Produktdetails
- Verlag: Philo Verlagsgesellschaft
- ISBN-13: 9783825702274
- ISBN-10: 3825702278
- Artikelnr.: 20981530
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2002Dunkelkammer Gedächtnis
Stephan Braese untersucht jüdische Autoren der Bundesrepublik
Das deutsche Wort "Untat" hat in anderen Sprachen kein Äquivalent. Eine Tat, die man nicht hätte tun dürfen, wird wiederaufgehoben, und das kollektive Bewußtsein arrangiert sich reibungslos mit der linguistischen Negierung: Was man nicht tun durfte, hat man nicht getan.
Im Verhältnis der Deutschen zu ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit ist dieser Vorgang oft beobachtet worden. Über seine Folgen legt der Germanist Stephan Braese jetzt ein ausgezeichnetes Buch vor und stellt ihm eine andere Erinnerung entgegen - die Werke jüdischer Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Als Opfer der Untaten konnten sie ihre Rücknahme nicht gelten lassen und zogen das Negativ in der Dunkelkammer ihres Gedächtnisses wieder ans Licht. In der Auswahl seines Materials geht Braese sehr sorgfältig vor. Drei Autoren - Grete Weil, Edgar Hilsenrath und Wolfgang Hildesheimer - stellt er in den Mittelpunkt seiner Studie und blendet ihre Werke an historischen Schnittstellen nachkriegsdeutscher Identitätsfindung in den bundesrepublikanischen Literaturbetrieb ein. Damit leistet er, was in der prekären Rede von Deutschen und Juden sonst fast nie geschieht: Braese faltet eine Beziehung auf, die er nicht nur behauptet, sondern auch Schritt für Schritt nachweist; indem er ihre Lücken füllt, läßt er hinter der Rhetorik der Verdrängung eine andere Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur hervortreten.
Es ist eine problematische Geschichte. Die ersten Kapitel stellen das Selbstverständnis westdeutscher Schriftsteller dar, das sich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches zu konstituieren begann und das die Emigranten von Anfang an auszugrenzen suchte. Schuldgefühle der Daheimgebliebenen wurden auf Ausgewanderte wie Thomas Mann projiziert, die vor der Not der Hitlerjahre ausgewichen seien und daher in der Wirklichkeit des Nachkriegs kein Mitspracherecht mehr hätten: ein Mechanismus der Selbstentlastung, der es zugleich ermöglichte, das eigene Erleben aus der Opferperspektive zu gestalten.
Grete Weil (1906 bis 1999) hat lange in Deutschland gelebt, bevor sie ihrem Mann 1936 ins holländische Exil folgte. Er wird 1941 nach Mauthausen verschleppt und umgebracht, sie überlebt im Amsterdamer Untergrund und wird dort Zeugin der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Schon 1947 kehrt sie nach Deutschland zurück, aber "Tramhalte Beethovenstraat", ihr Roman über diese Zeit, erscheint erst 1963. In ihm sucht sie ihre Erfahrungen zu vermitteln, doch Braeses Analyse seiner Entstehungsbedingungen macht deutlich, warum es im westdeutschen Literaturbetrieb dafür kein Publikum gab. Weil wendet sich nicht als Jüdin an die Leser, sondern sie läßt den deutschen Schriftsteller Andreas miterleben, was in Amsterdam geschieht. Nach der Heimkehr findet er kein Gehör: Mit seinem Scheitern im Nachkriegsdeutschland bildet Grete Weil die Kontinuität der Verdrängung ab.
Minutiös belegt Stephan Braese ihre Mechanismen am Beispiel von "Nacht", Edgar Hilsenraths erstem Roman. Hilsenrath, 1926 in Leipzig geboren, kam 1941 in ein rumänisches Ghetto und hat die in "Nacht" dargestellten Schrecken am eigenen Leib erfahren. Die Jahre 1945 bis 1947 verbrachte er in Palästina und wanderte nach New York aus, wo er die Romane schrieb, die ihn später berühmt gemacht haben. Erst 1975 kehrte er nach Berlin zurück. Abgeschlossen hatte er "Nacht", seine kompromißlose Darstellung des Vernichtungsghettos, bereits 1954, und auf Empfehlung aus dem Ausland nahm der Kindler-Verlag einige Jahre später das Manuskript zur Veröffentlichung an. Der Text aber zeigt die Gnadenlosigkeit einiger der Opfer ihren eigenen Brüdern gegenüber - sie schlugen den Toten die Goldzähne aus, um selbst zu überleben -, und im Namen dieser Opfer begann der Verlag nun den Rückzug. Bei jüdischen Lektoren bestellte er Gutachten über das Manuskript, die das im Verlag längst gefällte Urteil bestätigen sollten: 791 Exemplare der schon gedruckten Auflage wurden verkauft, der Rest wurde aus dem Handel gezogen.
Braese stellt die Verabredungen einer prekären deutsch-jüdischen Koexistenz im philosemitischen Nachraum der Untaten dar: Er zeigt den Preis, den manche Juden zu entrichten hatten, wenn sie wieder in den deutschen Kulturbetrieb eintreten wollten. Hilsenrath hatte die Folgen bloßgelegt, die die Entmenschlichung auf der Opferseite gehabt hatte - eine jüdische Wahrheit über den Holocaust, wie sie sich zur gleichen Zeit auch in Hannah Arendts Bericht über den Eichmann-Prozeß findet. Die deutschen Juden mußten nun helfen, diese Wahrheit wieder zu verdecken.
Wolfgang Hildesheimer (1916 bis 1991), Sohn einer zionistischen Familie, hatte vor seiner Remigration ebenfalls in Palästina gelebt. Ab 1946 nimmt er als Dolmetscher an den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen teil, dann bleibt er in Deutschland. Anders als Weil und Hilsenrath ist er kein Außenseiter, sondern nimmt die Nachkriegsjahre aus der Innenperspektive des Literaturbetriebs wahr.
Ihren Wendepunkt erreicht seine Karriere im Jahr 1965. Er veröffentlicht den Roman "Tynset", in dem eine Flucht aus Deutschland beschrieben wird: Ein Mann kann nicht mehr unter den Mördern leben, er zieht sich in den hohen Norden Europas zurück, und in einer langen, schlaflosen Nacht gibt er uns Einblick in seine Gedanken, führt uns die Mechanismen der anderen Erinnerung vor. Obwohl Hildesheimers öffentliche Anerkennung zur gleichen Zeit auf ihrem Höhepunkt steht, gibt Braese diesem Kapitel den Titel "Die widerrufene Remigration". Denn seit dem Ende der sechziger Jahre nimmt eine neue Generation in Deutschland ihre eigene Bewältigung der Vergangenheit vor. Sie tut es, wie Braese ironisch sagt, "im Modus des nachgeholten Antifaschismus", und er beschreibt den Abstand, der sich zwischen Hildesheimer und der neuen Linken zeigt. In der Diskussion um Israel und den Sechstagekrieg findet er deutlichen Ausdruck: Dieser Krieg beschleunigt Hildesheimers Rückzug aus dem westdeutschen Literaturbetrieb, zugleich aber bildet er auch den Hintergrund des Romans, mit dem einige Jahre später Edgar Hilsenrath seinen Durchbruch in Deutschland erfahren wird. Vom Sommer 1967 bis zum Frühjahr 1968 entsteht "Der Nazi & der Friseur", ein satirischer Text, der die Tabugrenze zur nationalsozialistischen Vergangenheit noch gewaltiger durchbricht als "Nacht". Der SS-Mann Max Schulz erzählt sein Leben: Im Haus des Jugendfreundes Itzig Finkelstein lernt er Jiddisch und das Handwerk des Friseurs, doch später, im Krieg, bringt er die Finkelsteins um. Als Massenmörder gesucht, schlüpft er in die Identität des toten Freundes und wandert nach Palästina aus, wird zionistischer Freiheitskämpfer und ein angesehener Bürger Israels.
Braeses Kapitel über diesen Roman stellt seine deutsche Rezeption vor ihren zeitgenössischen Hintergrund. Großen Erfolg hatte er zunächst in Amerika, Italien und Frankreich - 1975 überschritt die Auflage der Übersetzungen eine Million -, in der Bundesrepublik aber wurde er von 25 Verlagen abgelehnt, bevor er 1977 von dem Kleinverleger Helmut Braun herausgebracht wurde. Seinen Erfolg erklärt Braese aus einer Dialektik, die sich in diesen Jahren abzeichne: Als Reaktion auf die von links begonnene Diskussion der Vergangenheit hatte inzwischen auch eine Hitlerwelle eingesetzt, eine neuerliche NS-Nostalgie, und an den Rezensionen weist Braese nach, wie Hilsenraths Satire nun als wohltuende Antwort auf diesen bedrohlichen Trend empfunden wurde.
Überall holt Braese die andere Erinnerung in den Kontext hinein, vor dem sie sich artikuliert, neben Hilsenraths Erfolg in den siebziger Jahren auch das schließliche Verstummen des Schriftstellers Wolfgang Hildesheimer und den späten Durchbruch Grete Weils mit ihrem Roman "Meine Schwester Antigone" (1980): Die Lektüre bringt ihn mit den Ereignissen des deutschen Herbstes in Verbindung und gibt ihm im Licht der Stammheimer Selbstmorde eine vielschichtige Deutung. Stephan Braese holt den Reichtum hervor, den das Aufbrechen von Verdrängungen freigibt. In kluger Konzentration auf einleuchtend gewählte Beispiele wirft er die Fragen einer anderen, noch ungeschriebenen Literaturgeschichte auf und macht das weite Feld sichtbar, das sich hier öffnet.
JAKOB HESSING
Stephan Braese: "Die andere Erinnerung". Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Philo Verlag, Berlin 2001. 596 S., br., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Stephan Braese untersucht jüdische Autoren der Bundesrepublik
Das deutsche Wort "Untat" hat in anderen Sprachen kein Äquivalent. Eine Tat, die man nicht hätte tun dürfen, wird wiederaufgehoben, und das kollektive Bewußtsein arrangiert sich reibungslos mit der linguistischen Negierung: Was man nicht tun durfte, hat man nicht getan.
Im Verhältnis der Deutschen zu ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit ist dieser Vorgang oft beobachtet worden. Über seine Folgen legt der Germanist Stephan Braese jetzt ein ausgezeichnetes Buch vor und stellt ihm eine andere Erinnerung entgegen - die Werke jüdischer Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Als Opfer der Untaten konnten sie ihre Rücknahme nicht gelten lassen und zogen das Negativ in der Dunkelkammer ihres Gedächtnisses wieder ans Licht. In der Auswahl seines Materials geht Braese sehr sorgfältig vor. Drei Autoren - Grete Weil, Edgar Hilsenrath und Wolfgang Hildesheimer - stellt er in den Mittelpunkt seiner Studie und blendet ihre Werke an historischen Schnittstellen nachkriegsdeutscher Identitätsfindung in den bundesrepublikanischen Literaturbetrieb ein. Damit leistet er, was in der prekären Rede von Deutschen und Juden sonst fast nie geschieht: Braese faltet eine Beziehung auf, die er nicht nur behauptet, sondern auch Schritt für Schritt nachweist; indem er ihre Lücken füllt, läßt er hinter der Rhetorik der Verdrängung eine andere Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur hervortreten.
Es ist eine problematische Geschichte. Die ersten Kapitel stellen das Selbstverständnis westdeutscher Schriftsteller dar, das sich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches zu konstituieren begann und das die Emigranten von Anfang an auszugrenzen suchte. Schuldgefühle der Daheimgebliebenen wurden auf Ausgewanderte wie Thomas Mann projiziert, die vor der Not der Hitlerjahre ausgewichen seien und daher in der Wirklichkeit des Nachkriegs kein Mitspracherecht mehr hätten: ein Mechanismus der Selbstentlastung, der es zugleich ermöglichte, das eigene Erleben aus der Opferperspektive zu gestalten.
Grete Weil (1906 bis 1999) hat lange in Deutschland gelebt, bevor sie ihrem Mann 1936 ins holländische Exil folgte. Er wird 1941 nach Mauthausen verschleppt und umgebracht, sie überlebt im Amsterdamer Untergrund und wird dort Zeugin der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Schon 1947 kehrt sie nach Deutschland zurück, aber "Tramhalte Beethovenstraat", ihr Roman über diese Zeit, erscheint erst 1963. In ihm sucht sie ihre Erfahrungen zu vermitteln, doch Braeses Analyse seiner Entstehungsbedingungen macht deutlich, warum es im westdeutschen Literaturbetrieb dafür kein Publikum gab. Weil wendet sich nicht als Jüdin an die Leser, sondern sie läßt den deutschen Schriftsteller Andreas miterleben, was in Amsterdam geschieht. Nach der Heimkehr findet er kein Gehör: Mit seinem Scheitern im Nachkriegsdeutschland bildet Grete Weil die Kontinuität der Verdrängung ab.
Minutiös belegt Stephan Braese ihre Mechanismen am Beispiel von "Nacht", Edgar Hilsenraths erstem Roman. Hilsenrath, 1926 in Leipzig geboren, kam 1941 in ein rumänisches Ghetto und hat die in "Nacht" dargestellten Schrecken am eigenen Leib erfahren. Die Jahre 1945 bis 1947 verbrachte er in Palästina und wanderte nach New York aus, wo er die Romane schrieb, die ihn später berühmt gemacht haben. Erst 1975 kehrte er nach Berlin zurück. Abgeschlossen hatte er "Nacht", seine kompromißlose Darstellung des Vernichtungsghettos, bereits 1954, und auf Empfehlung aus dem Ausland nahm der Kindler-Verlag einige Jahre später das Manuskript zur Veröffentlichung an. Der Text aber zeigt die Gnadenlosigkeit einiger der Opfer ihren eigenen Brüdern gegenüber - sie schlugen den Toten die Goldzähne aus, um selbst zu überleben -, und im Namen dieser Opfer begann der Verlag nun den Rückzug. Bei jüdischen Lektoren bestellte er Gutachten über das Manuskript, die das im Verlag längst gefällte Urteil bestätigen sollten: 791 Exemplare der schon gedruckten Auflage wurden verkauft, der Rest wurde aus dem Handel gezogen.
Braese stellt die Verabredungen einer prekären deutsch-jüdischen Koexistenz im philosemitischen Nachraum der Untaten dar: Er zeigt den Preis, den manche Juden zu entrichten hatten, wenn sie wieder in den deutschen Kulturbetrieb eintreten wollten. Hilsenrath hatte die Folgen bloßgelegt, die die Entmenschlichung auf der Opferseite gehabt hatte - eine jüdische Wahrheit über den Holocaust, wie sie sich zur gleichen Zeit auch in Hannah Arendts Bericht über den Eichmann-Prozeß findet. Die deutschen Juden mußten nun helfen, diese Wahrheit wieder zu verdecken.
Wolfgang Hildesheimer (1916 bis 1991), Sohn einer zionistischen Familie, hatte vor seiner Remigration ebenfalls in Palästina gelebt. Ab 1946 nimmt er als Dolmetscher an den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen teil, dann bleibt er in Deutschland. Anders als Weil und Hilsenrath ist er kein Außenseiter, sondern nimmt die Nachkriegsjahre aus der Innenperspektive des Literaturbetriebs wahr.
Ihren Wendepunkt erreicht seine Karriere im Jahr 1965. Er veröffentlicht den Roman "Tynset", in dem eine Flucht aus Deutschland beschrieben wird: Ein Mann kann nicht mehr unter den Mördern leben, er zieht sich in den hohen Norden Europas zurück, und in einer langen, schlaflosen Nacht gibt er uns Einblick in seine Gedanken, führt uns die Mechanismen der anderen Erinnerung vor. Obwohl Hildesheimers öffentliche Anerkennung zur gleichen Zeit auf ihrem Höhepunkt steht, gibt Braese diesem Kapitel den Titel "Die widerrufene Remigration". Denn seit dem Ende der sechziger Jahre nimmt eine neue Generation in Deutschland ihre eigene Bewältigung der Vergangenheit vor. Sie tut es, wie Braese ironisch sagt, "im Modus des nachgeholten Antifaschismus", und er beschreibt den Abstand, der sich zwischen Hildesheimer und der neuen Linken zeigt. In der Diskussion um Israel und den Sechstagekrieg findet er deutlichen Ausdruck: Dieser Krieg beschleunigt Hildesheimers Rückzug aus dem westdeutschen Literaturbetrieb, zugleich aber bildet er auch den Hintergrund des Romans, mit dem einige Jahre später Edgar Hilsenrath seinen Durchbruch in Deutschland erfahren wird. Vom Sommer 1967 bis zum Frühjahr 1968 entsteht "Der Nazi & der Friseur", ein satirischer Text, der die Tabugrenze zur nationalsozialistischen Vergangenheit noch gewaltiger durchbricht als "Nacht". Der SS-Mann Max Schulz erzählt sein Leben: Im Haus des Jugendfreundes Itzig Finkelstein lernt er Jiddisch und das Handwerk des Friseurs, doch später, im Krieg, bringt er die Finkelsteins um. Als Massenmörder gesucht, schlüpft er in die Identität des toten Freundes und wandert nach Palästina aus, wird zionistischer Freiheitskämpfer und ein angesehener Bürger Israels.
Braeses Kapitel über diesen Roman stellt seine deutsche Rezeption vor ihren zeitgenössischen Hintergrund. Großen Erfolg hatte er zunächst in Amerika, Italien und Frankreich - 1975 überschritt die Auflage der Übersetzungen eine Million -, in der Bundesrepublik aber wurde er von 25 Verlagen abgelehnt, bevor er 1977 von dem Kleinverleger Helmut Braun herausgebracht wurde. Seinen Erfolg erklärt Braese aus einer Dialektik, die sich in diesen Jahren abzeichne: Als Reaktion auf die von links begonnene Diskussion der Vergangenheit hatte inzwischen auch eine Hitlerwelle eingesetzt, eine neuerliche NS-Nostalgie, und an den Rezensionen weist Braese nach, wie Hilsenraths Satire nun als wohltuende Antwort auf diesen bedrohlichen Trend empfunden wurde.
Überall holt Braese die andere Erinnerung in den Kontext hinein, vor dem sie sich artikuliert, neben Hilsenraths Erfolg in den siebziger Jahren auch das schließliche Verstummen des Schriftstellers Wolfgang Hildesheimer und den späten Durchbruch Grete Weils mit ihrem Roman "Meine Schwester Antigone" (1980): Die Lektüre bringt ihn mit den Ereignissen des deutschen Herbstes in Verbindung und gibt ihm im Licht der Stammheimer Selbstmorde eine vielschichtige Deutung. Stephan Braese holt den Reichtum hervor, den das Aufbrechen von Verdrängungen freigibt. In kluger Konzentration auf einleuchtend gewählte Beispiele wirft er die Fragen einer anderen, noch ungeschriebenen Literaturgeschichte auf und macht das weite Feld sichtbar, das sich hier öffnet.
JAKOB HESSING
Stephan Braese: "Die andere Erinnerung". Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Philo Verlag, Berlin 2001. 596 S., br., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Jakob Hessing verneigt sich in seiner Rezension vor diesem "ausgezeichneten" Buch. Denn Nationalsozialismus und Verdrängung, das sei auf dem deutschen Buchmarkt kein Nischenthema. Aber wie holprig in der Nachkriegszeit der Weg für jüdische Literatur in die deutschen Buchläden war, darüber gebe es weniges zu lesen. In seinem ausführlichen Text beschreibt der Rezensent, ähnlich wie der Buchautor, das Überleben dreier Autoren - Weil, Hilsenrath, Hildesheimer - in der Nazi-Zeit, ihre weltweit anerkannten Bücher und die Knüppel, die ihnen im Nachkriegsdeutschland von Verlegern und öffentlicher Meinung in die Beine geworfen wurden. Die "Kontinuität der Verdrängung", so der Rezensent, beschreibe der Germanist Stephan Braese klug und einleuchtend, und mit dem Reichtum, "den das Aufbrechen von Verdrängungen freigibt", öffne der Autor ein neues Feld der Literaturgeschichte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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