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Produktdetails
  • Ein Geo-Buch
  • Verlag: Gruner & Jahr
  • 5. Aufl.
  • Seitenzahl: 367
  • Abmessung: 290mm
  • Gewicht: 1728g
  • ISBN-13: 9783570070291
  • Artikelnr.: 24784952
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Ehebruch auf Auslegeware
Schon okay so - Auch Ulrich Woelk reist nach Amerika / Von Harald Jähner

Wer zum ersten Mal Nordamerika bereist, wird von eigenartigen Wahrnehmungszweifeln befallen: Das Land sieht durch den Monitor einer Videokamera wirklicher aus als mit bloßem Auge betrachtet. Auch in Ulrich Woelks neuem Roman wird noch im letzten Fünftel die Frage aufgeworfen, ob es sich überhaupt lohne, in die Vereinigten Staaten zu reisen, nachdem man in ungezählten Filmen bereits dort gewesen sei. Und wieder ist es die Simulation, jene überstrapazierte Erfindung des französischen Philosophen Baudrillard, die für eine von Medien und Bildern untrennbare Realität herhalten muß. Ob es die vergitterten Fahrstuhlkäfige sind, die von Loft zu Loft rumpeln, oder die berühmten eiförmigen Wohnwagen mit aufgepflanzter amerikanischer Flagge als spärliches Highway-Mobiliar - fast jeder amerikanische Gegenstand gibt dem Fremden Anlaß zu road movies innerer Bilderketten, mit denen die durchreiste Welt konkurrieren muß.

Schön melancholisch ist das und bildstark. Ist es aber auch ergiebig genug, um sich gleich in ganzen Stapeln europäischer Gegenwartsliteratur immer wieder mit alten Filmklischees herumzuschlagen? Auch in diesem Roman fordern Hunderte in die Erinnerung gebrannter A- und B-Movies ihren Tribut und lenken die Wahrnehmung wie mit Hilfe eingebauter innerer Projektoren auf filmische Einstellungen.

So läßt der Autor den Helden verraten, die Motelzimmer kämen seiner Klischeesteuerung nicht entgegen: "keine schäbigen Räume, in denen die Melancholie zerbrochener Träume den Boden bedeckt, sondern kleinbürgerliche Kunstfaserreservate mit melierter Auslegware und furnierten Nachttischschränkchen, die höchstens zu einem trüben, leidenschaftslosen Ehebruch taugen". Das Design bestimmt das Bewußtsein, die Leidenschaften müssen in der Kühlbox bleiben, bis ein passenderes Ambiente gefunden ist. Der Ehebruch kommt ohnehin. Amerika aber wird darüber mehr und mehr zum Mysterium.

So kommt auch Ulrich Woelks Held, der den Namen Jan trägt, nie richtig in Amerika an. Daß der für vierzehn Tage aus Deutschland eingereiste Journalist keine Gelegenheit erhält, die Gegenprobe auf die Bilderwelt zu machen, hat einen einfachen Grund: Statt in die Realität der Vereinigten Staaten verstrickt Jan sich tief in die Beziehungskiste seiner Gastgeber. Walter und Kristin sind alte Freunde, die vor Jahren auswanderten und ihm nun ihre karge Seelenlandschaft zur Durchquerung bieten, karger als Desert Valley und die Badlands. Doch die "amerikanische Reise" bleibt nicht im Privaten stecken, gestaltet doch der Autor die drei Deutschen als Soziotop, als einen Paradefall aktueller Befindlichkeiten der besserverdienenden Menschen mittleren Alters, der thirtysomethings, man könnte auch sagen: als Sittenskizze.

Walter ist Praktiker und Banker, Kristin ist theoretische Mathematikerin, aber aufgrund einer erotischen Beziehung zu ihrem Nachbarn zur Kunst konvertiert. Kristin hat sich auch immer zu Jan hingezogen gefühlt, obgleich er ihr letzten Endes nicht unbefangen genug erschien, um wirklich etwas mit ihm anzufangen. Alle fühlen sich irgendwie und irgendwann und teilweise zu allen hingezogen in diesem Roman, und sein Autor weiß immer genau, warum. Trostlos hell ausgeleuchtete Beziehungskausalitäten vertragen sich bestens mit nicht mal gequälter Leidenschaftslosigkeit. Aufbrausend sind allenfalls der Schmerz und bisweilen die Gewalt. Schon am ersten Abend streiten sich Walter und Kristin so heftig, daß sie das Haus verläßt, und Jan muß mit.

Westwärts geht es - nicht im Toyota, sondern im alten Buick - durch die Vereinigten Staaten, wenn auch wieder in sehr äußerlichem Sinne, denn das Appartement wird lediglich durch das Gehäuse des Wagens ersetzt, der immer die gleichen Mittelstreifen von der Frontscheibe in den Rückspiegel schiebt.

Inzwischen erfährt der sitzengelassene Walter, daß sein Freund Neil ihn mit Bankmanipulationen um zweihunderttausend Dollar geschädigt hat. Blind vor Wut und Rachegefühlen vergewaltigt er dessen Freundin Cindy. Währenddessen geben sich Kristin und Jan im Monument Valley dem Gruppensex mit einem zufällig angesprochenen Paar hin. Jan, der sich inzwischen sogar bis an die Grenze zur Liebe zu Kristin hingezogen fühlt, liegt dabei unter einer Frau namens Ariel, an der er vorbeizuschauen sucht, um Kristins "vibrierende" Brüste zu betrachten, mit denen Hank beschäftigt ist.

Daß dem Autor bei den Sexszenen nur die einfältigsten Termini zur Hand sind, wirkt um so trauriger, als er der Szene eine bemühte Reflexion über die Verfeinerung von Sexualpraktiken vorangestellt hat. Schon schärfer ist sein Gespür für Situationen sexueller Latenz, für das lauernde Bemerken eines nackten Streifens Haut zwischen Schuh und Hosensaum zum Beispiel oder für das lange Nachklingen von Sekundenbruchteilen, in denen der Ausschnitt einen Blick auf die begehrte Brust freigab.

Woelks Helden fischen nach Oberflächenreizen, die sie dem schwachen Strom ihrer Wahrnehmungsreflexe entreißen können. "Jede Frau ist eine Station, jeder Mensch ist eine Station" lautet Jans Lebensweisheit, Motto eines road movie auch das. Alle Stationen handelt die Sprache des Romans in ambitionierter Nüchternheit ab, so wie Jan das Aussehen seiner Geliebten stets mit einem Diktiergerät festzuhalten sucht. Allenfalls die heraneilenden Lichtpunkte des Bildschirmschoners auf dem Computermonitor, welche wiederum in die Reflexe von Straßenlaternen übergehen, wie sie aufblitzend über die Frontscheibe des Autos huschen, schildert Woelk mit gewisser Wärme.

Wo aber Stillstand eintritt, stellt ein prägnant kühles Erzählen die Dinge in jene rätsellose Zweidimensionalität, die Jans fast erleichtertem Ausruf entspricht: "Es gibt kein falsches Leben, und es gibt keine falsche Welt." Vermutlich soll hier Adornos schon von vornherein etwas sonderbare Einsicht, "es gibt kein wahres Leben im Falschen", postmodern und unbekümmert pariert werden. Tatsächlich wäre, wenn ohnehin alle Realität nur Bild und Einbildung sei, jede Erkenntniskritik durch Begriffe wie "wahr" und "richtig" pure Zeitverschwendung. So gesehen ist das Leben wirklich "besser als sein Ruf", wie Jan bilanziert, ein Apologet des Mühelosen, der "Gewicht um Gewicht abgeworfen hat".

Ulrich Woelks Roman ist ein Plädoyer für avancierte Anspruchslosigkeit, philosophisch einigermaßen begründet, aber literarisch nicht beredt genug, um ohne theoretische Einsprengsel auskommen zu können, in denen er sich über Puritanismus, Erfolgsmythen, Kinogenres, Sex und natürlich die Simulation abmüht. Woelks Charakteren ist eben nicht zu trauen, er selbst baut ihnen ein starres Geflecht aus erzählerischen Strukturen, das sie in banaler Symmetrie zusammenzwingt.

Moniereisenschwer ragt die Konstruktion des Romans in die Handlung hinein. So findet die alles zusammenschürzende Gruppensexszene ausdrücklich in der Mitte des nordamerikanischen Kontinents statt, im Monument Valley, von dem Woelk zu Beginn behauptet, ohne es sei jedes road movie unglaubwürdig. Sie findet auch genau in dem Augenblick statt, da der Komet Shoemaker Levy auf den Jupiter tritt. Und just zur gleichen Zeit bricht über Walter eine Welt zusammen. Wo die Inhalte dahinplätschern, drängt die Form auf strafferes Timing - eine dramaturgische Übervorsicht, die übrigens den Stückeschreiber verrät; die gesamte Konzeption ist vom Theater aus gedacht.

"Wenn man unsere Generation irgendwann fragen wird: Wie war das Leben denn so?, werden wir antworten: Es war okay", läßt der Autor kokettieren. Aber dann kommt's: In einer verblüffenden Wendung im angehängten kurzen Epilog, zwei Jahre nach den Ereignissen in Berlin handelnd, bringt Woelk jenes melancholisch affirmative Lebensgefühl ins Wanken. Einer hat falsch gespielt.

Gibt es also doch ein "falsches Leben"? Wer hier was und wie verheimlicht hat, soll dem Leser nicht verraten werden, soviel sei jedoch gesagt: Vom Schluß her betrachtet, hätte der Lauf der Dinge in anderem Licht erscheinen können. Mit der Existenz der Lüge müßte der Schluß des Romans auch wieder die Kategorie der Wahrheit ins Spiel bringen, hätte der Autor mehr gewollt, als zu verblüffen. So viele Konjunktive! Sollten sie im banalen Präsens dieser Generation (oder dieser Literatur?) keinen Platz mehr haben? Schließlich ist das Leben schon "okay, so wie es ist".

Ulrich Woelk: "Amerikanische Reise". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1996. 247 S., geb., 36,- DM.

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