Die Alterung der Gesellschaft gilt in Deutschland als ein zentrales Problem, nicht zuletzt dank Frank Schirrmachers Bestseller "Das Methusalem-Komplott". Die steigende Lebenserwartung gilt als Hauptgrund. Dies aber entspricht nicht den Tatsachen. Das Durchschnittsalter steigt stärker durch die niedrige Geburtenrate. Diese Entwicklung kann realistischerweise auch durch Zuwanderung nicht kompensiert werden. Herwig Birg geht diesem Zentralproblem und allen damit zusammenhängenden ausführlich nach.
Er zeigt, daß demographische Prognosen sich als sehr verläßlich erwiesen haben. Das Versagen der Politik wiegt deshalb umso schwerer.
Er zeigt, daß demographische Prognosen sich als sehr verläßlich erwiesen haben. Das Versagen der Politik wiegt deshalb umso schwerer.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.2015Demographie-Abwärtsspirale
Herwig Birg wirft der Politik Versagen vor
Dieses Buch ist der Aufschrei eines Demographen, der mit seinen Warnungen in der Politik auf viel Unverständnis gestoßen ist. Herwig Birg war von 1981 bis 2004 Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik an der Universität Bielefeld. Auch nach seiner Emeritierung berät er Regierungen und Organisationen. Doch er stieß weitgehend auf taube Ohren, findet er. Seit vier Jahrzehnten liegt die durchschnittliche Geburtenzahl je Frau in Deutschland bei nur 1,4 - das heißt, es werden rund ein Drittel weniger Kinder geboren als die bestandserhaltende Zahl von 2,1. Seit Jahren ist die deutsche Bevölkerungszahl deshalb im Sinkflug und wird nur durch recht hohe Nettozuwanderung stabilisiert. Bald werde der Sinkflug zum Sturzflug, warnt Birg. Bis zum Jahr 2060 werde die Einwohnerzahl Deutschlands um rund 20 Millionen (fast ein Viertel) sinken und die Bevölkerung sehr stark gealtert sein - mit allen Konsequenzen für die Wirtschaft und die Finanzierbarkeit der Sozialsysteme.
Die Politik aber, kritisiert Birg, stecke den Kopf in den Sand. Er wirft sämtlichen Parteien "verantwortungslose Untätigkeit angesichts eines existentiell wichtigen Problems" vor. Seit einiger Zeit, stellt er zudem fest, werde der "demografische Wandel" in eine "Chance" umdefiniert und beschönigt. Birg meint, dass die Bevölkerung zum Teil bewusst in die Irre geführt werde.
Das Buch erklärt in mehreren Kapiteln das kleine Einmaleins der Bevölkerungswissenschaft: Birg erläutert die Determinanten der Demographie und führt auch in schwierigere Konzepte ein. Seine eigene Erklärung der sinkenden Geburtsrate in Industrieländern zielt stark auf die erhöhte biographische Unsicherheit ab: Je mehr die Menschen heutzutage flexibel und mobil sein müssen, weil dies der Beruf erfordert, desto schwieriger wird die langfristige Familienplanung - und desto mehr steigt die Kinderlosigkeit. Inzwischen bleibt ein Viertel aller Frauen lebenslang kinderlos. Unter den gutausgebildeten Frauen liegt der Anteil der Kinderlosen noch höher. Durch die sinkende Zahl der Jungen und der arbeitsfähigen Bevölkerung schwinde das Wachstumspotential der Volkswirtschaft. Zudem wird es zu schärferen Verteilungskämpfen um die knapperen Ressourcen der Sozialsysteme kommen.
Birg warnt vor der Illusion, allein durch Zuwanderung die demografische Lücke schließen zu wollen. Mit einer Vielzahl von Statistiken zeigt er, dass ein zu großer Teil der bisherigen Migranten nur schwer in den Arbeitsmarkt zu integrieren ist. Ein Drittel haben keinen Schulabschluss, die Arbeitslosigkeit liegt doppelt so hoch wie unter den Deutschen, der Sozialhilfebezug doppelt so hoch, bei Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten sogar drei- bis viermal so hoch. Birg warnt vor einer massenhaften Einwanderung bildungsferner Schichten, die mehr Probleme schaffe als löse.
Im letzten Teil seines Buchs präsentiert er Vorschläge, um den demographischen Abwärtstrend aufzuhalten. Seine Hauptkritik lautet, dass in den umlagefinanzierten Sozialsystemen Kinderlose ungerechterweise von den Leistungen kinderreicher Familien profitierten, deren Nachwuchs Beiträge zahlt, während Eltern (vor allem Mütter) oft nur geringe Renten erhalten. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht im "Trümmerfrauenurteil" und im Urteil zur Pflegeversicherung moniert. Doch die Politik "boykottiere" die Urteile, kritisiert Birg. Weiter fordert er mehr Betreuungseinrichtungen für Kinder. Kontrovers diskutiert werden dürfte sein Vorschlag eines "Vorrangs für Eltern bei der Vergabe von Arbeitsplätzen" bei gleich qualifizierten Bewerbern und einer "Mütterquote". Weiter regt er, wie Paul Kirchhof, ein Familienwahlrecht an, um kinderreichen Eltern mehr politisches Gewicht zu geben.
Dieses Buch sollte die Öffentlichkeit aufrütteln und eine breitere Diskussion anregen. Manche Aussagen Birgs mag man für zu pessimistisch halten. Aber unbestreitbar ist, dass er ein Megathema anspricht, das mit unglaublicher Wucht unsere Gesellschaft, Wirtschaft und Politik erfassen wird.
PHILIP PLICKERT
Herwig Birg: Die alternde Republik und das Versagen der Politik. Lit Verlag, Berlin 2015, 242 Seiten, 34,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Herwig Birg wirft der Politik Versagen vor
Dieses Buch ist der Aufschrei eines Demographen, der mit seinen Warnungen in der Politik auf viel Unverständnis gestoßen ist. Herwig Birg war von 1981 bis 2004 Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik an der Universität Bielefeld. Auch nach seiner Emeritierung berät er Regierungen und Organisationen. Doch er stieß weitgehend auf taube Ohren, findet er. Seit vier Jahrzehnten liegt die durchschnittliche Geburtenzahl je Frau in Deutschland bei nur 1,4 - das heißt, es werden rund ein Drittel weniger Kinder geboren als die bestandserhaltende Zahl von 2,1. Seit Jahren ist die deutsche Bevölkerungszahl deshalb im Sinkflug und wird nur durch recht hohe Nettozuwanderung stabilisiert. Bald werde der Sinkflug zum Sturzflug, warnt Birg. Bis zum Jahr 2060 werde die Einwohnerzahl Deutschlands um rund 20 Millionen (fast ein Viertel) sinken und die Bevölkerung sehr stark gealtert sein - mit allen Konsequenzen für die Wirtschaft und die Finanzierbarkeit der Sozialsysteme.
Die Politik aber, kritisiert Birg, stecke den Kopf in den Sand. Er wirft sämtlichen Parteien "verantwortungslose Untätigkeit angesichts eines existentiell wichtigen Problems" vor. Seit einiger Zeit, stellt er zudem fest, werde der "demografische Wandel" in eine "Chance" umdefiniert und beschönigt. Birg meint, dass die Bevölkerung zum Teil bewusst in die Irre geführt werde.
Das Buch erklärt in mehreren Kapiteln das kleine Einmaleins der Bevölkerungswissenschaft: Birg erläutert die Determinanten der Demographie und führt auch in schwierigere Konzepte ein. Seine eigene Erklärung der sinkenden Geburtsrate in Industrieländern zielt stark auf die erhöhte biographische Unsicherheit ab: Je mehr die Menschen heutzutage flexibel und mobil sein müssen, weil dies der Beruf erfordert, desto schwieriger wird die langfristige Familienplanung - und desto mehr steigt die Kinderlosigkeit. Inzwischen bleibt ein Viertel aller Frauen lebenslang kinderlos. Unter den gutausgebildeten Frauen liegt der Anteil der Kinderlosen noch höher. Durch die sinkende Zahl der Jungen und der arbeitsfähigen Bevölkerung schwinde das Wachstumspotential der Volkswirtschaft. Zudem wird es zu schärferen Verteilungskämpfen um die knapperen Ressourcen der Sozialsysteme kommen.
Birg warnt vor der Illusion, allein durch Zuwanderung die demografische Lücke schließen zu wollen. Mit einer Vielzahl von Statistiken zeigt er, dass ein zu großer Teil der bisherigen Migranten nur schwer in den Arbeitsmarkt zu integrieren ist. Ein Drittel haben keinen Schulabschluss, die Arbeitslosigkeit liegt doppelt so hoch wie unter den Deutschen, der Sozialhilfebezug doppelt so hoch, bei Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten sogar drei- bis viermal so hoch. Birg warnt vor einer massenhaften Einwanderung bildungsferner Schichten, die mehr Probleme schaffe als löse.
Im letzten Teil seines Buchs präsentiert er Vorschläge, um den demographischen Abwärtstrend aufzuhalten. Seine Hauptkritik lautet, dass in den umlagefinanzierten Sozialsystemen Kinderlose ungerechterweise von den Leistungen kinderreicher Familien profitierten, deren Nachwuchs Beiträge zahlt, während Eltern (vor allem Mütter) oft nur geringe Renten erhalten. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht im "Trümmerfrauenurteil" und im Urteil zur Pflegeversicherung moniert. Doch die Politik "boykottiere" die Urteile, kritisiert Birg. Weiter fordert er mehr Betreuungseinrichtungen für Kinder. Kontrovers diskutiert werden dürfte sein Vorschlag eines "Vorrangs für Eltern bei der Vergabe von Arbeitsplätzen" bei gleich qualifizierten Bewerbern und einer "Mütterquote". Weiter regt er, wie Paul Kirchhof, ein Familienwahlrecht an, um kinderreichen Eltern mehr politisches Gewicht zu geben.
Dieses Buch sollte die Öffentlichkeit aufrütteln und eine breitere Diskussion anregen. Manche Aussagen Birgs mag man für zu pessimistisch halten. Aber unbestreitbar ist, dass er ein Megathema anspricht, das mit unglaublicher Wucht unsere Gesellschaft, Wirtschaft und Politik erfassen wird.
PHILIP PLICKERT
Herwig Birg: Die alternde Republik und das Versagen der Politik. Lit Verlag, Berlin 2015, 242 Seiten, 34,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main