Produktdetails
- Verlag: Ullstein HC
- Seitenzahl: 288
- Erscheinungstermin: 25. September 2014
- Deutsch
- Abmessung: 220mm x 144mm x 33mm
- Gewicht: 542g
- ISBN-13: 9783550080500
- ISBN-10: 3550080506
- Artikelnr.: 40829402
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2014Viel zu viele haben schon verloren
Wenn Salafisten das Händeschütteln als Sünde ablehnen: Heinz Buschkowsky berichtet aus Berlin, wie die soziale Integrationskraft schwindet.
Von Regina Mönch
Dieses Buch ist die Fortsetzung von Heinz Buschkowskys "Neukölln ist überall", entstanden nach der kontroversen Diskussion darum. Der Berliner Bezirksbürgermeister hat noch einmal mit Hunderten Menschen gesprochen, über die Gesellschaft und wie sie sich entwickeln wird. Natürlich ist er wieder durch sein Neukölln gewandert, aber nicht nur.
Er hat mit Außenseitern und Aufsteigern geredet, mit strenggläubigen Muslimen und Säkularen, mit Schriftstellern, Imamen, Islamwissenschaftlern, Soziologen, Sozialarbeitern, Schülern, Studenten. Eintausendfünfhundert Seiten füllen die Protokolle dieser Gespräche; sie sind die Basis für dieses Buch. Manchmal holt Buschkowsky weit aus, um dann zielgenau auf den Punkt zu kommen, manchmal springt er etwas unvermittelt zum nächsten Problem in diesem zweiten Bericht über das Einwanderungsland Deutschland, das sich so schwertut mit seiner und allen dazugekommenen Kulturen.
Es geht um den Islam als demonstrativ öffentliche Religion, aber auch um Religionskritik, die mittlerweile unter Verdacht steht, den Frieden stören zu wollen. Das hält Heinz Buschkowsky nicht nur für falsch, sondern für gefährlich. Damit ihn auch jeder versteht, widmet er sich ausführlich dem Islam in seinen verschiedensten Ausprägungen und den Grenzen der Toleranz, die mit politischem Kalkül oder auch aus Feigheit zunehmend eingeebnet werden. Er registriert einen sich ausbreitenden Kulturrelativismus, eine verlogene und bequeme Haltung, mit der sich viele aus der Verantwortung stehlen. Islamische Fundamentalisten wissen das erfolgreich zu nutzen. Doch es könne nicht als Fortschritt gelten, beharrt Buschkowsky, was humanitäre Errungenschaften und demokratische Rechte in Frage stellt, auch nicht "unter dem Deckmantel der kulturellen Bereicherung". Eine wie auch anders definierte kulturelle Identität finde dort ihr Ende, wo sie mit Freiheitsrechten und der Menschenwürde kollidiert.
Er fragt - ohne eine letztgültige Antwort geben zu können -, ob sich die vielen Kulturen, die es in einer Einwanderergesellschaft naturgemäß gibt, aufeinander zu bewegen oder ob und warum sich einige abkapseln und alle Brücken zur Mehrheitsgesellschaft abreißen. Wenn aus Parallelgesellschaften, die für eine Übergangszeit normal sind, sich asymmetrische Kleingesellschaften entwickeln, mit Friedensrichtern, einer patriarchalischen, gewalttätigen Erziehung und religiösen, orthodoxen bis fundamentalistischen Regeln.
Seinen lebenssatten lakonischen Neuköllner Momentaufnahmen stellt er wissenschaftliche Expertise zur Seite. So hat zum Beispiel das Wissenschaftszentrum Berlin 9000 Muslime in sechs EU-Ländern zu ihrer Frömmigkeit befragt. Danach halten unter anderem zwei Drittel der Befragten religiöse Vorschriften für wichtiger als die Gesetze des Landes, in dem sie leben. Man dürfe also, so Buschkowsky, von einer "starken Tendenz zum religiösen Fundamentalismus unter Europas Muslimen" ausgehen.
Es erbittert ihn, dass diesen Fehlentwicklungen so wenig entgegengesetzt wird, er spricht vom kollektiven Abtauchen und pseudomoralischer Überwältigungsstrategie, die Kritiker stigmatisiert und ins Abseits stellt. Ihn natürlich nicht. Bei einer Feier im Rathaus - es sollten neue Stadtteilmütter, eine vielfach ausgezeichnete Buschkowsky-Erfindung zum Brückenbauen in die "andere Gesellschaft" ernannt werden -, weigerten sich plötzlich sieben Frauen, ihm die Hand zu reichen. Das sei eine "sündige Handlung", hatte den Frauen eine Salafistin eingetrichtert. Buschkowsky verweigerte ihnen die Ernennung.
Es empört ihn, dass eine salafistische Moscheegemeinde ungestraft vor Berliner Schulen Mädchen indoktrinieren darf, weil Lehrer dazu schweigen. Die verteilten Gebrauchsanweisungen schockieren, sie zeugen davon, wie groß der Druck sein kann, den islamische Sittenwächter längst ausüben.
Intensiv widmet sich Buschkowsky den kleinen Normverschiebungen im Alltag und ihren fatalen Folgen - für das zivile Miteinander und vor allem für das Bildungsniveau benachteiligter Kinder. Mit bitterem Spott führt er politisch korrekte Begriffsverrenkungen vor, einen "sprachlichen Problem-Absentismus", der schlimme Zu- und Umstände verunklart bis zur Unkenntlichkeit. Mit dessen Hilfe werde eine "Scheinwirklichkeit" inszeniert.
Vermeintlich "diskriminierungsfrei formuliert", wisse bald niemand mehr, worum es geht. Harmlos sind "Sprachplacebos" wie "Kunde" für Hartz-IV-Empfänger oder "multiple Vermittlungshemmnisse" für Menschen in großen Konflikten. Ärgerlich, wenn soziale Brennpunkte in "Gebiete mit erhöhtem Aufmerksamkeitsbedarf" umbenannt werden und Schulschwänzer nun "schuldistanziert" sind. Wenn über die Herkunft besorgniserregender Erziehungsmuster und Sprachnöte nicht mehr offen gesprochen wird. Extreme Sprachnöte, die offenbar mit den strengen religiösen Lebensregeln reproduziert werden. Bei hier geborenen Kindern, Deutschen also, zumindest nach dem Pass.
"Integration" hält Buschkowsky für einen wenig tauglichen Begriff, um dieser Probleme endlich Herr zu werden. Trotz beachtlicher Erfolge, die Heinz Buschkowsky aufzählen kann, gebe es unverändert zu viele, die schon verloren haben, bevor sie sich eine eigene Existenz aufbauen können. Im deutschen Bildungsbericht von 2014 ist von einer "unglaublichen Zahl" dieser "Ausbildungsunfähigen" die Rede. Eine Zahl, die sich trotz Millioneninvestitionen in die Sprachförderung seit 2006 kaum geändert hat.
Heinz Buschkowsky: "Die andere Gesellschaft".
Ullstein Verlag, Berlin 2014. 304 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn Salafisten das Händeschütteln als Sünde ablehnen: Heinz Buschkowsky berichtet aus Berlin, wie die soziale Integrationskraft schwindet.
Von Regina Mönch
Dieses Buch ist die Fortsetzung von Heinz Buschkowskys "Neukölln ist überall", entstanden nach der kontroversen Diskussion darum. Der Berliner Bezirksbürgermeister hat noch einmal mit Hunderten Menschen gesprochen, über die Gesellschaft und wie sie sich entwickeln wird. Natürlich ist er wieder durch sein Neukölln gewandert, aber nicht nur.
Er hat mit Außenseitern und Aufsteigern geredet, mit strenggläubigen Muslimen und Säkularen, mit Schriftstellern, Imamen, Islamwissenschaftlern, Soziologen, Sozialarbeitern, Schülern, Studenten. Eintausendfünfhundert Seiten füllen die Protokolle dieser Gespräche; sie sind die Basis für dieses Buch. Manchmal holt Buschkowsky weit aus, um dann zielgenau auf den Punkt zu kommen, manchmal springt er etwas unvermittelt zum nächsten Problem in diesem zweiten Bericht über das Einwanderungsland Deutschland, das sich so schwertut mit seiner und allen dazugekommenen Kulturen.
Es geht um den Islam als demonstrativ öffentliche Religion, aber auch um Religionskritik, die mittlerweile unter Verdacht steht, den Frieden stören zu wollen. Das hält Heinz Buschkowsky nicht nur für falsch, sondern für gefährlich. Damit ihn auch jeder versteht, widmet er sich ausführlich dem Islam in seinen verschiedensten Ausprägungen und den Grenzen der Toleranz, die mit politischem Kalkül oder auch aus Feigheit zunehmend eingeebnet werden. Er registriert einen sich ausbreitenden Kulturrelativismus, eine verlogene und bequeme Haltung, mit der sich viele aus der Verantwortung stehlen. Islamische Fundamentalisten wissen das erfolgreich zu nutzen. Doch es könne nicht als Fortschritt gelten, beharrt Buschkowsky, was humanitäre Errungenschaften und demokratische Rechte in Frage stellt, auch nicht "unter dem Deckmantel der kulturellen Bereicherung". Eine wie auch anders definierte kulturelle Identität finde dort ihr Ende, wo sie mit Freiheitsrechten und der Menschenwürde kollidiert.
Er fragt - ohne eine letztgültige Antwort geben zu können -, ob sich die vielen Kulturen, die es in einer Einwanderergesellschaft naturgemäß gibt, aufeinander zu bewegen oder ob und warum sich einige abkapseln und alle Brücken zur Mehrheitsgesellschaft abreißen. Wenn aus Parallelgesellschaften, die für eine Übergangszeit normal sind, sich asymmetrische Kleingesellschaften entwickeln, mit Friedensrichtern, einer patriarchalischen, gewalttätigen Erziehung und religiösen, orthodoxen bis fundamentalistischen Regeln.
Seinen lebenssatten lakonischen Neuköllner Momentaufnahmen stellt er wissenschaftliche Expertise zur Seite. So hat zum Beispiel das Wissenschaftszentrum Berlin 9000 Muslime in sechs EU-Ländern zu ihrer Frömmigkeit befragt. Danach halten unter anderem zwei Drittel der Befragten religiöse Vorschriften für wichtiger als die Gesetze des Landes, in dem sie leben. Man dürfe also, so Buschkowsky, von einer "starken Tendenz zum religiösen Fundamentalismus unter Europas Muslimen" ausgehen.
Es erbittert ihn, dass diesen Fehlentwicklungen so wenig entgegengesetzt wird, er spricht vom kollektiven Abtauchen und pseudomoralischer Überwältigungsstrategie, die Kritiker stigmatisiert und ins Abseits stellt. Ihn natürlich nicht. Bei einer Feier im Rathaus - es sollten neue Stadtteilmütter, eine vielfach ausgezeichnete Buschkowsky-Erfindung zum Brückenbauen in die "andere Gesellschaft" ernannt werden -, weigerten sich plötzlich sieben Frauen, ihm die Hand zu reichen. Das sei eine "sündige Handlung", hatte den Frauen eine Salafistin eingetrichtert. Buschkowsky verweigerte ihnen die Ernennung.
Es empört ihn, dass eine salafistische Moscheegemeinde ungestraft vor Berliner Schulen Mädchen indoktrinieren darf, weil Lehrer dazu schweigen. Die verteilten Gebrauchsanweisungen schockieren, sie zeugen davon, wie groß der Druck sein kann, den islamische Sittenwächter längst ausüben.
Intensiv widmet sich Buschkowsky den kleinen Normverschiebungen im Alltag und ihren fatalen Folgen - für das zivile Miteinander und vor allem für das Bildungsniveau benachteiligter Kinder. Mit bitterem Spott führt er politisch korrekte Begriffsverrenkungen vor, einen "sprachlichen Problem-Absentismus", der schlimme Zu- und Umstände verunklart bis zur Unkenntlichkeit. Mit dessen Hilfe werde eine "Scheinwirklichkeit" inszeniert.
Vermeintlich "diskriminierungsfrei formuliert", wisse bald niemand mehr, worum es geht. Harmlos sind "Sprachplacebos" wie "Kunde" für Hartz-IV-Empfänger oder "multiple Vermittlungshemmnisse" für Menschen in großen Konflikten. Ärgerlich, wenn soziale Brennpunkte in "Gebiete mit erhöhtem Aufmerksamkeitsbedarf" umbenannt werden und Schulschwänzer nun "schuldistanziert" sind. Wenn über die Herkunft besorgniserregender Erziehungsmuster und Sprachnöte nicht mehr offen gesprochen wird. Extreme Sprachnöte, die offenbar mit den strengen religiösen Lebensregeln reproduziert werden. Bei hier geborenen Kindern, Deutschen also, zumindest nach dem Pass.
"Integration" hält Buschkowsky für einen wenig tauglichen Begriff, um dieser Probleme endlich Herr zu werden. Trotz beachtlicher Erfolge, die Heinz Buschkowsky aufzählen kann, gebe es unverändert zu viele, die schon verloren haben, bevor sie sich eine eigene Existenz aufbauen können. Im deutschen Bildungsbericht von 2014 ist von einer "unglaublichen Zahl" dieser "Ausbildungsunfähigen" die Rede. Eine Zahl, die sich trotz Millioneninvestitionen in die Sprachförderung seit 2006 kaum geändert hat.
Heinz Buschkowsky: "Die andere Gesellschaft".
Ullstein Verlag, Berlin 2014. 304 S., geb., 19,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit großem Interesse liest Rezensentin Regina Mönch Neues aus der Feder des streibaren Neuköllner SPD-Bürgermeisters Heinz Buschkowsky. Für Mönch zeigen die zum Buch destillierten Gesprächsprotokolle, die Buschkowsky im Gespräch mit Muslimen, Sozialarbeitern, Islamwissenschaftlern, Studenten u. a. hat anfertigen lassen, einen engagierten Politiker, der dem Islam in all seinen Ausprägungen auf der Spur ist und die Grenzen der Toleranz dort verortet, wo kulturelle Identität die Demokratie in Frage stellt. Lebenssatt findet Mönch die im Buch enthaltenen Momentaufnahmen, erkenntnisreich die vom Autor hinzugefügten wissenschaftlichen Expertisen. Die Verbitterung des Autors angesichts von Fehlentwicklungen bei der sozialen Integration und winzigen Normverschiebungen mit fatalen Folgen, etwa durch missverstandene sprachliche Korrektheit, scheint Mönch nachvollziehen zu können.
© Perlentaucher Medien GmbH
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