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Am 17. September 1911 erhob sich das Wiener Proletarierviertel Ottakring in einer Hungerrevolte. Damit artikulierten die zumeist vom Land zugewanderten Proletarierinnen und Proletarier nicht nur ihre fortdauernde soziale Not, sondern auch den drohenden Verlust der Sehnsucht nach einem besseren Leben, für das sie in die Metropole gekommen waren. Wolfgang Maderthaner und Wolfgang Musner schildern den Alltag der Wiener Vorstädte um 1900: die Sorge um das tägliche Überleben und die Flucht in die Traumwelten der Singspielhallen, der Kinos und der frühen »Disneylands« im Wiener Prater. Außerdem…mehr

Produktbeschreibung
Am 17. September 1911 erhob sich das Wiener Proletarierviertel Ottakring in einer Hungerrevolte. Damit artikulierten die zumeist vom Land zugewanderten Proletarierinnen und Proletarier nicht nur ihre fortdauernde soziale Not, sondern auch den drohenden Verlust der Sehnsucht nach einem besseren Leben, für das sie in die Metropole gekommen waren. Wolfgang Maderthaner und Wolfgang Musner schildern den Alltag der Wiener Vorstädte um 1900: die Sorge um das tägliche Überleben und die Flucht in die Traumwelten der Singspielhallen, der Kinos und der frühen »Disneylands« im Wiener Prater. Außerdem beschreibt das Buch die Lebensform rebellischer Straßen- und Jugendgangs und rekonstruiert das Aufbegehren gegen die bürgerlich-aristokratische Elitenkultur.
Autorenporträt
Wolfgang Maderthaner, PD Dr. phil., ist Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs i.R. und Präsident des Vereins für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung.Lutz Musner ist Wissenschaftssekretär des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2000

Klimts Kehrseite
Na, das sieht alles gar nicht mehr so prächtig aus: Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner stellen das Wien der Jahrhundertwende einmal etwas anders dar

Das Buch über das "andere Wien um 1900" sagt am Anfang ohne Umschweife, was es beabsichtigt: "Mit dem vorliegenden kulturwissenschaftlichen Essay wollen wir das bislang in der Moderne-Forschung vornehmlich hochkulturell gezeichnete Bild der Wiener Jahrhundertwende und deren Eliten erweitern, relativieren und korrigieren." Darum sei auch hier gleich zu Beginn mitgeteilt, was daran ein wenig stört. Es sind "weibliche Migrantinnen" ebenso wie "eine Epitome" oder eine "lange Durée". Nicht immer präziser Wissenschaftsjargon erschwert nämlich zuweilen die Lektüre auf unnötige Weise. Auch wer sich eben nicht auf die so genannte Hochkultur konzentriert, könnte Begriffe und Namen aus diesem Bereich korrekt wiedergeben - also weder den Unterschied zwischen "k.k." und "k.u.k." vernachlässigen noch einen österreichischen Machtelitenträger wie den Ministerpräsidenten Taaffe oder den berüchtigten christlich-sozialen Radau-Abgeordneten Hermann Bielohlawek falsch schreiben.

Zudem wäre es gerade im Sinne der Argumentation der beiden Autoren zielführend gewesen, wichtige Ereignisse und Persönlichkeiten des "anderen Wien" in ihrer charakteristischen Spiegelung durch Vertreter der Hochkultur zu zeigen. Die große Arbeiterdemonstration vom 1. Mai 1890 im Wiener Prater zum Beispiel, deren Bedeutung nachdrücklich betont wird, hat nicht zuletzt den feinen Knaben Hugo von Hofmannsthal zu einem Gedicht inspiriert: "Tobt der Pöbel in den Gassen" - ein klassisches Dokument besitzbürgerlicher Ängste. Und dem "Robin Hood von Wien", dem Meidlinger Einbrecherkönig Johann Breitwieser - ihm sind zu Recht mehrere Seiten gewidmet -, setzte auch der liberale Feuilletonist Alfred Polgar ein schönes literarisches Denkmal: "Ein Heldenleben".

Von solch kleinen Einwänden abgesehen ist Wolfgang Maderthaners und Lutz Musners Studie "Die Anarchie der Vorstadt" ohne Vorbehalt zu preisen. Sie öffnet in der Tat die Augen für das im Boom der Fin-de-Siècle-Mode tunlichst übersehene Schattenreich am Rande des Wiener Wegs zur Welthauptstadt der Moderne, für die Kehrseite von Klimts Goldgrund-Malerei. Die Methode der Historiker besteht aus dem Versuch, das Stadtbild als einen urbanen, von Kapital und technischem Fortschritt gemeißelten Text zu lesen. Denn eines unterscheidet Wien deutlich von anderen vergleichbaren Metropolen der Epoche: die Verschleppung des prunkvollen Ringstraßen-Fassadenstils bis weit über den Gürtel hinaus in die öde Stadtlandschaft der Zinskasernen. Die äußere Pracht mit Stuck und Karyatiden sollte die aufgezwungene Unmenschlichkeit des Lebens drinnen verschleiern und "die Deklassierten dazu bringen, sich in Wohnumständen und Wohnbedingungen still und passiv zu verhalten, die objektiv elend sind und pauperisierend wirken".

Deshalb scheint der Hinweis, dass bei Hungerrevolten in vermeintlich zweckloser Zerstörungswut vor allem auch Schulen, Verkehrszeichen, Reklame- und Geschäftsschilder verwüstet wurden, durchaus bedenkenswert: Die verordnete Verschriftlichung ihrer Welt symbolisierte für die meist aus dem bäuerlichem Raum der Kronländer zugewanderten Erniedrigten und Beleidigten nichts als ihre Unterdrückung und Ausbeutung. Auch glich die Perspektive vom Zentrum Richtung Peripherie in der triumphierenden Gründerzeit durchaus dem kolonialen Blick auf einen finsteren Kontinent - mit all den Projektionen sexueller Art auf das Fremde, Unheimliche: Schmutz und erotische Zügellosigkeit in den Armutsvierteln wurden da als abstoßend und faszinierend zugleich empfunden. Das Heer der Prostituierten und "Plattenbrüder", Mitglieder jugendlicher Banden, beschäftigte sensationssüchtige Zeitungen, besorgte Ärzte und Priester und bereicherte die Flaneursphantasien wohlsituierter Männer mit neuem Sinnenkitzel.

Die Volkskultur an Vergnügungsstätten wie im "Böhmischen Prater" und in den Ottakringer Unterhaltungsschenken, aber auch der identitätsstiftende Dialekt, die Zote und der Straßenslang werden von den Verfassern ebenso gewürdigt wie die Fluchtdrogen und Traummaschinen der Proletarier: Alkohol und Kino. Der bereits erwähnte vorstädtische Kriminalvirtuose Breitwieser, dessen Einbruchswerkzeuge ganz auf der Höhe ihrer Zeit waren, avancierte einst zum gefeierten Sozialrebellen. Zehntausende folgten seinem Sarg, nachdem die Polizei den wieder einmal dem Kerker Entronnenen in seiner mit Bourgeois-Geschmack eingerichteten Villa erschossen hatte. Den Trauerchoral sang ein Quartett der erst seit kurzem republikanischen Hofoper.

Aufschlussreich ist auch die dramaturgisch geschickte Gegenüberstellung des antisemitisch-christlich-sozialen Bürgermeisters Karl Lueger und Franz Schuhmeiers, des ermordeten sozialdemokratischen Volkstribuns. In ihnen verband sich das Populare mit dem Populistischen zu jener Allianz, die der liberalen Ära den Garaus gemacht hatte. Beider Begräbnisse gerieten nach wienerisch morbidem Brauch naturgemäß zu Massenaufmärschen, allerdings vordem ungeahnten Ausmaßes und mit politischen Akzenten.

Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner haben mit ihrer Studie eine Pionierleistung vollbracht. Eine um sich selbst kreisende Kulturgeschichte braucht mehr denn je Kartografen des sozialen Hinter- und Untergrunds.

ULRICH WEINZIERL

Wolfgang Maderthaner, Lutz Musner: "Die Anarchie der Vorstadt". Das andere Wien um 1900. Campus Verlag, Frankfurt am Main, New York 1999. 240 S., Abb., br., 48,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Mit großer Sympathie allein schon für das Vorhaben selbst, nämlich der Rede vom Wien des bürgerlichen Fin de Siecle das "andere Wien" entgegenzustellen, das zur gleichen Zeit in Armut, Protest und Ausgrenzung lebte, stellt Christiane Zintzen diesen Band vor. Kaum "kundigere Cicerones" als die beiden Autoren kann sie sich vorstellen für einen Ausflug jenseits der Ringstrasse zu den `suburbanen Subkulturen` der Wiener Vorstadt zwischen 1870 und 1910. Wer sich ihrer Führung durch den "Palimpsest" verschiedenster kultureller und historischer "Einschreibungen" anvertraut, lernt, so Zintzen, den Blick der Sozialreportage aus der "Misere der Massenquartiere" ebenso kennen wie den projizierenden Blick der Bürger, einschließlich Freuds, der dem geordneten Zentrum des Ich die Domestizierung des "dunklen Kontinents", des Triebhaften am Rande", anempfahl. Die vielfältigen Informationen haben die Rezensentin ebenso erstaunt wie sie die "Verzahnung" von theoretischen Überlegungen und konkretem Detail überzeugt haben. Eine "an- und aufstachelnde Lektüre", urteilt sie. Beigegeben ist der halbseitigen Besprechung ein beredtes Foto aus dem besprochenen Band zum Thema Vorstadtelend.

© Perlentaucher Medien GmbH
Klimts Kehrseite
"Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner haben mit ihrer Studie eine Pionierleistung vollbracht." (Frankfurter Allgemeine, 24.01.2000)

Anarchie und Alltag
"So erzählt sich Sozialgeschichte ohne palaverndes Pathos, zeigt sich im signifikanten Detail, schämt sich jedoch auch des abstrakten Gedankens nicht: an- und aufstachelnde Lektüre, nicht nur des Wienerischen wegen." (Neue Zürcher Zeitung, 18.03.2000)