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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.08.2002

Vorbei
Eine Studie über jüdische Autoren
in Westdeutschland nach 1945
Im Mai 1955 diskutierte die Gruppe 47 über Wolfgang Hildesheimer. Er möge doch „nicht nur Luxus-Hotel-Persiflagen schreiben, um die Bürgerwelt zu karikieren”, forderte Fritz J. Raddatz ihn auf. Hildesheimer antwortete hintergründig, ihm fehle das „innere Erlebnis der Nazizeit.” Die Runde nahm es mit Humor, man lachte: „Seien Sie froh!” Dass Hildesheimer sehr wohl ein „Erlebnis” des Nationalsozialismus hätte beitragen können, die Emigration nach England und Palästina, seine Tätigkeit als Dolmetscher in den Nürnberger Prozessen gar, das war seinen Schriftstellerkollegen durchaus bekannt. Doch an die Stelle eines möglichen Interesses daran, was solches Erleben bedeutet haben mag, war schon bald nach dem Krieg „die vermeintliche Gewissheit eines deutlichen Vorsprungs an Leiden” getreten. „Das kennzeichnende Wir-Gefühl der Gruppe – exklusiv gegenüber jedem, der ein anderes Erlebnis hatte – war unerschüttert.”
Stephan Braeses Studie über Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur stellt die Frage nach den Chancen einer Konfrontation unterschiedlicher Erfahrungen von „Deutschen und Juden”. Welche Möglichkeiten hatten Versuche jüdischer Autoren, ihre Erfahrungen geltend zu machen? Wie wurden ihre Werke rezipiert und vor allem, welchen diskursiven Bedingungen, welchen Tabus war ihr Zustandekommen abgerungen, durch welche Zurichtungen, mit welcher Begleitung erreichten sie ihr Publikum, wenn überhaupt. Braese zentriert diesen Gang durch die bundesrepublikanische Literaturgeschichte um drei Autoren, deren Biographien vor und nach 1945 in hohem Maße als exemplarisch gelten können: Wolfgang Hildesheimer, Grete Weil und Edgar Hilsenrath.
Auf einer reichen Quellenbasis von Briefen, Tagebüchern, Verlagsakten, Rezensionen und Textfassungen erschließt Braese die Geschichte einer Beziehung, die keine werden sollte. Wie einen Prolog entwirft er einleitend ein Bild der literaturpolitischen Debatten der ersten Nachkriegsjahre, vom Streit um Exil, Rückkehr und „innere Emigration” bis zum Berliner Schriftstellerkongress von 1947 – Debatten, deren „Ausschlusscharakter” deutlich wird. Schon Thomas Mann musste sich von Frank Thiess öffentlich darüber belehren lassen, dass das „Volk ... als Ganzes, als Großorganismus, eine untrügliche Witterung dafür hat, ob etwas fremd, ob etwas zugehörig ist”. Einen eigenen Ort innerhalb des deutschen Literaturbetriebs hatten erst recht jüdische Autoren (und jüdische Erfahrungen) nach diesen Debatten nicht zu erhoffen. Und taten es dennoch. 1947 ist auch das Jahr, in dem Wolfgang Hildesheimer nach Nürnberg kommt, um dort als Übersetzer tätig sein, eine Arbeit, über die er seinen Eltern in Haifa berichtet. „Das einzige was ich den ganzen Tag zu sagen hatte, war zwar nur: I am not guilty (sechs mal), aber es war doch eine feierliche Gelegenheit”. 1947 ist das Jahr, in dem Grete Weil aus Amsterdam, wo sie im Versteck die Deportationen überlebt hatte, nach Deutschland zurückkehrt. Und auch Edgar Hilsenrath, der Ghettos und Lager überlebt hatte, kehrt 1947 aus Palästina nach Europa zurück. In Deutschland wird er sich erst sehr viel später niederlassen.
Flach wird, was fremd war
Braese flicht Werk- und Rezeptionsgeschichte der drei Autoren ineinander und entwirft zugleich ein Panorama unterschiedlicher literaturpolitischer Diskurse: von der barschen Zurückweisung von George Steiners Aufforderung, sich der verlorenen Unschuld der deutschen Sprache zu stellen (1963), über das „Begräbnis” von Hilsenraths „Nacht” im Kindler Verlag 1964/65, bis zu den Reaktionen auf den Auschwitz-Prozess und der Rezeption des Tagebuch der Anne Frank, vom Streit zwischen Hannah Arendt und Hans Magnus Enzensberger um dessen „Aktualisierungen” von Auschwitz bis zum Spott über Hildesheimers Absage an die Literatur in „The End of Fiction” und der freundlich-ignoranten Rezeption von Grete Weils „Schwester Antigone” (1980).
Braeses dicht und narrativ entfaltete Studie liest sich wie ein gesellschaftlich-intellektuelles Drama, mit überraschenden wie bezeichnenden Auftritten bekannter und unbekannter Akteure (Walser, Handke, Rühmkorf, Böll, Enzensberger ..., aber auch Adorno, Weiss oder Reich-Ranicki), und einem Rezensentenchor (von Krämer-Badoni bis Kaiser), der vieles, was sperrig und „fremd” erscheint, einebnet. Das Buch aber beweist, dass es möglich ist, sich der Literatur und damit auch der Geschichte der Bundesrepublik und ihren Untiefen ohne Larmoyanz und Prätention anzunähern, einer Literaturgeschichte, die sich als eine von verpassten Chancen liest. „Die Zeit, da Deutsche und Juden der ersten Generation den Konflikt um die Erinnerung in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, in literarischer Arbeit hatten austragen können, ist abgelaufen”, resümiert Stephan Braese. „Die Frist, in der die historisch singuläre Chance eines Gesprächs zwischen Deutschen und Juden unmittelbar zur NS-Epoche bestanden hatte, eines Gesprächs im Medium deutschsprachiger Literatur – diese Frist ist verstrichen.” Sein Buch, so singulär es sein mag, eröffnet, immerhin, die Chance zu einem Gespräch – danach.
HANNO LOEWY
STEPHAN BRAESE: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Philo Verlagsgesellschaft, Berlin / Wien 2001. 596 Seiten, 29,65 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2002

Dunkelkammer Gedächtnis
Stephan Braese untersucht jüdische Autoren der Bundesrepublik

Das deutsche Wort "Untat" hat in anderen Sprachen kein Äquivalent. Eine Tat, die man nicht hätte tun dürfen, wird wiederaufgehoben, und das kollektive Bewußtsein arrangiert sich reibungslos mit der linguistischen Negierung: Was man nicht tun durfte, hat man nicht getan.

Im Verhältnis der Deutschen zu ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit ist dieser Vorgang oft beobachtet worden. Über seine Folgen legt der Germanist Stephan Braese jetzt ein ausgezeichnetes Buch vor und stellt ihm eine andere Erinnerung entgegen - die Werke jüdischer Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Als Opfer der Untaten konnten sie ihre Rücknahme nicht gelten lassen und zogen das Negativ in der Dunkelkammer ihres Gedächtnisses wieder ans Licht. In der Auswahl seines Materials geht Braese sehr sorgfältig vor. Drei Autoren - Grete Weil, Edgar Hilsenrath und Wolfgang Hildesheimer - stellt er in den Mittelpunkt seiner Studie und blendet ihre Werke an historischen Schnittstellen nachkriegsdeutscher Identitätsfindung in den bundesrepublikanischen Literaturbetrieb ein. Damit leistet er, was in der prekären Rede von Deutschen und Juden sonst fast nie geschieht: Braese faltet eine Beziehung auf, die er nicht nur behauptet, sondern auch Schritt für Schritt nachweist; indem er ihre Lücken füllt, läßt er hinter der Rhetorik der Verdrängung eine andere Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur hervortreten.

Es ist eine problematische Geschichte. Die ersten Kapitel stellen das Selbstverständnis westdeutscher Schriftsteller dar, das sich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches zu konstituieren begann und das die Emigranten von Anfang an auszugrenzen suchte. Schuldgefühle der Daheimgebliebenen wurden auf Ausgewanderte wie Thomas Mann projiziert, die vor der Not der Hitlerjahre ausgewichen seien und daher in der Wirklichkeit des Nachkriegs kein Mitspracherecht mehr hätten: ein Mechanismus der Selbstentlastung, der es zugleich ermöglichte, das eigene Erleben aus der Opferperspektive zu gestalten.

Grete Weil (1906 bis 1999) hat lange in Deutschland gelebt, bevor sie ihrem Mann 1936 ins holländische Exil folgte. Er wird 1941 nach Mauthausen verschleppt und umgebracht, sie überlebt im Amsterdamer Untergrund und wird dort Zeugin der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Schon 1947 kehrt sie nach Deutschland zurück, aber "Tramhalte Beethovenstraat", ihr Roman über diese Zeit, erscheint erst 1963. In ihm sucht sie ihre Erfahrungen zu vermitteln, doch Braeses Analyse seiner Entstehungsbedingungen macht deutlich, warum es im westdeutschen Literaturbetrieb dafür kein Publikum gab. Weil wendet sich nicht als Jüdin an die Leser, sondern sie läßt den deutschen Schriftsteller Andreas miterleben, was in Amsterdam geschieht. Nach der Heimkehr findet er kein Gehör: Mit seinem Scheitern im Nachkriegsdeutschland bildet Grete Weil die Kontinuität der Verdrängung ab.

Minutiös belegt Stephan Braese ihre Mechanismen am Beispiel von "Nacht", Edgar Hilsenraths erstem Roman. Hilsenrath, 1926 in Leipzig geboren, kam 1941 in ein rumänisches Ghetto und hat die in "Nacht" dargestellten Schrecken am eigenen Leib erfahren. Die Jahre 1945 bis 1947 verbrachte er in Palästina und wanderte nach New York aus, wo er die Romane schrieb, die ihn später berühmt gemacht haben. Erst 1975 kehrte er nach Berlin zurück. Abgeschlossen hatte er "Nacht", seine kompromißlose Darstellung des Vernichtungsghettos, bereits 1954, und auf Empfehlung aus dem Ausland nahm der Kindler-Verlag einige Jahre später das Manuskript zur Veröffentlichung an. Der Text aber zeigt die Gnadenlosigkeit einiger der Opfer ihren eigenen Brüdern gegenüber - sie schlugen den Toten die Goldzähne aus, um selbst zu überleben -, und im Namen dieser Opfer begann der Verlag nun den Rückzug. Bei jüdischen Lektoren bestellte er Gutachten über das Manuskript, die das im Verlag längst gefällte Urteil bestätigen sollten: 791 Exemplare der schon gedruckten Auflage wurden verkauft, der Rest wurde aus dem Handel gezogen.

Braese stellt die Verabredungen einer prekären deutsch-jüdischen Koexistenz im philosemitischen Nachraum der Untaten dar: Er zeigt den Preis, den manche Juden zu entrichten hatten, wenn sie wieder in den deutschen Kulturbetrieb eintreten wollten. Hilsenrath hatte die Folgen bloßgelegt, die die Entmenschlichung auf der Opferseite gehabt hatte - eine jüdische Wahrheit über den Holocaust, wie sie sich zur gleichen Zeit auch in Hannah Arendts Bericht über den Eichmann-Prozeß findet. Die deutschen Juden mußten nun helfen, diese Wahrheit wieder zu verdecken.

Wolfgang Hildesheimer (1916 bis 1991), Sohn einer zionistischen Familie, hatte vor seiner Remigration ebenfalls in Palästina gelebt. Ab 1946 nimmt er als Dolmetscher an den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen teil, dann bleibt er in Deutschland. Anders als Weil und Hilsenrath ist er kein Außenseiter, sondern nimmt die Nachkriegsjahre aus der Innenperspektive des Literaturbetriebs wahr.

Ihren Wendepunkt erreicht seine Karriere im Jahr 1965. Er veröffentlicht den Roman "Tynset", in dem eine Flucht aus Deutschland beschrieben wird: Ein Mann kann nicht mehr unter den Mördern leben, er zieht sich in den hohen Norden Europas zurück, und in einer langen, schlaflosen Nacht gibt er uns Einblick in seine Gedanken, führt uns die Mechanismen der anderen Erinnerung vor. Obwohl Hildesheimers öffentliche Anerkennung zur gleichen Zeit auf ihrem Höhepunkt steht, gibt Braese diesem Kapitel den Titel "Die widerrufene Remigration". Denn seit dem Ende der sechziger Jahre nimmt eine neue Generation in Deutschland ihre eigene Bewältigung der Vergangenheit vor. Sie tut es, wie Braese ironisch sagt, "im Modus des nachgeholten Antifaschismus", und er beschreibt den Abstand, der sich zwischen Hildesheimer und der neuen Linken zeigt. In der Diskussion um Israel und den Sechstagekrieg findet er deutlichen Ausdruck: Dieser Krieg beschleunigt Hildesheimers Rückzug aus dem westdeutschen Literaturbetrieb, zugleich aber bildet er auch den Hintergrund des Romans, mit dem einige Jahre später Edgar Hilsenrath seinen Durchbruch in Deutschland erfahren wird. Vom Sommer 1967 bis zum Frühjahr 1968 entsteht "Der Nazi & der Friseur", ein satirischer Text, der die Tabugrenze zur nationalsozialistischen Vergangenheit noch gewaltiger durchbricht als "Nacht". Der SS-Mann Max Schulz erzählt sein Leben: Im Haus des Jugendfreundes Itzig Finkelstein lernt er Jiddisch und das Handwerk des Friseurs, doch später, im Krieg, bringt er die Finkelsteins um. Als Massenmörder gesucht, schlüpft er in die Identität des toten Freundes und wandert nach Palästina aus, wird zionistischer Freiheitskämpfer und ein angesehener Bürger Israels.

Braeses Kapitel über diesen Roman stellt seine deutsche Rezeption vor ihren zeitgenössischen Hintergrund. Großen Erfolg hatte er zunächst in Amerika, Italien und Frankreich - 1975 überschritt die Auflage der Übersetzungen eine Million -, in der Bundesrepublik aber wurde er von 25 Verlagen abgelehnt, bevor er 1977 von dem Kleinverleger Helmut Braun herausgebracht wurde. Seinen Erfolg erklärt Braese aus einer Dialektik, die sich in diesen Jahren abzeichne: Als Reaktion auf die von links begonnene Diskussion der Vergangenheit hatte inzwischen auch eine Hitlerwelle eingesetzt, eine neuerliche NS-Nostalgie, und an den Rezensionen weist Braese nach, wie Hilsenraths Satire nun als wohltuende Antwort auf diesen bedrohlichen Trend empfunden wurde.

Überall holt Braese die andere Erinnerung in den Kontext hinein, vor dem sie sich artikuliert, neben Hilsenraths Erfolg in den siebziger Jahren auch das schließliche Verstummen des Schriftstellers Wolfgang Hildesheimer und den späten Durchbruch Grete Weils mit ihrem Roman "Meine Schwester Antigone" (1980): Die Lektüre bringt ihn mit den Ereignissen des deutschen Herbstes in Verbindung und gibt ihm im Licht der Stammheimer Selbstmorde eine vielschichtige Deutung. Stephan Braese holt den Reichtum hervor, den das Aufbrechen von Verdrängungen freigibt. In kluger Konzentration auf einleuchtend gewählte Beispiele wirft er die Fragen einer anderen, noch ungeschriebenen Literaturgeschichte auf und macht das weite Feld sichtbar, das sich hier öffnet.

JAKOB HESSING

Stephan Braese: "Die andere Erinnerung". Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Philo Verlag, Berlin 2001. 596 S., br., 30,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Jakob Hessing verneigt sich in seiner Rezension vor diesem "ausgezeichneten" Buch. Denn Nationalsozialismus und Verdrängung, das sei auf dem deutschen Buchmarkt kein Nischenthema. Aber wie holprig in der Nachkriegszeit der Weg für jüdische Literatur in die deutschen Buchläden war, darüber gebe es weniges zu lesen. In seinem ausführlichen Text beschreibt der Rezensent, ähnlich wie der Buchautor, das Überleben dreier Autoren - Weil, Hilsenrath, Hildesheimer - in der Nazi-Zeit, ihre weltweit anerkannten Bücher und die Knüppel, die ihnen im Nachkriegsdeutschland von Verlegern und öffentlicher Meinung in die Beine geworfen wurden. Die "Kontinuität der Verdrängung", so der Rezensent, beschreibe der Germanist Stephan Braese klug und einleuchtend, und mit dem Reichtum, "den das Aufbrechen von Verdrängungen freigibt", öffne der Autor ein neues Feld der Literaturgeschichte.

© Perlentaucher Medien GmbH