Als in den Medien von einem spektakulären Leichenfund in Hamburg berichtet wird, wird auch die Journalistin Olive in London darauf aufmerksam, denn der Kompass, der bei der Leiche gefunden wurde, gleicht dem Kompass, den Olive von ihrer Großmutter Poppy als vorgezogenes Erbe erhalten hatte. Über die
Bedeutung hatte Olive nie weiter nachgedacht und kann ihre Großmutter, die inzwischen…mehrAls in den Medien von einem spektakulären Leichenfund in Hamburg berichtet wird, wird auch die Journalistin Olive in London darauf aufmerksam, denn der Kompass, der bei der Leiche gefunden wurde, gleicht dem Kompass, den Olive von ihrer Großmutter Poppy als vorgezogenes Erbe erhalten hatte. Über die Bedeutung hatte Olive nie weiter nachgedacht und kann ihre Großmutter, die inzwischen pflegebedürftig und dement ist, nicht mehr fragen. Frustriert von ihrer beruflichen Situation, in der ihr nicht mehr als das Verfassen von Horoskopen zugetraut wird, ergreift sie die Chance für eine eigene, persönliche Story und begibt sich mit dem Fotografen Tom nach Deutschland, um mehr über die Geschichte ihrer Großmutter herauszufinden.
Zwanzig Jahre früher ist Claire in New York als Anwältin erfolgreich und hat das Angebot erhalten, Partnerin einer renommierten Kanzlei zu werden. Der Erfolg trifft sich allerdings mit privaten Tragödien - die Trennung von ihrem Lebensgefährten und der überraschende Tod ihrer Schwester Iris. Zu ihr hatte sie seit Jahren keinen Kontakt mehr und dennoch verlässt sie überstürzt New York und fährt zu der Insel, auf der Iris zurückgezogen gelebt hat. Sie weiß nicht genau, was sie dort erhofft zu finden, stößt aber schon bald auf versteckte Hinweise ihrer Schwester, während sie selbst mit der Einsamkeit zurecht kommen muss.
Nach einem dramatischen Prolog im Jahre 1950 taucht man direkt in die Geschichten von Olive und Claire in den Jahren 2000 und 2022 ein. Beide Erzählstränge sind von einer Melancholie und Einsamkeit geprägt. Olive und Claire wohnen in der Großstadt und sind trotzdem allein. Ihre Partner sind unzuverlässig, Claire hat keine Familie und Olive erträgt es nicht, zu ihrer Familie zu fahren, um ihre hilfsbedürftige Großmutter zu sehen, zu der sie so ein enges Verhältnis hatte. Beide Frauen sehen sich mit Einschnitten in ihrem Leben konfrontiert und erhalten durch die Recherchen zur Schwester bzw. Großmutter die Chance, mehr über sich selbst herauszufinden.
Die Geschichte ist einfühlsam aus wechselnden Perspektiven der beiden Hauptfiguren geschildert, wobei der Zusammenhang bis auf die Erwähnung des Kompasses im Klappentext lange nicht ersichtlich ist. Der Bezug zum dramatischen Prolog wird hingegen früher erkennbar und ist eng mit der Großmutter Olives verbunden. Zwischen den Kapiteln gibt es zudem eine Reihe an Gedichten, die in 1940er-Jahren in Dänemark und Deutschland verfasst worden sind. Die Bedeutung erschließt sich peu à peu und empfand ich als originellen Kunstgriff im Vergleich zu Tagebucheinträgen, die man so häufig in Romanen verwendet.
Die Geheimnisse, die beide Familien umgeben, der plötzliche Tod von Iris und die Vergangenheit, über die Poppy nicht sprechen konnte, erzeugen eine Grundspannung, die bis zum Ende aufrechterhalten wird. Während in Bezug auf Poppy schon aufgrund des historischen Hintergrunds zu ahnen ist, in welche Richtung etwaige Schuldfragen gehen könnten, ist die Geschichte von Iris und Claire weniger durchsichtig.
Da beide Hauptfiguren jedoch viel mit sich selbst beschäftigt sind, grübeln und auch Angst davor haben, was sie bei ihren Recherchen aufdecken könnten, ist die Geschichte ein wenig zögerlich und hat deshalb phasenweise ihre Längen. Dennoch kann man sich stets sehr gut in beide Frauen und ihre Sorgen und Sehnsüchte einfühlen.
Die Geschichte handelt von verdeckten Familiengeheimnissen, die bis in die Gegenwart wirken und nachfolgende Generationen beeinflussen sowie von Vergebung, aber auch von der Einsamkeit, die selbst Personen umgibt, die fest im Leben stehen sowie von Selbstakzeptanz und Selbstfindung. Trotz der ruhigen Erzählweise ist man gebannt, alle Geheimnisse zu entschlüsseln und zu erfahren, ob es 2022 zu einem Aufeinandertreffen der Beteiligten kommt, um die Tragik der Vergangenheit ein wenig zu kompensieren. Und auch wenn ich die Geschichte um den Kompass etwas konstruiert fand und sie mir von zu vielen Zufällen geprägt war, ist er als Symbol den richtigen Weg zu finden, treffend gewählt - für alle, die auf der Suche nach Erkenntnissen, Wahrheit oder einer neuen Richtung sind.