht noch einmal lesen werden. Eine komische, enzyklopädische und wild ehrgeizige literarische Fabel über Liebe und Verlust, Jugend und Sehnsucht, Betrug und Terror." Unter den Zusagen suchte sie sich die Agentin aus, die Jonathan Franzen vertritt. Lange vor Veröffentlichung ihres Debüts galt sie im Literaturgeschäft als heiß. Von einem sechsstelligen Vorschuss war zu lesen; eben wurden die Filmrechte verkauft, das Drehbuch wird Scott Rudin adaptieren, der Mann, der auch "The Hours" und "Notes on a Scandal" geschrieben hat.

Marisha Pessl hat blaue Augen, die sie beim Sprechen rund aufreißt. Ihre haselnussbraunen Haare fallen in weichen, perfekt gelegten Wellen über ihre Schultern. Sie trägt kleine silberne Hängeohrringe mit Brillanten darin, eine silberne Kette und ein Silberarmband. Sie lächelt viel. Es ist ein positives Cheerleader-Lächeln. Wenn sie einen anspricht, vergisst sie nicht, den Vornamen dazuzusagen. Das Interview dauert eine Stunde. Es gibt während dieser Zeit nicht einen Moment, an dem ein Zweifel in ihr aufschimmert oder eine Frage, die sie noch nicht zu ihrer Zufriedenheit für sich beantwortet hätte. Ihre Freundlichkeit wirkt wie ein Panzer, ein makelloser, hübscher und tadellos funktionierender Panzer. Auf alles gibt es eine artige Antwort, meistens ist es einfach die, die am sorglosesten klingt. Alles, alles scheint ganz einfach, ein Kinderspiel, Bücherschreiben eins zwei drei, nein, dieses ist nicht ihr erstes Buch, sie hat davor schon zwei geschrieben, eins davon 900 Seiten lang, doch das waren eher Vorübungen, sie wurden nicht veröffentlicht, aber das macht nichts, das war richtig so, sie ist froh, dass sie nicht veröffentlicht wurden, und wie buchstabiert man noch mal Problem?

Sie tanzt gerne, sieht Freunde, sie liest, natürlich, aber nicht übertrieben viel, ganz normal, am Abend vor dem Einschlafen. Sie war eine beliebte Schülerin. Sie hat mit 25 geheiratet. Ihre Eltern sind geschieden, aber sie hat zu beiden guten Kontakt. Sie liebt New York. Sie liebt Literatur. Nabokov. "Lolita". Aber sie liebt auch Filme. Und sie liebt es, Menschen zu beobachten. Sie schreibt nie über sich selbst, das wäre doch viel zu uninteressant. Sie kann sich problemlos in Menschen hineindenken. Sie wäre ja fast Schauspielerin geworden. Sie ist sehr gerne Schriftstellerin. Im Moment schreibt sie an etwas Neuem. Sie möchte noch nichts darüber sagen. Am Ende bedankt sie sich für das schöne Gespräch. Sie bedankt sich vielleicht eine Spur zu überschwenglich. Sonst war kein Fehler zu entdecken. Alles perfekt. Nicht der kleinste Makel. Außer eben diesem.

JOHANNA ADORJÁN

Marisha Pessl: "Die alltägliche Physik des Unglücks". Aus dem Englischen von Adelheid Zöfel. Verlag S. Fischer. 601 Seiten, 19,90 Euro. Erscheint am 12. März.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2007

Das Rauschen der Elefanten
Ein Wunderkind-Roman: Marisha Pessls „Die alltägliche Physik des Unglücks” Von Ijoma Mangold
Dieses Buch ist ein Phänomen. Es beeindruckt mehr durch das, was es kann, als durch das, was es ist. Weshalb man es leichter bewundern als lieben wird. Aber die Bewunderung ist, anders als das Rettungsmittel der Liebe, eine zwiespältige Regung. Sie reagiert auf die großen Vorzüge dieses Buches, indem sie zwar in die Knie geht, aber mit dem misstrauischen Verdacht, dass es hier nicht ganz mit rechten Dingen zugeht.
Wer noch keine Zeile von Marisha Pessl gelesen, aber dafür ein Foto von ihr gesehen hat, der wird sich denken: „Klar, kaum sieht eine junge Autorin gut aus, schon bekommt sie jede Menge Medienrummel, und jede Zeitung will ihre Rehaugen im Blatt und jeder Fernsehsender ihre langen blonden Locken vor der Kamera haben.”Aber auch wenn seine Verfasserin aussähe wie Aschenputtel, hätte der Roman „Die alltägliche Physik des Unglücks” es verdient, in großem Stil wahrgenommen zu werden. Denn er hat unzweifelhaft etwas Wunderkindhaftes. Zur Wunderkind-Assoziation gehört immer der Verdacht leerer, steriler Virtuosität. Hohe Fingerfertigkeit gewissermaßen, aber wo bleibt die Seele? Die Tiefe der Erfahrung? Der Ausdruck, der eigenem Leid abgerungen ist? Das virtuose Wunderkind ist ein Kandidat fürs Guiness-Buch der Rekorde, ein Beispiel kalter Perfektion. Es zeugt von Fleiß, Disziplin und unwahrscheinlichem technischem Talent. Es verspielt sich nie. Und bestimmt gibt es irgendwo einen Schalter, den man von 33 auf 45 umlegen kann, und auch dann wird das Wunderkind seine Etüde ohne Stolpern zu Ende bringen.
Marisha Pessl wurde 1977 in den USA geboren und studierte in New York, an der Columbia University. „Die alltägliche Physik des Unglücks” ist ihr erstes Buch. Im amerikanischen Kabelfernsehen gibt es einen Comedy-Kanal, auf dem jeder Comedian mindestens drei Gags pro Minuten bringen muss, sonst schaltet der Zuschauer weiter. Marisha Pessl bringt pro Seite – schätzen wir einmal konservativ: zwanzig Pointen.
Es ist nicht immer einfach, ein Buch zu lesen, dass auf jeder Seite mit zwanzig Pointen aufwartet. Man kommt nämlich nicht zum Lachen, weil immer schon die nächste Pointe einem an die Schulter klopft und Aufmerksamkeit für sich beansprucht. Trotzdem muss man sagen: Dass man so schreiben kann wie Marisha Pessl, ist absolut erstaunlich.
Ebenso erstaunlich ist Pessls Fähigkeit, mit ihrer Erzählerstimme sofort, von der ersten Seite an, da zu sein. Und zwar mit allen ihren Eigenheiten, Vorzügen, Ticks und Manierismen. Da gibt es kein umständliches Sich-Reinfinden für den Leser. Er schlägt das Buch auf und los geht es. Vom ersten Satz an meint man, die Erzählerstimme zu kennen. Als hätte es sie immer schon gegeben – so bekannt und vertraut wie der Sound von Raymond Chandlers Philip Marlowe. Aber dem ist natürlich nicht so.
Aber das eigentlich Wunderkindhafte an Marisha Pessl ist ihr Wissen, ihre jederzeit abrufbare Bildung, ihr geradezu absurdes kulturelles Gedächtnis. (Wenn man nichts vergessen kann, was man je gelesen hat, gibt es dann für diese Krankheit einen Namen?) Wo andere an einem Wochenende eine Novelle von Maupassant lesen, muss Marisha Pessl die russische Literatur des 18. und des 19. Jahrhunderts vollständig ihrem Lektüre-Scan unterworfen haben. Und wer behauptet, bei dieser gigantischen Bildungsaneignung sei innerlich nichts hängen geblieben, der beugt die Wahrheit. Stellen Sie sich, verehrter Leser, die abwegigste und bizarrste oder auch die banalste und alltäglichste Situation ihres Lebens vor – Marisha Pessl wird, wenn Sie sie fragen, dazu garantiert die passende Romanstelle oder den entsprechenden Shakespeare-Monolog zitieren, der diese Situation und alle dazugehörigen Gefühlswerte und Reflexionen vollständig antizipiert.
Die Frage, wie eine noch nicht einmal dreißig Jahre alte Autorin einen solchen Bildungskanon intus haben kann, sollen die Gehirnforscher klären. Warum aber Blue van Meer, die Protagonistin und Ich-Erzählerin von Pessls Roman, über diesen Anspielungshorizont verfügt, das plausibilisiert Pessl mit einem speziellen Vater-Tochter-Verhältnis, von dem das Buch ganz eigentlich handelt. Und wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, das ist nun doch alles andere als mechanisch und steril.
Blue van Meer lebt mit ihrem Vater alleine zusammen, nachdem ihre Mutter, Blue war damals sechs Jahre alt, bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Ihr Vater ist Professor für politische Wissenschaften, sein Forscherinteresse gilt den revolutionären Bewegungen, den Freiheitskämpfen und Rebellionen. Sein Herz schlägt links, da sagt man nicht zuviel, aber „Dad”, wie er durchgehend heißt, scheint Realist genug zu sein, um zu wissen, dass den revolutionären Träumen stets etwas Illusionäres eignet. Aber ein Spießer oder Konformist, das ist er deshalb noch lange nicht.
Weshalb er sich auf so etwas Kleinbürgerliches wie einen festen Wohnsitz nicht einlässt, sondern mit seiner Tochter im Dreimonatsrhythmus die Städte (und Schulen) wechselt, um an stets wechselnden Colleges Lehraufträge anzunehmen. „Die alltägliche Physik des Unglücks” ist so ein doppelter Genre-Roman: Campus-Novel und Roadmovie. Blue kurvt mit ihrem Vater bis zu ihrem Highschool-Abschluss durch die USA, nirgends länger als drei Monate verweilend – und während dieser langen Autofahrten werden Gedichte rezitiert, Hörbücher der Weltliteratur gehört und Geschichtslektionen auf jene unterhaltsame Art vermittelt, die allem, was dieser coole Dad, der nicht nur klug, sondern auch gutaussehend ist, von sich gibt, eigen ist. Die Tochter liebt ihren Vater abgöttisch, und es muss diese Liebe sein, die sie die Bildungswelt von Dad wie ein Schwamm aufsaugen lässt. Denn der Vater mag von der Gleichheit träumen – unter irdischen Bedingungen weiß er, dass Wissen das beste Kapital ist, um in dieser Welt etwas zu werden. Oder ist dieser Vater doch nur ein Schwätzer?
Wenn die Handlung des Roman einsetzt, steht Blue kurz vor ihrem Highschool-Abschluss. Erstmals werden Vater und Tochter über ein halbes Jahr an einer gutbeleumundeten Highschool bleiben, denn schließlich soll Blue es nach Harvard schaffen. Doch dann entspinnt sich eine schwindelerregende Handlung, schlägt eine völlig unvorhersehbare Richtung ein und läuft auf einen Schluss zu, von dem nur soviel verraten sei, dass ihn bestimmt kein Studioboss in Hollywood je akzeptieren würde.
Es ist ein Genre-Roman, aber ein delirierender Genre-Roman. Er spielt virtuos mit seinen Versatzstücken und nutzt sie, um ganz woanders, als der Leser erwartet, herauszukommen. Marisha Pessl hat sich dabei ein wohlkalkuliertes Repertoire an Schreibverfahren zurecht gelegt, diese – so hat man den Eindruck – bis zum Abwinken trainiert und dann festgestellt: Sie funktionieren.
Das wichtigste dieser Schreibverfahren ist der Vergleich. Er ist die Schnittstelle zwischen einer rhetorischen Figur, einem Witz und der Roman-Frage, wie man mit Wissen die Welt kartographiert. Über den Vergleich werden alle Handlungen, Gedanken und Gefühle der Figuren rückgebunden an irgendeinen kanonischen Topos der Kulturgeschichte. Blue kann nichts in ihrer Umwelt wahrnehmen, ohne sich davon sogleich zu einem Bildungs-Vergleich animieren zu lassen: „Ich wusste, wenn es zum Eigentlichen käme, würde ich ohne Vorwarnung fliehen, wie Hannibals Elefanten bei der Schlacht von Zana im Jahr 202 v. Chr.” Wenn Blue ihre Initiation in die angesagte Schul-Clique erfährt, schreibt sie: „Meine Aufnahme in ihren Magischen Zirkel verlief so schmerzlos wie die Invasion der Normandie.” Über ihren Vater schreibt sie: „Dad ging diese Aufgabe mit derselben Zielstrebigkeit an wie Reagan, als er sich wegen des Atomwaffensperrvertrags an Gorbatschow heranmachte.” Hohe Lederstiefel sehen „wie Italien aus”. Und über eine Mitschülerin heißt es: „Sie ist so was von out. Wie Kohlehydrate.” Aber die meisten Vergleiche kommen aus der Welt der Literatur, des Films und des Schlagers. Die ganze Welt – ein Echoraum topischer Zitate.
Einmal sagt der Vater zu seiner Tochter: „Die Leute um dich herum mögen ihre Novellen haben, (. . .) du wirst mit deinem Leben nichts Geringeres schaffen als ein Epos.” Deshalb konfrontiert er Blue ständig mit den heroischen Taten, wie sie die Sänger festhalten, damit seine Tochter daran Maß nehmen möge. Dass dieser Wissensanspielungshorizont aber möglicherweise eine tote Wüste ist, das reflektiert dieser kluge Roman immerzu mit – am lustigsten dann, wenn er Figuren dadurch charakterisiert, bis zur wievielten Stelle hinter dem Komma sie Pi auswendig können. Hat der Vater, der von nichts weniger als der Unsterblichkeit seiner Tochter träumt, dieser die Zahl Pi in zu großem Umfang ins Hirn geblasen?
Und jetzt kommt vielleicht das Erstaunlichste: Ab irgendeinem Punkt, vielleicht ab Seite zweihundert, hat man sich an das Pointenrauschen und Zitat-Gedröhn so gewöhnt wie an Fluglärm, wenn man zehn Jahre in einer Einflugschneise lebt: Man nimmt es nicht mehr eigens wahr, es lenkt einen nicht mehr ab von der Konzentration, mit der man plötzlich der Geschichte, dieser Blue und ihrem Vater und ihrer Lehrerin und ihren Schulfreunden folgt. Und es entspinnt sich eine Krimihandlung, deren Auflösung einen wirklich umtreibt. Und am Ende ist dann nichts so, wie man es am Anfang dachte und man muss einräumen: Dieses Buch ist ein Wunder, an das man gerne glauben möchte.
Marisha Pessl
Die alltägliche Physik des
Unglücks
Roman. Aus dem Amerikanischen von Adelheid Zöfel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 601 Seiten, 19,90 Euro.
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