»Dem Monteur Josef Bloch, der früher ein bekannter Torwart gewesen war, wurde, als er sich am Vormittag zur Arbeit meldete, mitgeteilt, daß er entlassen sei. Jedenfalls legte Bloch die Tatsache, daß bei seinem Erscheinen in der Tür der Bauhütte, wo sich die Arbeiter gerade aufhielten, nur der Polier von der Jause aufschaute, als eine solche Mitteilung aus und verließ das Baugelände.« Im März 1970 erscheint die Erzählung »Die Angst des Tormanns beim Elfmeter« in der Startauflage von 25 000 Exemplaren, und ein halbes Jahr später hat sich die Auflage verdoppelt. Die Aufnahme fällt einhellig aus: »Diese Erzählung gehört zu dem Bestechendsten, was in den letzten zehn Jahren deutsch geschrieben worden ist.« (Karl Heinz Bohrer, »Frankfurter Allgemeine Zeitung«) »Um das vorweg zu sagen: ich halte >Die Angst des Tormanns beim Elfmeter< ohne jede Einschränkung für das beste Buch, das in der deutschen Sprache nach Thomas Bernhards >Verstörung< und >Ungenach< geschrieben wurde.« (Peter Hamm, »Neues Forum«)- Gebundene Ausgabe mit Lesebändchen
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.06.2004 Band 13
Der Tag, an dem ihm die Welt verloren ging
Peter Handkes „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter”
Es ist noch nicht allzu lange her, dass die Sprache - und damit das Schreiben und Beschreiben - für die ernsthaften Schriftsteller zum Problem wurde. Ludwig Wittgensteins logische Untersuchungen zur Alltagssprache und die psychoanalytische Theorie auf der einen Seite, die Skepsis gegenüber der politischen Sprache auf der anderen führten zu einem so prinzipiellen Verdacht gegenüber der „Wahrheit” literarischer Kunstwerke, dass besonders vorschnelle Ideologen bereits das Ende des Romans feststellten. Vor diesem Hintergrund entstanden vor dreißig Jahren einige der besten Prosabücher der deutschen Literatur, von Thomas Bernhards „Kalkwerk”, Peter Handkes „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter” bis zu „Marlenes Schwester” von Botho Strauß, und sie sind deshalb so vorbildlich geblieben, weil sie das Problematische unseres Umgangs mit der Sprache nicht ausgeblendet haben.
Peter Handkes Erzählung vom armen Monteur Josef Bloch, der früher ein bekannter Tormann gewesen war und am Beginn der Geschichte von seiner Firma entlassen wird (oder annimmt, entlassen worden zu sein), gehört bis heute zu den klügsten, spannendsten und verstörendsten Werken der deutschen Nachkriegsliteratur. Es ist eine Krankengeschichte: Bloch zeigt Symptome einer manifesten Schizophrenie. Innenwelt und Außenwelt, normalerweise durch eine verständliche Sprache vermittelt, klaffen auseinander. Je länger er auf seinen ziellosen Wanderungen durch Wien unterwegs ist, desto mehr kommt ihm die Welt abhanden. Die Dinge entziehen sich seinen Worten, sie führen ein Eigenleben. Blochs übersteigerte Wahrnehmungsintensität findet keinen Ausdruck mehr: „Einerseits diese Aufdringlichkeit der Umgebung, wenn er die Augen offen hatte, andererseits diese noch schlimmere Aufdringlichkeit der Wörter für die Sachen in der Umgebung, wenn er die Augen geschlossen hatte.” In dieser heillosen Situation lernt er die Kassiererin eines Kinos kennen, die sich umstandslos mit ihm einlässt. Sie verbringen eine Nacht miteinander. „,Ich heiße Gerda! sagte sie. Bloch hatte es gar nicht wissen wollen . . . Ob er heute zur Arbeit gehe? fragte sie. Plötzlich würgte er sie. Er hatte gleich so fest zugedrückt, dass sie gar nicht dazugekommen war, es noch als Spaß aufzufassen.”
Bloch, der Mörder, fährt zu einer Freundin, die in einem südlichen Grenzort eine Gastwirtschaft führt - aus der Krankengeschichte wird ein ungewöhnlicher Kriminalroman, in dem die Rollen von Täter und Opfer verschwimmen. Am Ende finden wir Bloch als Zuschauer bei einem Fußballspiel. Es wird ein Elfmeter gegeben. Bloch erklärt sehr genau und rational die verschiedenen Möglichkeiten des Torschützen und des Torhüters, sich gegenseitig zu täuschen und zu überlisten. „Der Schütze lief plötzlich an. Der Tormann, der einen grellgelben Pullover anhatte, blieb völlig unbeweglich stehen, und der Elfmeterschütze schoss ihm den Ball in die Hände.”
Peter Handkes Ursachenforschung eines sich selbst fremd werdenden Menschen bedient sich nicht, wie etwa Sartres „Ekel”, eines existentialistischen Musters, sondern gewinnt seine Spannung ganz aus der Perspektive des distanziert mitgehenden Zuschauers, der Bloch auf seiner Odyssee begleitet. So liest sich die Geschichte des extrem geräuschempfindlichen, mit peinigender Sensibilität geplagten Menschen, der zum Mörder wird, wie ein Fall. Ein „Fall” allerdings, der lange nachhallt, bis heute.
MICHAEL KRÜGER
Peter Handke
Foto: Isolde Ohlbaum
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Der Tag, an dem ihm die Welt verloren ging
Peter Handkes „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter”
Es ist noch nicht allzu lange her, dass die Sprache - und damit das Schreiben und Beschreiben - für die ernsthaften Schriftsteller zum Problem wurde. Ludwig Wittgensteins logische Untersuchungen zur Alltagssprache und die psychoanalytische Theorie auf der einen Seite, die Skepsis gegenüber der politischen Sprache auf der anderen führten zu einem so prinzipiellen Verdacht gegenüber der „Wahrheit” literarischer Kunstwerke, dass besonders vorschnelle Ideologen bereits das Ende des Romans feststellten. Vor diesem Hintergrund entstanden vor dreißig Jahren einige der besten Prosabücher der deutschen Literatur, von Thomas Bernhards „Kalkwerk”, Peter Handkes „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter” bis zu „Marlenes Schwester” von Botho Strauß, und sie sind deshalb so vorbildlich geblieben, weil sie das Problematische unseres Umgangs mit der Sprache nicht ausgeblendet haben.
Peter Handkes Erzählung vom armen Monteur Josef Bloch, der früher ein bekannter Tormann gewesen war und am Beginn der Geschichte von seiner Firma entlassen wird (oder annimmt, entlassen worden zu sein), gehört bis heute zu den klügsten, spannendsten und verstörendsten Werken der deutschen Nachkriegsliteratur. Es ist eine Krankengeschichte: Bloch zeigt Symptome einer manifesten Schizophrenie. Innenwelt und Außenwelt, normalerweise durch eine verständliche Sprache vermittelt, klaffen auseinander. Je länger er auf seinen ziellosen Wanderungen durch Wien unterwegs ist, desto mehr kommt ihm die Welt abhanden. Die Dinge entziehen sich seinen Worten, sie führen ein Eigenleben. Blochs übersteigerte Wahrnehmungsintensität findet keinen Ausdruck mehr: „Einerseits diese Aufdringlichkeit der Umgebung, wenn er die Augen offen hatte, andererseits diese noch schlimmere Aufdringlichkeit der Wörter für die Sachen in der Umgebung, wenn er die Augen geschlossen hatte.” In dieser heillosen Situation lernt er die Kassiererin eines Kinos kennen, die sich umstandslos mit ihm einlässt. Sie verbringen eine Nacht miteinander. „,Ich heiße Gerda! sagte sie. Bloch hatte es gar nicht wissen wollen . . . Ob er heute zur Arbeit gehe? fragte sie. Plötzlich würgte er sie. Er hatte gleich so fest zugedrückt, dass sie gar nicht dazugekommen war, es noch als Spaß aufzufassen.”
Bloch, der Mörder, fährt zu einer Freundin, die in einem südlichen Grenzort eine Gastwirtschaft führt - aus der Krankengeschichte wird ein ungewöhnlicher Kriminalroman, in dem die Rollen von Täter und Opfer verschwimmen. Am Ende finden wir Bloch als Zuschauer bei einem Fußballspiel. Es wird ein Elfmeter gegeben. Bloch erklärt sehr genau und rational die verschiedenen Möglichkeiten des Torschützen und des Torhüters, sich gegenseitig zu täuschen und zu überlisten. „Der Schütze lief plötzlich an. Der Tormann, der einen grellgelben Pullover anhatte, blieb völlig unbeweglich stehen, und der Elfmeterschütze schoss ihm den Ball in die Hände.”
Peter Handkes Ursachenforschung eines sich selbst fremd werdenden Menschen bedient sich nicht, wie etwa Sartres „Ekel”, eines existentialistischen Musters, sondern gewinnt seine Spannung ganz aus der Perspektive des distanziert mitgehenden Zuschauers, der Bloch auf seiner Odyssee begleitet. So liest sich die Geschichte des extrem geräuschempfindlichen, mit peinigender Sensibilität geplagten Menschen, der zum Mörder wird, wie ein Fall. Ein „Fall” allerdings, der lange nachhallt, bis heute.
MICHAEL KRÜGER
Peter Handke
Foto: Isolde Ohlbaum
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