Anhand von über 500 spektakulären und großteils unveröffentlichten Kriegsfotografien aus dem Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek rückt dieser Band erstmals den Krieg im Osten und Südosten Europas ins Blickfeld. Der Fotohistoriker Anton Holzer zeichnet damit ein neues, bisher kaum bekanntes Bild des Ersten Weltkrieges.
Die Aufnahmen der k.u.k. Kriegspropaganda sind in Form von Originalglasplatten erhalten. Sie sollten ein geschöntes Bild des Krieges vermitteln. Aber bei genauerer Betrachtung berichten sie auch vom harten Alltag der Soldaten in der Fremde, von der ungeheuren Gewalt der Zerstörungen, den unzähligen Toten und Verletzten und den endlosen Zügen von Kriegsgefangenen, Flüchtlingen und Vertriebenen.
Das Buch wirft einen Blick hinter die Kulissen des ersten modernen Medienkrieges der Geschichte. Es schildert ebenso den Alltag und die Arbeitsbedingungen der Kriegsfotografen wie auch die immer subtiler werdenden Methoden der Bildpropaganda. Der Autor zeigt, wie der Krieg die Fotografie verändert und wie umgekehrt, die Fotografie den Krieg verändert hat. Militärs und Medienvertreter haben ihre Lektionen schnell gelernt. Seit dem Ersten Weltkrieg gehört die propagandistisch verwendete Fotografie ins Waffenarsenal eines jeden modernen Krieges.
Rezension:
Holzer, Anton: Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Mit Originalaufnahmen aus dem Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Darmstadt: Primus Verlag 2007. ISBN 978-3-89678-338-7; geb.; 368 S., 520 Fotografien; EUR 39,90.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Nic Leonhardt, Hochschule für Musik und Theater Leipzig
E-Mail:
Eine alte Fotografie zeigt eine aus Schnee geformte Figur, die auf einem Schwein reitet, ebenfalls aus Schnee, am Rande einer schneebedeckten Straße. Die Figur trägt eine Kappe, Epauletten, einen Schnurrbart; zweireihig angebrachte Knöpfe deuten eine Uniform an. Der Untertitel der Fotografie lautet „Nikitas Todesritt“, gefertigt ist sie in Kolomea, Ostgalizien. Was stellt das Bild dar? Wer stellte es her? Für wen?
Warum?
Mit dieser eigentümlichen fotografischen Aufnahme beginnt der österreichische Kulturwissenschaftler und Fotohistoriker Anton Holzer seine jüngste Publikation „Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg“, eine beeindruckende Aufarbeitung der fotografischen Erinnerung des Ersten Weltkrieges.
Das Schneemann-Bild ist eine von unzähligen Fotografien, die zwischen
1914 und 1918 im Osten und Südosten Europas aufgenommen wurden, und die vom österreichischen k.u.k Kriegspressequartier (KPQ), der Propagandaabteilung des österreichischen Heeres, zusammengetragen worden waren. Heute wird diese Sammlung im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien aufbewahrt. Holzer hat diese Fotografien in penibler Arbeit gesichtet, 520 von ihnen, überwiegend zum ersten Mal publiziert, bilden das Kernstück des Buches, in dem er eine gelungene fotohistorische und geschichtswissenschaftliche Annäherung an visuelle Fragmente der Kriegsgeschichte des 20. Jahrhunderts vorstellt. Er macht dies, und das ist auf Anhieb als Qualität des gesamten, 368 Seiten starken Bild-Textbands zu erkennen, mit einem durchaus kritischen Anspruch an den Umgang mit Geschichte und ihren Bildern, wobei seine theoretischen und methodischen Ansätze immer nur implizit sind. So steht seine Annäherung an die fotografischen Bilder der ikonographisch-ikonologischen Methode der Bildbeschreibung, wie sie einst Erwin Panofsky vorgeschlagen hat, mustergültig nahe, ohne dass er diese Methode weiter erläutert. Einer Methodendiskussion räumt Holzer keinen Raum ein, er denkt sie aber konsequent mit und flicht an geeigneten Stellen ebenso Kritik an der deutschen Historiographie als Schreibung von Ereignisgeschichte wie auch an einer noch immer überwiegend apolitischen Kunst- und Fotografiegeschichte ein. Während er ersterer eine stärkere Fokussierung auf die Sozialgeschichte „abseits der Frontlinien“ empfiehlt, legt er letzterer eine stärkere Berücksichtigung gesellschaftlicher und politischer Aspekte nahe.
Am Beispiel der Schneemann-Fotografie macht Holzer auf die Defizite der Historiographie aufmerksam, an deren Behebung noch immer zu arbeiten
sei: „Die Geschichtsschreibung, die in erster Linie auf die Kraft des Textes, auf schriftliche Dokumente, vertraut, würde dieses Bild gar nicht erst beachten. Was kann ein Schneemann aus Kolomea schon zur Geschichte des Ersten Weltkrieges beitragen?“ (S. 10) Eine Menge, wie Holzer aufzeigt: Von der genauen Betrachtung des Bildes und seiner Beschreibung gleitet er in eine gründliche Kontextualisierung der Aufnahmen durch Unterschriften, Texte, Kontextwissen und immer wieder Neu-Befragen der Darstellung. Die fotografische Aufnahme von „Nikitas Todesritt“ aus Schnee wird so zur Eintrittstür in das vergessene Archiv jenes Stellungskrieges.
Die Bilder, die Holzer für seine Publikation aus der Wiener Sammlung gehoben hat, stammen aus sämtlichen Kriegsgebieten des Ersten Weltkrieges und zeigen folglich russische, serbische, montenegrinische, rumänische, bulgarische, italienische und türkische Kriegsschauplätze, Soldaten, Zivilistinnen und Zivilisten. Holzer versucht die Bilder, wie er selbst schreibt, „‘sprechen‘ zu lassen“ (S. 17). Er schränkt diese Formulierung – die ihn noch vor wenigen Jahren als unsäglich unwissenschaftlich gestempelt hätte –, jedoch sogleich wieder ein, indem er einräumt, dass er versuche, die Lesart der Bilder zur Zeit der Entstehung nachvollziehbar zu machen, ihre Produktionsseite in den Blick zu rücken und die Strategien ihrer propagandistischen Verwertung.
Das erinnert zunächst an Gerhard Pauls 2004 erschienene Publikation „Bilder des Krieges. Krieg der Bilder“, die bereits ein eindrucksvolles Beispiel für den schrittweisen Einzug des ‘Visual’ oder ‘Iconic Turn’
auch in die Geschichtswissenschaft darstellte. [1] Geht Paul eher von einer theoretisch-ästhetischen Annäherung an die Bilder des Krieges aus, so zeigt Anton Holzer in „Die andere Front“ auf, wie sich der Erfahrungshorizont und Alltag des Krieges von den Bildern ausgehend begreifen lässt, statt, wie lange Zeit und immer noch überwiegend innerhalb der Geschichtswissenschaft üblich, Bilder als illustrative Beigaben zum dominanten Text zu begreifen. Holzer geht aber auch den umgekehrten Weg, an dessen Ende schließlich das fertige Bild steht, indem er etwa die politischen, ökonomischen und ästhetischen Bedingungen der Bildproduktion aufzeigt und die Verwertung der Bilder als Objekte einer subtilen oder schlagkräftigen Propaganda in den Zentren der Krieg führenden Staaten im Westen durchleuchtet.
Dabei berücksichtigt er auch die sozialen und beruflichen Bedingungen der Fotografen und erläutert, dass der Personalstand im Kriegspressequartier (KPQ) nach Kriegsbeginn 1914 signifikant stieg und ein Eintritt ins KPQ ein „Karrieresprungbrett“ für die Fotografen bedeutete (S. 21). Auch lässt er keineswegs die Konditionen unerwähnt, an die eine berufliche Protektion gebunden war, denn „[ü]ber die Aufnahme in das KPQ entschieden nicht nur Können und Erfahrung, sondern [...] auch die Beziehungen zu einflussreichen Vertretern des Militärs“ (S. 21). Die Fotografen standen also in steter Abhängigkeit ihrer Auftraggeber, und dies nicht nur ideologisch und pekuniär, sondern auch im Hinblick auf die Ästhetik ihrer Bilder. Dass auch die vermeintlich dokumentarische Kraft der Fotografie Techniken der Manipulation des Dargestellten und der Darstellung unterliegt, ist keine neue Erkenntnis, wird aber von Holzer am Beispiel eines der ersten professionell arrangierten fotografischen und auch filmisch gesteuerten Medienkrieges noch einmal differenziert dargelegt. Ähnliches gilt für die ökonomische Seite der Bildproduktion, denn auch die Zeitungen sowie die Bild- und Filmgesellschaften, die das fotografische Material reproduzierten und mehr und mehr im Dienste der staatlich-militärischen Propaganda massenhaft vertrieben, agierten ihrerseits „in einer kontinuierlichen Gratwanderung zwischen der Verfolgung ihrer kommerziellen Interessen und der patriotischen Andienung ans Militär“ (S. 29).
Bis Anfang 1917 hatte das Kriegsarchiv, in den ersten beiden Kriegsjahren für die Sammlung und Archivierung der Fotos zuständig, schon 50.000 Aufnahmen gesammelt. Die Bilder stammten nicht nur von professionellen Fotografen, sondern ebenso von Amateurfotografen der Armee, die angehalten waren, von jeder ihrer fotografischen Aufnahmen eine Kopie an die Zentralstelle einzusenden. Ausgeteilte Merkblätter gaben strikte Anweisungen über die Motivwahl. Die Bilder dienten dann wahlweise als Instruktionsmaterial oder Propagandainstrument, als militärstrategische Instrumentarien oder Kampfmittel. „Im Laufe des Krieges kam es zu einer grundlegenden Umschichtung im Mediensystem.
Zensur, Akkreditierungsmaßnahmen und die systematische ‚Einbettung‘ der fotografischen Berichterstattung in die militärische Logistik hatten zu einer engen Verzahnung von Militär und Medien geführt, zu einer Symbiose zwischen Kriegsführung und Propaganda.“ (S. 326)
Auch diese Erkenntnis ist nicht neu.[2] Anton Holzer untermauert sie jedoch mit reichen und bis dato unbekannten visuellen und schriftlichen Quellen und ruft überdies, entlang der ausgewählten Bilder, bisher zu gering beleuchtete Aspekte des Ersten Weltkrieges ins Geschichts- und
Bild-Gedächtnis: Flucht und Vertreibung, Umgang mit Kriegsgefangenen, die Lage der Zivilbevölkerung in den eroberten Gebieten. In seinem Buch leistet er eine differenzierte Aufarbeitung der Entstehung, wie der nach Maßgaben der Propagandastellen ästhetischen Lenkung, Verwertung und Platzierung der Aufnahmen, die dem Krieg ein bipolares Gesicht geben
sollten: „Schon in der Zwischenkriegszeit machte sich eine seltsame Teilung Europas bemerkbar. Sie schlug sich auch in den Bildern nieder.
„Der Krieg im Westen (und gegen Italien) wurde überhöht und zum Zentrum der kollektiven Erinnerung ausgebaut, die Ereignisse im Osten und Südosten Europas wurden hingegen nach und nach in den Hintergrund gedrängt.“ (S. 7) Anhand der überlieferten visuellen Dokumentationen könne folglich von einer „Westverschiebung“ der visuellen Erinnerung des Krieges gesprochen werden.
Durch die Versammlung und Besprechung der Bilder aus dem Osten und Südosten Europas steuert Anton Holzer nicht nur eine andere Sicht auf den Ersten Weltkrieg bei, sondern eine ergänzende Sicht – qua Fokussierung auf die „andere Front“.
Anmerkungen:
[1] Paul, Gerhard, Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des Modernen Krieges, München 2004.
[2] Siehe u.a. ebd., 2004.
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Ewald Frie
URL zur Zitation dieses Beitrages
Die Aufnahmen der k.u.k. Kriegspropaganda sind in Form von Originalglasplatten erhalten. Sie sollten ein geschöntes Bild des Krieges vermitteln. Aber bei genauerer Betrachtung berichten sie auch vom harten Alltag der Soldaten in der Fremde, von der ungeheuren Gewalt der Zerstörungen, den unzähligen Toten und Verletzten und den endlosen Zügen von Kriegsgefangenen, Flüchtlingen und Vertriebenen.
Das Buch wirft einen Blick hinter die Kulissen des ersten modernen Medienkrieges der Geschichte. Es schildert ebenso den Alltag und die Arbeitsbedingungen der Kriegsfotografen wie auch die immer subtiler werdenden Methoden der Bildpropaganda. Der Autor zeigt, wie der Krieg die Fotografie verändert und wie umgekehrt, die Fotografie den Krieg verändert hat. Militärs und Medienvertreter haben ihre Lektionen schnell gelernt. Seit dem Ersten Weltkrieg gehört die propagandistisch verwendete Fotografie ins Waffenarsenal eines jeden modernen Krieges.
Rezension:
Holzer, Anton: Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Mit Originalaufnahmen aus dem Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Darmstadt: Primus Verlag 2007. ISBN 978-3-89678-338-7; geb.; 368 S., 520 Fotografien; EUR 39,90.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Nic Leonhardt, Hochschule für Musik und Theater Leipzig
E-Mail:
Eine alte Fotografie zeigt eine aus Schnee geformte Figur, die auf einem Schwein reitet, ebenfalls aus Schnee, am Rande einer schneebedeckten Straße. Die Figur trägt eine Kappe, Epauletten, einen Schnurrbart; zweireihig angebrachte Knöpfe deuten eine Uniform an. Der Untertitel der Fotografie lautet „Nikitas Todesritt“, gefertigt ist sie in Kolomea, Ostgalizien. Was stellt das Bild dar? Wer stellte es her? Für wen?
Warum?
Mit dieser eigentümlichen fotografischen Aufnahme beginnt der österreichische Kulturwissenschaftler und Fotohistoriker Anton Holzer seine jüngste Publikation „Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg“, eine beeindruckende Aufarbeitung der fotografischen Erinnerung des Ersten Weltkrieges.
Das Schneemann-Bild ist eine von unzähligen Fotografien, die zwischen
1914 und 1918 im Osten und Südosten Europas aufgenommen wurden, und die vom österreichischen k.u.k Kriegspressequartier (KPQ), der Propagandaabteilung des österreichischen Heeres, zusammengetragen worden waren. Heute wird diese Sammlung im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien aufbewahrt. Holzer hat diese Fotografien in penibler Arbeit gesichtet, 520 von ihnen, überwiegend zum ersten Mal publiziert, bilden das Kernstück des Buches, in dem er eine gelungene fotohistorische und geschichtswissenschaftliche Annäherung an visuelle Fragmente der Kriegsgeschichte des 20. Jahrhunderts vorstellt. Er macht dies, und das ist auf Anhieb als Qualität des gesamten, 368 Seiten starken Bild-Textbands zu erkennen, mit einem durchaus kritischen Anspruch an den Umgang mit Geschichte und ihren Bildern, wobei seine theoretischen und methodischen Ansätze immer nur implizit sind. So steht seine Annäherung an die fotografischen Bilder der ikonographisch-ikonologischen Methode der Bildbeschreibung, wie sie einst Erwin Panofsky vorgeschlagen hat, mustergültig nahe, ohne dass er diese Methode weiter erläutert. Einer Methodendiskussion räumt Holzer keinen Raum ein, er denkt sie aber konsequent mit und flicht an geeigneten Stellen ebenso Kritik an der deutschen Historiographie als Schreibung von Ereignisgeschichte wie auch an einer noch immer überwiegend apolitischen Kunst- und Fotografiegeschichte ein. Während er ersterer eine stärkere Fokussierung auf die Sozialgeschichte „abseits der Frontlinien“ empfiehlt, legt er letzterer eine stärkere Berücksichtigung gesellschaftlicher und politischer Aspekte nahe.
Am Beispiel der Schneemann-Fotografie macht Holzer auf die Defizite der Historiographie aufmerksam, an deren Behebung noch immer zu arbeiten
sei: „Die Geschichtsschreibung, die in erster Linie auf die Kraft des Textes, auf schriftliche Dokumente, vertraut, würde dieses Bild gar nicht erst beachten. Was kann ein Schneemann aus Kolomea schon zur Geschichte des Ersten Weltkrieges beitragen?“ (S. 10) Eine Menge, wie Holzer aufzeigt: Von der genauen Betrachtung des Bildes und seiner Beschreibung gleitet er in eine gründliche Kontextualisierung der Aufnahmen durch Unterschriften, Texte, Kontextwissen und immer wieder Neu-Befragen der Darstellung. Die fotografische Aufnahme von „Nikitas Todesritt“ aus Schnee wird so zur Eintrittstür in das vergessene Archiv jenes Stellungskrieges.
Die Bilder, die Holzer für seine Publikation aus der Wiener Sammlung gehoben hat, stammen aus sämtlichen Kriegsgebieten des Ersten Weltkrieges und zeigen folglich russische, serbische, montenegrinische, rumänische, bulgarische, italienische und türkische Kriegsschauplätze, Soldaten, Zivilistinnen und Zivilisten. Holzer versucht die Bilder, wie er selbst schreibt, „‘sprechen‘ zu lassen“ (S. 17). Er schränkt diese Formulierung – die ihn noch vor wenigen Jahren als unsäglich unwissenschaftlich gestempelt hätte –, jedoch sogleich wieder ein, indem er einräumt, dass er versuche, die Lesart der Bilder zur Zeit der Entstehung nachvollziehbar zu machen, ihre Produktionsseite in den Blick zu rücken und die Strategien ihrer propagandistischen Verwertung.
Das erinnert zunächst an Gerhard Pauls 2004 erschienene Publikation „Bilder des Krieges. Krieg der Bilder“, die bereits ein eindrucksvolles Beispiel für den schrittweisen Einzug des ‘Visual’ oder ‘Iconic Turn’
auch in die Geschichtswissenschaft darstellte. [1] Geht Paul eher von einer theoretisch-ästhetischen Annäherung an die Bilder des Krieges aus, so zeigt Anton Holzer in „Die andere Front“ auf, wie sich der Erfahrungshorizont und Alltag des Krieges von den Bildern ausgehend begreifen lässt, statt, wie lange Zeit und immer noch überwiegend innerhalb der Geschichtswissenschaft üblich, Bilder als illustrative Beigaben zum dominanten Text zu begreifen. Holzer geht aber auch den umgekehrten Weg, an dessen Ende schließlich das fertige Bild steht, indem er etwa die politischen, ökonomischen und ästhetischen Bedingungen der Bildproduktion aufzeigt und die Verwertung der Bilder als Objekte einer subtilen oder schlagkräftigen Propaganda in den Zentren der Krieg führenden Staaten im Westen durchleuchtet.
Dabei berücksichtigt er auch die sozialen und beruflichen Bedingungen der Fotografen und erläutert, dass der Personalstand im Kriegspressequartier (KPQ) nach Kriegsbeginn 1914 signifikant stieg und ein Eintritt ins KPQ ein „Karrieresprungbrett“ für die Fotografen bedeutete (S. 21). Auch lässt er keineswegs die Konditionen unerwähnt, an die eine berufliche Protektion gebunden war, denn „[ü]ber die Aufnahme in das KPQ entschieden nicht nur Können und Erfahrung, sondern [...] auch die Beziehungen zu einflussreichen Vertretern des Militärs“ (S. 21). Die Fotografen standen also in steter Abhängigkeit ihrer Auftraggeber, und dies nicht nur ideologisch und pekuniär, sondern auch im Hinblick auf die Ästhetik ihrer Bilder. Dass auch die vermeintlich dokumentarische Kraft der Fotografie Techniken der Manipulation des Dargestellten und der Darstellung unterliegt, ist keine neue Erkenntnis, wird aber von Holzer am Beispiel eines der ersten professionell arrangierten fotografischen und auch filmisch gesteuerten Medienkrieges noch einmal differenziert dargelegt. Ähnliches gilt für die ökonomische Seite der Bildproduktion, denn auch die Zeitungen sowie die Bild- und Filmgesellschaften, die das fotografische Material reproduzierten und mehr und mehr im Dienste der staatlich-militärischen Propaganda massenhaft vertrieben, agierten ihrerseits „in einer kontinuierlichen Gratwanderung zwischen der Verfolgung ihrer kommerziellen Interessen und der patriotischen Andienung ans Militär“ (S. 29).
Bis Anfang 1917 hatte das Kriegsarchiv, in den ersten beiden Kriegsjahren für die Sammlung und Archivierung der Fotos zuständig, schon 50.000 Aufnahmen gesammelt. Die Bilder stammten nicht nur von professionellen Fotografen, sondern ebenso von Amateurfotografen der Armee, die angehalten waren, von jeder ihrer fotografischen Aufnahmen eine Kopie an die Zentralstelle einzusenden. Ausgeteilte Merkblätter gaben strikte Anweisungen über die Motivwahl. Die Bilder dienten dann wahlweise als Instruktionsmaterial oder Propagandainstrument, als militärstrategische Instrumentarien oder Kampfmittel. „Im Laufe des Krieges kam es zu einer grundlegenden Umschichtung im Mediensystem.
Zensur, Akkreditierungsmaßnahmen und die systematische ‚Einbettung‘ der fotografischen Berichterstattung in die militärische Logistik hatten zu einer engen Verzahnung von Militär und Medien geführt, zu einer Symbiose zwischen Kriegsführung und Propaganda.“ (S. 326)
Auch diese Erkenntnis ist nicht neu.[2] Anton Holzer untermauert sie jedoch mit reichen und bis dato unbekannten visuellen und schriftlichen Quellen und ruft überdies, entlang der ausgewählten Bilder, bisher zu gering beleuchtete Aspekte des Ersten Weltkrieges ins Geschichts- und
Bild-Gedächtnis: Flucht und Vertreibung, Umgang mit Kriegsgefangenen, die Lage der Zivilbevölkerung in den eroberten Gebieten. In seinem Buch leistet er eine differenzierte Aufarbeitung der Entstehung, wie der nach Maßgaben der Propagandastellen ästhetischen Lenkung, Verwertung und Platzierung der Aufnahmen, die dem Krieg ein bipolares Gesicht geben
sollten: „Schon in der Zwischenkriegszeit machte sich eine seltsame Teilung Europas bemerkbar. Sie schlug sich auch in den Bildern nieder.
„Der Krieg im Westen (und gegen Italien) wurde überhöht und zum Zentrum der kollektiven Erinnerung ausgebaut, die Ereignisse im Osten und Südosten Europas wurden hingegen nach und nach in den Hintergrund gedrängt.“ (S. 7) Anhand der überlieferten visuellen Dokumentationen könne folglich von einer „Westverschiebung“ der visuellen Erinnerung des Krieges gesprochen werden.
Durch die Versammlung und Besprechung der Bilder aus dem Osten und Südosten Europas steuert Anton Holzer nicht nur eine andere Sicht auf den Ersten Weltkrieg bei, sondern eine ergänzende Sicht – qua Fokussierung auf die „andere Front“.
Anmerkungen:
[1] Paul, Gerhard, Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des Modernen Krieges, München 2004.
[2] Siehe u.a. ebd., 2004.
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Ewald Frie
URL zur Zitation dieses Beitrages
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2007Die Bewaffnung des Auges
Bisher unveröffentlichte Originalaufnahmen aus der Bildpropaganda des Ersten Weltkriegs: Anton Holzer deutet sie in diesem standardsetzenden Buch.
Schützengräben, Stellungskrieg, Somme-Schlacht, Verdun und Langemarck, Giftgas und Rübenwinter haben das Bild des Ersten Weltkriegs bis heute geprägt. Manche Zeitgenossen begriffen ihn als europäische, die meisten als nationale Katastrophe, die nichts gelassen hat, wie es einmal war. Der Weltkrieg hat die europäischen und außereuropäischen Gesellschaften nicht weniger umgepflügt als die Granaten das Niemandsland. Das ahnten die Zeitgenossen bald, und die Historiker haben es in fast einem Jahrhundert Forschung von der Militär- bis zur Sozial- und Kulturgeschichte gerade im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte des Zweiten Weltkriegs dargelegt. Zu keinem geschichtlichen Ereignis wurde mehr publiziert.
Umso merkwürdiger mutet es an, dass, trotz der ohnehin schon vorherrschenden Konzentration auf den europäischen Kriegsschauplatz und die europäischen Kriegsgesellschaften, das Bild vom Krieg, wie er im Osten geführt wurde, völlig unterbelichtet ist. Gerade so, als habe es "Stahlgewitter" nur im Westen gegeben. Das liegt nicht daran, dass es keine oder nur wenige Bilder von dieser anderen Front gegeben hätte, sondern ist bereits eine Folge der Zwischenkriegszeit. In seinem grundlegenden Werk über die "andere Front" macht der österreichische Fotografiehistoriker Anton Holzer sichtbar, was durch diese "Westverschiebung der visuellen Erinnerung" vollkommen aus dem Blick und dem Gedächtnis verschwunden ist. Holzers intensive Forschungen im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek erschließen eine ganze Welt: 33 000 Originalglasplatten sowie die dazugehörigen Abzüge, Bilder aus sämtlichen Kriegsgebieten der k.u.k. Monarchie: von der Türkei über Bulgarien, Montenegro bis Russland.
Szenen vom Frontalltag
Es sind jene Länder, deren Grenzen und staatliche Verfasstheit sich im Kriegsverlauf und nach Kriegsende am stärksten veränderten. Diese Fotos dokumentieren also, so Holzer, eine historische Bruchstelle, aus der ein anderes Europa hervorgehen sollte, ein Europa, das dann mit dem Zweiten Weltkrieg sich selbst zugrunde richtete. Diesem ungeheuren historischen Umschlag ist Anton Holzer in seinen ebenso genauen wie brillanten ikonographischen Interpretationen und der Rekonstruktion der organisierten Bildpropaganda auf der Spur. Es gelingt ihm damit weit mehr als die visuelle Wiederentdeckung der "anderen Front", deren Verdienst an sich schon groß genug ist.
Auf den ersten Blick scheinen die Themen der Fotos von der Ostfront die gleichen wie die von der Westfront zu sein. Es gibt Aufnahmen der großen Heerführer, der Waffen, des Frontalltags. Holzer analysiert die Organisation der Bildpropaganda und zeigt, wie im Osten Menschen-Material und Maschinen wahrgenommen wurden. Ein faszinierendes Kapitel ist der "Bewaffnung des Auges" gewidmet, in dessen Folge der Nacht- und Untertagekrieg zur Regel wurde. Die Telegrafie wird als Nervensystem der Kombattanten verstanden, die Fotografie mehr und mehr als Instrument der Aufklärung eingesetzt. Es geht darum, den Feind überhaupt sichtbar zu machen, seine Anwesenheit im Gelände "zu lesen" , eigentlich zu dechiffrieren. So werden abstrakt wirkende Luftaufnahmen vom feindlichen Gelände, die im Labor zusammengesetzt werden, zu den eigentlichen Mitteln der Aufklärung, während das bloße Auge nichts mehr zu erkennen vermag. So gibt es beides: die technisch geschärften Sinne und den getrübten Blick.
Anton Holzer zeigt aber auch die Arbeitslandschaften des Krieges. Manche, wie das Naphta-Revier von Boryslaw mit den "in vollem Betrieb stehenden Bohrtürmen" sehen aus wie Science-Fiction-Landschaften - parallel zu den Mondlandschaften im Niemandsland, deren innere Verwandtschaft ins Auge sticht. So wie durch den Krieg die Wahrnehmung der Landschaft verändert wird, so wälzt der Krieg auch die Sicht auf die Menschen um, gleichgültig, ob Soldat oder Zivilist.
Das zeigt Holzer in den thematischen Sequenzen über Flucht und Deportation, über den Krieg gegen die Zivilbevölkerung und mit dem Bild der Kriegsgefangenen. Es werden Klassifikationen wie etwa die des "Unzuverlässigen" auf große Gruppen von Zivilisten angewandt, ein Begriff, der aus der militärischen, vor allem aber aus der politisch-revolutionären Sprache des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts stammt. Es sind Begriffe, die in das Innere der Menschen und ihrer Haltungen hineinleuchten wollen - so wie die Scheinwerfer Himmel und Erde in übernatürliche Helligkeit versetzten. In einer Mischung aus Physiognomik und "Rassenmerkmal"-Kunde wird die Wahrnehmung des potentiellen Verräters hergestellt. So etwa in Ostgalizien, deren Bewohner damals Ruthenen genannt wurden. Immer sollen die Fotografien einen "Typus" abbilden, gleichgültig, ob Mann, Frau oder Kind. Sie repräsentieren die Gefährdung der Gemeinschaft, sie sind der personifizierte Zweifel. Wie blitzartig sich die Konnotationen aber auch wieder austauschen lassen, zeigte sich 1917, nach dem Waffenstillstand im Osten. Dieselben fragwürdigen Gestalten der Ruthener werden nun zu sauberen Ukrainern in hübscher Nationaltracht mit viel Sinn für die hergebrachten Sitten und Bräuche, die treusinnig in die Kamera blicken - und bald darauf abgesetzt werden gegen die zerstörungswütigen Bolschewiken.
Als Partisanen gehenkt
Die Menschen auf den Fotos sind nichts anderes als gestanzte politische Statements, die exakt der Ostpolitik der Mittelmächte entsprachen: Unterstützung der aufkommenden Nationalbewegungen an den Rändern des soeben entstehenden Sowjetreiches, das geschwächt werden sollte. Aber es handelt sich nicht einfach um eine Spiegelung politisch-strategischer Zielsetzungen, sondern um eine visuelle Eigendynamik. Die Völker werden geradezu industriell daran gewöhnt, zu sehen, was sie glauben sollen. Zu Recht werden die Bilder der vielen als "Partisanen" oder "Spione" Gehenkten an der Ostfront des Ersten Weltkriegs in der Forschung als visuelles Vorzeichen des deutschen Vernichtungskriegs im Zweiten Weltkrieg gewertet. Anton Holzer ist in seiner gesamten Argumentation und Recherche so umsichtig, dass dem Leser Überraschungen wie bei der ersten Hamburger Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht erspart bleiben.
Die visuelle Konstruktion des Feindes hat seitdem an Virulenz nichts verloren. Im neunzehnten Jahrhundert zeigten bunte Blätter, was das Publikum sehen wollte und sollte - im einundzwanzigsten Jahrhundert werden dem Fernsehzuschauer schemenhafte Fotos präsentiert, die aus großer Höhe von Aufklärungssatelliten aufgenommen wurden. Man erkennt auf diesen Fotos wenig, genaugenommen gar nichts, mit etwas Phantasie aber auch alles: Bunker, Massenvernichtungswaffen oder zentimetergenaue Zerstörung von Brücken und Büros. Die militärische Wahrnehmung wird zur mathematischen Abstraktion, die Anschauung selbst zur medialen Fiktion, zumal unter den Bedingungen einer wie auch immer ausgeübten Zensur.
Es ist aber nicht erst die Elektronisierung des Krieges, die das Kriegsgeschehen wahlweise zum Gegenstand entweder von Dechiffrierkunst oder von Bildpropaganda macht. Die große Revolution im Bild des Krieges fand, wie Anton Holzer in seinem bedeutenden, Standards setzenden Werk zeigt, bereits im Ersten Weltkrieg statt. Das gilt aber nicht allein für die technische Seite: Mit dem Ersten Weltkrieg ist die industriell betriebene visuelle Durchsetzung politischer, sozialer und rassistischer Klassifikationen zum Mittel der modernen Politik geworden.
MICHAEL JEISMANN
Anton Holzer: "Die andere Front". Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Mit unveröffentlichten Originalaufnahmen aus dem Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Primus Verlag, Darmstadt 2007. 320 S., mehr als 500 Fotos, geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bisher unveröffentlichte Originalaufnahmen aus der Bildpropaganda des Ersten Weltkriegs: Anton Holzer deutet sie in diesem standardsetzenden Buch.
Schützengräben, Stellungskrieg, Somme-Schlacht, Verdun und Langemarck, Giftgas und Rübenwinter haben das Bild des Ersten Weltkriegs bis heute geprägt. Manche Zeitgenossen begriffen ihn als europäische, die meisten als nationale Katastrophe, die nichts gelassen hat, wie es einmal war. Der Weltkrieg hat die europäischen und außereuropäischen Gesellschaften nicht weniger umgepflügt als die Granaten das Niemandsland. Das ahnten die Zeitgenossen bald, und die Historiker haben es in fast einem Jahrhundert Forschung von der Militär- bis zur Sozial- und Kulturgeschichte gerade im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte des Zweiten Weltkriegs dargelegt. Zu keinem geschichtlichen Ereignis wurde mehr publiziert.
Umso merkwürdiger mutet es an, dass, trotz der ohnehin schon vorherrschenden Konzentration auf den europäischen Kriegsschauplatz und die europäischen Kriegsgesellschaften, das Bild vom Krieg, wie er im Osten geführt wurde, völlig unterbelichtet ist. Gerade so, als habe es "Stahlgewitter" nur im Westen gegeben. Das liegt nicht daran, dass es keine oder nur wenige Bilder von dieser anderen Front gegeben hätte, sondern ist bereits eine Folge der Zwischenkriegszeit. In seinem grundlegenden Werk über die "andere Front" macht der österreichische Fotografiehistoriker Anton Holzer sichtbar, was durch diese "Westverschiebung der visuellen Erinnerung" vollkommen aus dem Blick und dem Gedächtnis verschwunden ist. Holzers intensive Forschungen im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek erschließen eine ganze Welt: 33 000 Originalglasplatten sowie die dazugehörigen Abzüge, Bilder aus sämtlichen Kriegsgebieten der k.u.k. Monarchie: von der Türkei über Bulgarien, Montenegro bis Russland.
Szenen vom Frontalltag
Es sind jene Länder, deren Grenzen und staatliche Verfasstheit sich im Kriegsverlauf und nach Kriegsende am stärksten veränderten. Diese Fotos dokumentieren also, so Holzer, eine historische Bruchstelle, aus der ein anderes Europa hervorgehen sollte, ein Europa, das dann mit dem Zweiten Weltkrieg sich selbst zugrunde richtete. Diesem ungeheuren historischen Umschlag ist Anton Holzer in seinen ebenso genauen wie brillanten ikonographischen Interpretationen und der Rekonstruktion der organisierten Bildpropaganda auf der Spur. Es gelingt ihm damit weit mehr als die visuelle Wiederentdeckung der "anderen Front", deren Verdienst an sich schon groß genug ist.
Auf den ersten Blick scheinen die Themen der Fotos von der Ostfront die gleichen wie die von der Westfront zu sein. Es gibt Aufnahmen der großen Heerführer, der Waffen, des Frontalltags. Holzer analysiert die Organisation der Bildpropaganda und zeigt, wie im Osten Menschen-Material und Maschinen wahrgenommen wurden. Ein faszinierendes Kapitel ist der "Bewaffnung des Auges" gewidmet, in dessen Folge der Nacht- und Untertagekrieg zur Regel wurde. Die Telegrafie wird als Nervensystem der Kombattanten verstanden, die Fotografie mehr und mehr als Instrument der Aufklärung eingesetzt. Es geht darum, den Feind überhaupt sichtbar zu machen, seine Anwesenheit im Gelände "zu lesen" , eigentlich zu dechiffrieren. So werden abstrakt wirkende Luftaufnahmen vom feindlichen Gelände, die im Labor zusammengesetzt werden, zu den eigentlichen Mitteln der Aufklärung, während das bloße Auge nichts mehr zu erkennen vermag. So gibt es beides: die technisch geschärften Sinne und den getrübten Blick.
Anton Holzer zeigt aber auch die Arbeitslandschaften des Krieges. Manche, wie das Naphta-Revier von Boryslaw mit den "in vollem Betrieb stehenden Bohrtürmen" sehen aus wie Science-Fiction-Landschaften - parallel zu den Mondlandschaften im Niemandsland, deren innere Verwandtschaft ins Auge sticht. So wie durch den Krieg die Wahrnehmung der Landschaft verändert wird, so wälzt der Krieg auch die Sicht auf die Menschen um, gleichgültig, ob Soldat oder Zivilist.
Das zeigt Holzer in den thematischen Sequenzen über Flucht und Deportation, über den Krieg gegen die Zivilbevölkerung und mit dem Bild der Kriegsgefangenen. Es werden Klassifikationen wie etwa die des "Unzuverlässigen" auf große Gruppen von Zivilisten angewandt, ein Begriff, der aus der militärischen, vor allem aber aus der politisch-revolutionären Sprache des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts stammt. Es sind Begriffe, die in das Innere der Menschen und ihrer Haltungen hineinleuchten wollen - so wie die Scheinwerfer Himmel und Erde in übernatürliche Helligkeit versetzten. In einer Mischung aus Physiognomik und "Rassenmerkmal"-Kunde wird die Wahrnehmung des potentiellen Verräters hergestellt. So etwa in Ostgalizien, deren Bewohner damals Ruthenen genannt wurden. Immer sollen die Fotografien einen "Typus" abbilden, gleichgültig, ob Mann, Frau oder Kind. Sie repräsentieren die Gefährdung der Gemeinschaft, sie sind der personifizierte Zweifel. Wie blitzartig sich die Konnotationen aber auch wieder austauschen lassen, zeigte sich 1917, nach dem Waffenstillstand im Osten. Dieselben fragwürdigen Gestalten der Ruthener werden nun zu sauberen Ukrainern in hübscher Nationaltracht mit viel Sinn für die hergebrachten Sitten und Bräuche, die treusinnig in die Kamera blicken - und bald darauf abgesetzt werden gegen die zerstörungswütigen Bolschewiken.
Als Partisanen gehenkt
Die Menschen auf den Fotos sind nichts anderes als gestanzte politische Statements, die exakt der Ostpolitik der Mittelmächte entsprachen: Unterstützung der aufkommenden Nationalbewegungen an den Rändern des soeben entstehenden Sowjetreiches, das geschwächt werden sollte. Aber es handelt sich nicht einfach um eine Spiegelung politisch-strategischer Zielsetzungen, sondern um eine visuelle Eigendynamik. Die Völker werden geradezu industriell daran gewöhnt, zu sehen, was sie glauben sollen. Zu Recht werden die Bilder der vielen als "Partisanen" oder "Spione" Gehenkten an der Ostfront des Ersten Weltkriegs in der Forschung als visuelles Vorzeichen des deutschen Vernichtungskriegs im Zweiten Weltkrieg gewertet. Anton Holzer ist in seiner gesamten Argumentation und Recherche so umsichtig, dass dem Leser Überraschungen wie bei der ersten Hamburger Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht erspart bleiben.
Die visuelle Konstruktion des Feindes hat seitdem an Virulenz nichts verloren. Im neunzehnten Jahrhundert zeigten bunte Blätter, was das Publikum sehen wollte und sollte - im einundzwanzigsten Jahrhundert werden dem Fernsehzuschauer schemenhafte Fotos präsentiert, die aus großer Höhe von Aufklärungssatelliten aufgenommen wurden. Man erkennt auf diesen Fotos wenig, genaugenommen gar nichts, mit etwas Phantasie aber auch alles: Bunker, Massenvernichtungswaffen oder zentimetergenaue Zerstörung von Brücken und Büros. Die militärische Wahrnehmung wird zur mathematischen Abstraktion, die Anschauung selbst zur medialen Fiktion, zumal unter den Bedingungen einer wie auch immer ausgeübten Zensur.
Es ist aber nicht erst die Elektronisierung des Krieges, die das Kriegsgeschehen wahlweise zum Gegenstand entweder von Dechiffrierkunst oder von Bildpropaganda macht. Die große Revolution im Bild des Krieges fand, wie Anton Holzer in seinem bedeutenden, Standards setzenden Werk zeigt, bereits im Ersten Weltkrieg statt. Das gilt aber nicht allein für die technische Seite: Mit dem Ersten Weltkrieg ist die industriell betriebene visuelle Durchsetzung politischer, sozialer und rassistischer Klassifikationen zum Mittel der modernen Politik geworden.
MICHAEL JEISMANN
Anton Holzer: "Die andere Front". Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Mit unveröffentlichten Originalaufnahmen aus dem Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Primus Verlag, Darmstadt 2007. 320 S., mehr als 500 Fotos, geb., 39,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Höchst fasziniert ist Valentin Groebner von Anton Holzers Buch über die Propagandafotografie im Ersten Weltkrieg. Holzer sichtet in seinem Band die ungeheure Sammlung des Kriegspressequartiers des österreichisch-ungarischen Heeres und ermöglicht damit einen besonderen Blick auf den Ersten Weltkrieg, so der Rezensent beeindruckt. Holzer informiere nicht nur über die Bedingungen, unter denen die Aufnahmen entstanden sind - angebliche Gefechtsszenen entstanden beispielsweise auf Truppenübungsplätzen - er klärt auch über das jeweilige Kalkül der Propagandafotos auf. So wurden hingerichtete "Verräter" zu Abschreckungszwecken abgelichtet und im Gefecht getötete Feinde besonders abstoßend dargestellt, konstatiert Groebner. Für den Autor wirft der Zweite Weltkrieg in diesen Aufnahmen schon seine Schatten voraus und das gibt diesen Propagandafotos aus dem Ersten Weltkrieg zusätzlich eine beunruhigende "Mehrdeutigkeit", erklärt der beeindruckte Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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