Das Stück ist aufgeführt. Und die Proben beginnen.
Am Anfang steht ein Skandal: Die siebzehnjährige Victoria hat eine Affäre mit ihrem Musiklehrer. Ihre Freundinnen sehen sich durch dieses unerhörte Ereignis auf einen Schlag mit der Macht ihrer Weiblichkeit konfrontiert. Plötzlich stehen die Mädchen im Rampenlicht der Öffentlichkeit, in dem die kleinste Bewegung zu einer Darbietung wird und das noch den intimsten Ort in eine Bühne verwandelt. In der Theaterklasse kommt jemand auf die Idee, ein Stück über Victoria und den Musiklehrer zu inszenieren. Die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen geraten unerbittlich in Auflösung. Und schließlich kommt es zwischen Realität und Spiel zur Kollision.
"Die Anatomie des Erwachens" erzählt vom sexuellen Erwachen und von der damit einhergehenden Entfesselung von Kräften, die schwer zu verstehen und noch schwerer zu bändigen sind. Dieses Buch wurde als "die Zukunft des Romans" (Joshua Ferris) gefeiert. Tatsächlich markiert es den Auftritt einer Autorin, die mit ihrer kühnen Vision von der Macht, um die die Welt sich dreht, die Grenzen der Literatur neu vermisst - poetisch, erotisch und subversiv.
Am Anfang steht ein Skandal: Die siebzehnjährige Victoria hat eine Affäre mit ihrem Musiklehrer. Ihre Freundinnen sehen sich durch dieses unerhörte Ereignis auf einen Schlag mit der Macht ihrer Weiblichkeit konfrontiert. Plötzlich stehen die Mädchen im Rampenlicht der Öffentlichkeit, in dem die kleinste Bewegung zu einer Darbietung wird und das noch den intimsten Ort in eine Bühne verwandelt. In der Theaterklasse kommt jemand auf die Idee, ein Stück über Victoria und den Musiklehrer zu inszenieren. Die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen geraten unerbittlich in Auflösung. Und schließlich kommt es zwischen Realität und Spiel zur Kollision.
"Die Anatomie des Erwachens" erzählt vom sexuellen Erwachen und von der damit einhergehenden Entfesselung von Kräften, die schwer zu verstehen und noch schwerer zu bändigen sind. Dieses Buch wurde als "die Zukunft des Romans" (Joshua Ferris) gefeiert. Tatsächlich markiert es den Auftritt einer Autorin, die mit ihrer kühnen Vision von der Macht, um die die Welt sich dreht, die Grenzen der Literatur neu vermisst - poetisch, erotisch und subversiv.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.04.2010Wie schützen und erregen zugleich?
Eleanor Cattons Debüt-Roman „Die Anatomie des Erwachens”
„Das Saxophon ist das Kokain in der Familie der Holzbläser.” Aufregend, sexy und gefährlich sein Spiel. Eleanor Catton hat das Saxophon in ihrem Debütroman „Die Anatomie des Erwachens” als Leitmotiv gewählt. In einer ersten Szene streichelt ihre Protagonistin Isolde zart den Instrumentenkörper – während sie von den sexuellen Annäherungen zwischen ihrer 17-jährigen Schwester und dem Leiter der Jazzband erzählt. Schon ist der Leser mittendrin im Stoff. Zumal die Übersetzung von „Rehearsal”, so der Titel im Original, zeitlich mit der breiten gesellschaftlichen Debatte um Pädophilie und pädagogischen Eros zusammen fällt. Die momentanen Enthüllungen und Diskussionen lassen sich in diesem Roman nicht spiegeln: Die Hauptfiguren sind keine Kinder mehr, sondern stehen am Anfang oder sind mitten in der Pubertät. Und doch geht es auch hier um die Beziehung zwischen Schülern und Lehrern, deren Verlockungen und Gefahren Catton auslotet. „Wie kann ich diese Mädchen schützen und sie zugleich erregen?”, diese Frage taucht auf im Buch, auch wenn sie kein Lehrer tatsächlich stellt und sie nur Teil eines Theatertextes ist.
Missbrauch oder Affäre? Im Falle Victorias und ihres Musiklehrers Mr Saladin deutet alles auf Letzteres hin. Die verbotene Liaison selbst, an einer High School namens Abbey Grange, wird gar nicht erzählt. Es geht vielmehr um die Wellen, die sie schlägt. Das Verhältnis löst tiefe Unsicherheiten vor allem bei den heranwachsenden Mädchen aus. Gleichermaßen durchströmt sie die Furcht vor ihrer Unzulänglichkeit und davor, die Abenteuer in der Welt da draußen nicht zu bestehen. Da ist ihnen Victoria mit ihren Erfahrungen und ihrem sexuellen Geheimnis, das sie nur mit ihrem Lehrer teilt, plötzlich meilenweit voraus.
Die Neuseeländerin Eleanor Catton hat den Coming of Age-Roman, er ist bereits in elf Sprachen übersetzt, mit 22 Jahren geschrieben, selbst noch mittendrin im Prozess des Erwachsenwerdens. Spielchen wie die „Fick-mich-Armbänder” der Mädchen – wenn ein Junge es zerreißt, „wissen beide, dass die Sache jetzt bis zum bitteren Ende durchgezogen werden muss” – klingen, als hätte Catton sich auf dem Schulhof umgeschaut und mitgeschrieben.
Missbrauch oder Affäre?
Neben Isolde, die ihre Schwester um die Opferrolle beneidet, stellt die Autorin zwei weitere Schülerinnen ins Zentrum: Julia, unangepasst, von den anderen als lesbisch abgestempelt und gemieden. Und Bridget, der das Etikett farblos und durchschnittlich anhaftet, gerade weil sie sich so sehr um das Gegenteil bemüht. Sie alle besuchen den Musikunterricht ein und derselben Lehrerin, die Eleanor Catton schlicht Saxophonlehrerin nennt. Sie ist eine von vielen Figuren im Buch, die keinen individuellen Namen tragen. Im Vordergrund steht ihre Rolle, nicht die Person. Die Leser spüren der Geschichte durch die Gespräche zwischen ihr und den Mädchen nach. Sie provoziert und manipuliert ihre Schülerinnen, bestärkt Julia darin, sich Isolde anzunähern – die beiden scheinen sie an eine eigene verschüttete Liebesgeschichte zu erinnern.
So überlappen sich Gegenwart und Vergangenheit, fiktive Realität und Imagination. Für den Mut der jungen Autorin spricht, dass sie gar nicht versucht, die Vorherrschaft über die Handlung zu bekommen. Es ist, als teste sie die Grenzen ihrer Erzählung aus, indem sie diese in verschiedene Richtungen laufen lässt. Ihr Talent zeigt sich darin, dass die Geschichte auch so sehr gut funktioniert. Eleanor Catton verwischt die Grenzen zusätzlich, indem sie aus verschiedenen Perspektiven und mehrere Versionen von Vorkommnissen erzählt. Die Versatzstücke ergeben zusammen genommen den so oder auch anders möglichen Plot – wie die Selbstvergewisserungen der Mädchen die Puzzelstücke ihrer Identität.
Darüber hinaus verwebt Catton die High-School-Geschichte mit Geschehnissen an einem Schauspielinstitut. Im Mittelpunkt dieses Erzählstrangs steht der Student Stanley, dessen Jahrgang die Affäre zwischen Mr Saladin und Victoria auf die Bühne bringt – und der sich zudem in Isolde verliebt. Eine doppelte Verstrickung. „Institut des Erwachens” nennt Catton die Schule einmal. Sie spürt auch hier den Untiefen der Schüler-Lehrer-Beziehung nach und spielt mit den Unsicherheiten, die die Suche nach Orientierung begleiten. Stanleys Vater, mit dem sein Sohn sich einmal jährlich zum Dinner trifft, ist da keine große Hilfe. Ebenso wenig die Mütter, die regelmäßig die Saxophonlehrerin aufsuchen und nach dem immer gleichem Muster die eigene Anerkennung und die ihrer Töchter erheischen. Die Lehrerin sieht in ihnen einen Typus: eine „Frau, die alle Frauen spielt.”
Die Erwachsenen haben sich in der Rolle ihres Lebens eingerichtet, zu denen eine idealisierte Vergangenheit oder ihr eigener Widerschein in der heutigen Jugend gehört. Im Prinzip teilen sie die Sehnsucht der Jugend nach Bedeutung und Größe, nur nicht vorausschauend, sondern rückwärts gewandt. Insofern strahlt die Zeit des Erwachens weit über die Pubertät hinaus. Erfahrungen legen sich über die Verunsicherungen, aber die Selbstvergewisserung hört auch dann nicht auf. CARA WUCHOLD
ELEANOR CATTON: Die Anatomie des Erwachens. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Arche Verlag, Zürich 2010, 400 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Eleanor Cattons Debüt-Roman „Die Anatomie des Erwachens”
„Das Saxophon ist das Kokain in der Familie der Holzbläser.” Aufregend, sexy und gefährlich sein Spiel. Eleanor Catton hat das Saxophon in ihrem Debütroman „Die Anatomie des Erwachens” als Leitmotiv gewählt. In einer ersten Szene streichelt ihre Protagonistin Isolde zart den Instrumentenkörper – während sie von den sexuellen Annäherungen zwischen ihrer 17-jährigen Schwester und dem Leiter der Jazzband erzählt. Schon ist der Leser mittendrin im Stoff. Zumal die Übersetzung von „Rehearsal”, so der Titel im Original, zeitlich mit der breiten gesellschaftlichen Debatte um Pädophilie und pädagogischen Eros zusammen fällt. Die momentanen Enthüllungen und Diskussionen lassen sich in diesem Roman nicht spiegeln: Die Hauptfiguren sind keine Kinder mehr, sondern stehen am Anfang oder sind mitten in der Pubertät. Und doch geht es auch hier um die Beziehung zwischen Schülern und Lehrern, deren Verlockungen und Gefahren Catton auslotet. „Wie kann ich diese Mädchen schützen und sie zugleich erregen?”, diese Frage taucht auf im Buch, auch wenn sie kein Lehrer tatsächlich stellt und sie nur Teil eines Theatertextes ist.
Missbrauch oder Affäre? Im Falle Victorias und ihres Musiklehrers Mr Saladin deutet alles auf Letzteres hin. Die verbotene Liaison selbst, an einer High School namens Abbey Grange, wird gar nicht erzählt. Es geht vielmehr um die Wellen, die sie schlägt. Das Verhältnis löst tiefe Unsicherheiten vor allem bei den heranwachsenden Mädchen aus. Gleichermaßen durchströmt sie die Furcht vor ihrer Unzulänglichkeit und davor, die Abenteuer in der Welt da draußen nicht zu bestehen. Da ist ihnen Victoria mit ihren Erfahrungen und ihrem sexuellen Geheimnis, das sie nur mit ihrem Lehrer teilt, plötzlich meilenweit voraus.
Die Neuseeländerin Eleanor Catton hat den Coming of Age-Roman, er ist bereits in elf Sprachen übersetzt, mit 22 Jahren geschrieben, selbst noch mittendrin im Prozess des Erwachsenwerdens. Spielchen wie die „Fick-mich-Armbänder” der Mädchen – wenn ein Junge es zerreißt, „wissen beide, dass die Sache jetzt bis zum bitteren Ende durchgezogen werden muss” – klingen, als hätte Catton sich auf dem Schulhof umgeschaut und mitgeschrieben.
Missbrauch oder Affäre?
Neben Isolde, die ihre Schwester um die Opferrolle beneidet, stellt die Autorin zwei weitere Schülerinnen ins Zentrum: Julia, unangepasst, von den anderen als lesbisch abgestempelt und gemieden. Und Bridget, der das Etikett farblos und durchschnittlich anhaftet, gerade weil sie sich so sehr um das Gegenteil bemüht. Sie alle besuchen den Musikunterricht ein und derselben Lehrerin, die Eleanor Catton schlicht Saxophonlehrerin nennt. Sie ist eine von vielen Figuren im Buch, die keinen individuellen Namen tragen. Im Vordergrund steht ihre Rolle, nicht die Person. Die Leser spüren der Geschichte durch die Gespräche zwischen ihr und den Mädchen nach. Sie provoziert und manipuliert ihre Schülerinnen, bestärkt Julia darin, sich Isolde anzunähern – die beiden scheinen sie an eine eigene verschüttete Liebesgeschichte zu erinnern.
So überlappen sich Gegenwart und Vergangenheit, fiktive Realität und Imagination. Für den Mut der jungen Autorin spricht, dass sie gar nicht versucht, die Vorherrschaft über die Handlung zu bekommen. Es ist, als teste sie die Grenzen ihrer Erzählung aus, indem sie diese in verschiedene Richtungen laufen lässt. Ihr Talent zeigt sich darin, dass die Geschichte auch so sehr gut funktioniert. Eleanor Catton verwischt die Grenzen zusätzlich, indem sie aus verschiedenen Perspektiven und mehrere Versionen von Vorkommnissen erzählt. Die Versatzstücke ergeben zusammen genommen den so oder auch anders möglichen Plot – wie die Selbstvergewisserungen der Mädchen die Puzzelstücke ihrer Identität.
Darüber hinaus verwebt Catton die High-School-Geschichte mit Geschehnissen an einem Schauspielinstitut. Im Mittelpunkt dieses Erzählstrangs steht der Student Stanley, dessen Jahrgang die Affäre zwischen Mr Saladin und Victoria auf die Bühne bringt – und der sich zudem in Isolde verliebt. Eine doppelte Verstrickung. „Institut des Erwachens” nennt Catton die Schule einmal. Sie spürt auch hier den Untiefen der Schüler-Lehrer-Beziehung nach und spielt mit den Unsicherheiten, die die Suche nach Orientierung begleiten. Stanleys Vater, mit dem sein Sohn sich einmal jährlich zum Dinner trifft, ist da keine große Hilfe. Ebenso wenig die Mütter, die regelmäßig die Saxophonlehrerin aufsuchen und nach dem immer gleichem Muster die eigene Anerkennung und die ihrer Töchter erheischen. Die Lehrerin sieht in ihnen einen Typus: eine „Frau, die alle Frauen spielt.”
Die Erwachsenen haben sich in der Rolle ihres Lebens eingerichtet, zu denen eine idealisierte Vergangenheit oder ihr eigener Widerschein in der heutigen Jugend gehört. Im Prinzip teilen sie die Sehnsucht der Jugend nach Bedeutung und Größe, nur nicht vorausschauend, sondern rückwärts gewandt. Insofern strahlt die Zeit des Erwachens weit über die Pubertät hinaus. Erfahrungen legen sich über die Verunsicherungen, aber die Selbstvergewisserung hört auch dann nicht auf. CARA WUCHOLD
ELEANOR CATTON: Die Anatomie des Erwachens. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Arche Verlag, Zürich 2010, 400 Seiten, 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Auch wenn in Eleanor Cattons Debütroman eine Affäre einer Schülerin mit einem Lehrer im Mittelpunkt steht, betont Cara Wuchhold, dass es nicht um eine Missbrauchsgeschichte geht, sondern der Leser hier eine literarisch kühne Geschichte vom Erwachsenwerden vor sich hat. Die neuseeländische Autorin, die diesen Roman mit 22 Jahren schrieb, ist noch nahe dran an der Atmosphäre und den Gepflogenheiten des Schulhofs, stellt die Rezensentin fasziniert fest. Dass Catton dabei die Handlung etwas aus dem Ruder laufen lässt, indem sie das Schülerin-Lehrer-Verhältnis mit Szenen einer Schauspielschule, die dieses Verhältnis in ein Stück verwandelt, verknüpft, Perspektiven anderer Schülerinnen einflicht und mehrere Versionen des Geschehens nebeneinander stellt, ist in den Augen Wuchholds ein mutiges Vorgehen. Die letztendlich erfolgreiche Bewältigung dieser Handlungsstränge und Erzählebenen aber ist ihr ein beeindruckender Beweis vom "Talent" der Autorin, die in ihren Augen einen beeindruckenden "Coming of Age-Roman" geschrieben hat, in dem auch die vorkommenden Erwachsenen sich ihrer selbst immer wieder vergewissern müssen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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