Der Überraschungserfolg aus Frankreich: eine brillante Mischung aus Thriller, Komödie und großer Literatur. Im März 2021 fliegt eine Boeing 787 auf dem Weg von Paris nach New York durch einen elektromagnetischen Wirbelsturm. Die Turbulenzen sind heftig, doch die Landung glückt. Allerdings: Im Juni landet dieselbe Boeing mit denselben Passagieren ein zweites Mal in New York. Im Flieger sitzen der Architekt André und seine Geliebte Lucie, der Auftragskiller Blake, der nigerianische Afro-Pop-Sänger Slimboy, der französische Schriftsteller Victor Miesel, eine amerikanische Schauspielerin. Sie alle führen auf unterschiedliche Weise ein Doppelleben. Und nun gibt es sie tatsächlich doppelt - sie sind mit sich selbst konfrontiert, in der Anomalie einer verrückt gewordenen Welt.
Hochkomisch und teuflisch intelligent spielt der Roman mit unseren Gewissheiten und fragt nach den Grenzen von Sprache, Literatur und Leben. Facettenreich, weltumfassend, ein literarisches Ereignis.
Hochkomisch und teuflisch intelligent spielt der Roman mit unseren Gewissheiten und fragt nach den Grenzen von Sprache, Literatur und Leben. Facettenreich, weltumfassend, ein literarisches Ereignis.
Ohne Zweifel Weltliteratur. ARD "Druckfrisch" 20210912
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.11.2022Geschenke für den Kopf (Fortsetzung von S. 18)
David Steinitz
Verstehen: Während der Coronaisolation noch mal verschlungen: Das berührende Interviewbuch „Hat es Spaß gemacht, Mr. Wilder?“, das der Regisseur und Oscarpreisträger Cameron Crowe mit dem Regisseur und Oscarpreisträger Billy Wilder gemacht hat, wenige Jahre vor dessen Tod. Wilder erzählt von seiner Kindheit in Wien, seinem Besuch bei Sigmund Freud, seiner Auswanderung und seinem Aufstieg zum König der Hollywoodkomödie. Ein ehrliches, stets komisches Buch über Identitätssuche und Selbstzweifel, aber auch über Glück, Liebe und die Geheimnisse der letzten Bastion, die zwischen uns und dem Wahnsinn steht: des Humors.
Cameron Crowe: Hat es Spaß gemacht, Mr. Wilder? Kampa Verlag, 496 Seiten, 26 Euro.
Träumen: Wärmer als in diesem Film hat die kalifornische Sonne wohl nie geschienen. „Licorice Pizza“ ist eine wilde Gauner- und Liebesgeschichte aus dem Los Angeles der Siebziger, frei nach den schönsten Erinnerungen (und natürlich auch Erfindungen) des Regisseurs Paul Thomas Anderson. Der war lange vor allem für düsteres Kino bekannt („There Will Be Blood“). Mit dieser Komödie über einen Highschool-Schüler, der sich in ein älteres Mädchen verliebt und mit ihr ein obskures Geschäft für Wasserbetten hochzieht, beweist er auch sein komisches Talent.
Licorice Pizza, Universal Pictures, DVD ab 7,99 Euro.
Sonja Zekri
Verstehen: Alles da auf diesen Bildern, Museumsinsel, „Clärchens Ballhaus“, Brandenburger Tor. Aber wie? Menschenleer, mit krassen Schwarzweiß-Kontrasten oder in fahles Morgenlicht gegossen, so hat Günter Steffen in den Achtzigern Ostberlin fotografiert. Eine vielleicht tote, vielleicht nie zum Leben erwachte Stadt, rätselhaft, schauderhaft, zauberhaft. In dem Bildband „Die Hauptstadt“ wechseln sich seine Berlin-Fotos mit Romanfragmenten aus Jewgenij Samjatins grandioser sowjetischer Dystopie „Wir“ ab. Freiheit als Verbrechen, Fantasie als Hindernis zum Glück – war Unmenschlichkeit je so schön?
Günter Steffen: Die Hauptstadt. Ost-Berlin in den Achtzigern. Hartmann Projects, 160 Seiten, 38 Euro.
Träumen: Europa ist schuld. Die verfluchte EU mit ihren offenen Grenzen hat Heniek die Frau ausgespannt. Beatka arbeitet jetzt in Holland, weit weg vom polnischen Gajerudki, wo Heniek seit gefühlt schon immer Autos repariert und nach Beatkas Abreise nicht weiterweiß. Andrzej aber weiß es, und so brechen die beiden Freunde auf, um sie zurückzuholen – zwei abgebrannte polnische Provinzler, mit Vorurteilen über „den Westen“ im Kopf und Speiseöl im Tank des alten Mercedes. Das kann nicht gut gehen. Tut es auch nicht, denn jedes Roadmovie ist nur so gut wie die Leiden der Protagonisten. Der Wisent“ ist eine witzige, rührende Heldenreise, „Tschick“ für Erwachsene.
Konrad Bogusław Bach: Der Wisent. Blessing Verlag, 432 Seiten, 24 Euro.
Andrian Kreye
Verstehen: Was die Maschinen mit dem Kopf machen, ist den Menschen ein unheimliches Rätsel. Der Soziologe Gérald Bronner hat ein paar Antworten auf die vielen Fragen gefunden. Seit 12 000 Jahren schon räumt der Mensch sein Hirn für die Gedanken frei, erzählt er. So entstand so etwas wie ein kognitiver Überschuss. Die digitalen Medien aber fressen dieses Plus an Hirnleistung wieder auf. Wie die Menschen damit umgehen könnten, hat Bronner so spannend und schlüssig aufgeschrieben, dass aus dem Theoriebuch ein Thriller wird, der im eigenen Hirn spielt. Gérald Bronner: Kognitive Apokalypse. C.H. Beck, 285 Seiten. 24 Euro. Träumen: Klavierkonzerte sind eine der intimsten Formen der Musik. Egal ob Alfred Brendel, Keith Jarrett oder Chilly Gonzales, die Meister ihres Fachs kommen ihren Zuhörern so nah wie nur wenige. Abdullah Ibrahim, der seine Laufbahn in Südafrika als Dollar Brand begann, ist einer der ganz großen Solopianisten. Inzwischen ist er 88 Jahre alt und lebt im Chiemgau. Dort gibt er alljährlich an seinem Geburtstag ein Solokonzert im Gasthaus Hirzinger in Riedering. Im Jahr 2020 durfte wegen dem Virus kein Publikum kommen. Also nahm er sein Konzert alleine für das Album „Solotude“ auf. Was er da im Gedankenfluss spielt, ist nichts weniger als die Verdichtung eines der großartigsten Gesamtwerke in der Geschichte des Jazz auf eine Dreiviertelstunde. Abdullah Ibrahim: Solotude. Gearbox, CD um die 15, LP um die 25 Euro.
Tanja Rest
Verstehen: Es gibt das Dorf Kosawa in Westafrika nicht wirklich, aber die Erzählung, die Imbolo Mbue dort spielen lässt, ist universell: Profit gegen Menschenrechte. Ein Ölkonzern hat sich in der Nähe des Dorfes angesiedelt, wo die Menschen seit Generationen in Einklang mit der Natur leben, er hat ihnen Wohlstand und Bildung versprochen. Nun vergiften lecke Pipelines Boden und Trinkwasser, Kinder erkranken, die Behörden schauen weg. Wie die Familien von Kosawa versuchen, sich gegen diese Übermacht zu wehren, wird hier mit einem Chor von Stimmen erzählt – als Geschichte eines nahezu aussichtslosen Kampfes und als unvergessliches Porträt derer, die ihn führen – warm, zärtlich und unendlich traurig.
Imbolo Mbue: Wie schön wir waren. KiWi, 448 Seiten, 23 Euro.
Träumen: Im März 2021 landet eine Boeing nach einem Wirbelsturm in New York. An Bord: ein erfolgloser Schriftsteller, ein Auftragskiller, ein alternder Architekt mit junger Geliebter, ein nigerianischer Popsänger. Ihr Leben geht weiter. Drei Monate später landet dieselbe Boeing mit denselben Menschen erneut in New York. Es gibt sie jetzt also doppelt, nur fehlen den später Angekommenen drei Monate ihres Lebens. Und nun? Was sagen Wissenschaft, Weltreligionen, Staaten zu dieser Anomalie? Ein herrliches Buch voller Komik, Suspense und existenziellen Fragen. Demnächst todsicher bei Netflix.
Hervé Le Tellier: Die Anomalie. Rowohlt, 352 Seiten, 13 Euro.
Hilmar Klute
Verstehen: Es ist nichts Neues, dass die Geschichte der Menschheit mit Nachteilen für jene Naturformen einhergeht, die ihr nicht angehören. Wie unerbittlich das Sterben ganzer Großtierarten und Pflanzen mit der wirtschaftlichen Expansion einhergeht, beschreibt Ashley Dawson im Essay „Aussterben“. An Beispielen erklärt er, wie bereits die kapitalistischen „Erschließungsgesellschaften“ der frühen Neuzeit mit ihren Urbarmachungsplänen die Saat für die Verödung streuten. Mag sein, dass Dawsons Aktivisten-Zorn auf den Kapitalismus ein bisschen übersteuert daherkommt. Andererseits zeigt unsere Wirklichkeit ja, was uns blüht, wenn Natur zur Marktware gemacht wird.
Ashley Dawson: Aussterben. Eine radikale Geschichte. Padmos Kunstverlag, 144 Seiten, 19.90 Euro.
Träumen: Wie lebe ich richtig und was benötige ich dazu? Diese Frage stellt sich jeder, der einigermaßen bei Verstand und bei sich ist. John von Düffel hat daraus ein reizendes Buch gemacht, das aus lauter Meditationen darüber besteht, was einen guten Asketen vom Entsagungsnarren unterscheidet. „Der Asket der Zukunft ist kein Asket der Kunst“, schreibt von Düffel und das ist schon einmal schön. Diese glasklaren lyrischen Notizen sind in Italien entstanden, wo man Frische, Wärme und Klarheit von Natur aus zur Verfügung hat – eine Dosis Spiritualität in reiner Form, ohne Esoterik, nur mit fühlendem Verstand hergestellt.
John von Düffel: Das Wenige und das Wesentliche. Ein Stundenbuch. Dumont, 106 Seiten, 23 Euro.
Peter Richter
Verstehen: Der Krieg hatte noch nicht begonnen, als eines der interessantesten Architekturbücher des Jahres geschrieben wurde. Es erzählt von einem Ukrainer aus Odessa, der zum Baumeister des Moskauer Imperialismus werden sollte: Boris Iofan, „Stalins Architekt“. Er überlebte, als die sowjetische Avantgarde um ihn herum liquidiert wurde, er war derjenige, der den klassizistischen Stil der Stalinzeit designte. Gleichzeitig war er eng mit Frank Lloyd Wright. Deyan Sudjic hat nun seine Biografie vorgelegt, bisher nur auf Englisch. Dafür spektakulär bebildert.
Deyan Sudjic: Stalin’s Architect. Power and Survival in Moscow. Thames and Hudson, 319 Seiten, ab 25 Euro.
Träumen: Der Münchner Kunsthändler Franz Dahlem erzählt mit seinem Insiderwissen, mit wüster Meinungsfreudigkeit und seidiger Angeberattitüde sehr heiter von früher, und die junge Kunsthistorikerin Franziska Leuthäußer stellt zwischendurch Fragen – mal aus der Perspektive der Nachgeborenen, dann wieder eher im Tonfall einer ironisch-verständnisvollen Pflegerin: Was als Oral-History-Projekt zur frühen bundesdeutschen Kunstszene begann, ist ein astreines Zwischending aus Sachbuch und Schelmenroman geworden. Die Frage ist immer, ob Dahlem am unterhaltsamsten ist, wenn er erzählt, wie es wirklich war, oder am glaubwürdigsten, wenn er auf den Pudding haut.
Franz Dahlem: Am liebsten würde ich Marilyn Monroe sein. Schirmer Mosel, 222 Seiten, 34 Euro.
Christine Dössel
Verstehen: Das Theater kann und muss die Welt nicht erklären, aber sie verstehen – und manchmal sogar: sie verändern – helfen, das kann es schon. Der soeben erschienene dritte Band von Günther Rühles groß angelegtem Werk „Theater in Deutschland“ erzählt davon. Beginnend mit dem Jahr 1967, in der Zeit der Revolten, und endend 1995, als Heiner Müller starb, beschreibt Rühle diese Zeit des Auf- und Umbruchs, der Skandale und Debatten so anschaulich wie kenntnisreich. Als FAZ-Kritiker und Frankfurter Intendant war der 2021 gestorbene Rühle nicht nur Zeitzeuge, sondern auch Mitgestalter jener Theaterjahre. Ein wertvolles Buch. Rühles Hinterlassenschaft.
Günther Rühle: Theater in Deutschland 1967-1995, Fischer, 794 Seiten, 98 Euro.
Träumen: Statt waldbaden zu gehen, was im Winter nicht so kommod ist, kann man sich das grüne Gefühl auch ins Haus holen: mit einer „Zwitscherbox“, aus der natürliches, gar nicht nerviges Vogelgezwitscher erklingt. Zum Abschalten, Entspannen und etwaigen Mitpfeifen, als sei man auf einer sonnigen Waldlichtung. Man aktiviert die Box wie einen Bewegungsmelder im Vorbeigehen. Nach zwei Minuten gibt sie wieder Ruhe. Auch das unterscheidet sie erfreulich von Twitter. Gestaltet in kleiner Häuschenform gibt es die batteriebetriebene Box in den unterschiedlichsten Designs, zum Beispiel aus Eichenholz. Aufgehängt etwa im Bad, bezwitschert sie das stille Örtchen. Es ist als Kompliment aufzufassen, wenn Gäste sagen: „Bei dir piepst’s.“
Zwitscherbox“, über www.relaxound.com, Modelle für 49 und 59 Euro.
Susan Vahabzadeh
Verstehen: Was ist uns nur passiert – wie konnte aus einem ungeheuer langen Frieden, aus Mauerfall und Idealen das entstehen, womit wir uns heute herumschlagen – Brexit, entfesselter Kapitalismus, Krieg in Europa? Ian McEwan versucht sich in „Lektionen“ an einer Geschichte, für die er sich viel aus dem eigenen Leben geborgt hat. Sie läuft an den großen Linien der letzten Jahrzehnte entlang, quer durch das Leben des Helden Roland, der immer versucht, auf der richtigen Seite zu stehen. Auch, wenn es manchmal beim Lesen wehtut: Dranbleiben.
Ian McEwan: Lektionen. Diogenes, 720 Seiten, 32 Euro.
Träumen: Penelope Cruz als überehrgeizige Regisseurin, Oscar Martínez als prätentiöser Theaterschauspieler und Antonio Banderas als Superstar, bei dem man nie weiß, ob er hinterhältig ist oder ein bisschen doof, machen zusammen einen Film. Klar: Es wird „Der beste Film aller Zeiten“. Wenn das Kino Nabelschau betreibt, spielt das in einem Paralleluniversum, in das ernstzunehmende Sorgen selten hineinfinden. Aber: Das ist zum Schreien komisch.
Der beste Film aller Zeiten, Arthaus/Studiocanal, DVD ab 12,99 Euro.
Tobias Kniebe
Verstehen: Zu seinem 80. Geburtstag hatte er wieder schmerzbefreite Großmaul-Auftritte, dieses Buch ist zum Glück aber anders. Denn Geltungssucht hat den Filmemacher Werner Herzog („Grizzly Man“, „Fitzcarraldo“) dann doch nicht in den Dschungel und ins ewige Eis getrieben – es war seine Neugier auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest. Sie reicht vom tollwütigen Pensionsnachbarn (Klaus Kinski) bis zu fernsten kosmischen Phänomenen, und er kann wunderbar davon erzählen. Allein mit den Urviechern aus seiner bitterarmen Kriegskind-Jugend in Sachrang, denen er hier ein Denkmal setzt, könnte man einen beinhart realistischen und doch vollkommen unsentimentalen Heimatroman bevölkern.
Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen. Hanser, 352 Seiten, 28 Euro.
Träumen: Wenn man in einem Film aus Georgien den Krieg des aggressiven Nachbarn Russland für zweieinhalb Stunden vergessen kann, muss er märchenhaft sein. Und das ist die Geschichte von Lisa und Giorgi: Nach einer Zufallsbegegnung sind sie füreinander bestimmt, wachen aber durch einen Fluch in neuen Körpern auf, erkennen sich nicht mehr. Diese Wirrungen spielen in Kutaissi, wo der Kaukasus sanft ausläuft, aber der mächtige Fluss Rioni noch die Wildwasserwucht des Gebirges mitbringt. Alexandre Koberidze lässt seine Kamera so träumerisch durch die helle Stadt schweifen, dass man am Ende selbst ganz verliebt ist.
Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?. 375 Media, DVD ab 16,99 Euro.
Nils Minkmar
Verstehen: In diesem Buch geht es zu den Wurzeln unserer Republik und der langen Geschichte unserer demokratischen Ordnung. Die meisten dürften die Revolution von 1848 als eine Geschichte des Scheiterns abgespeichert haben, aber hier wird noch einmal das ganze Drama mit allen Möglichkeiten so entfaltet, dass man meint, dabei zu sein. Bong erinnert so an eine ganze Gruppe von Demokratinnen und Demokraten, die schon lange vor ihren Zeitgenossen verstanden haben, wohin die Reise der Geschichte gehen sollte. Dass ein solcher Kampf auch dann siegreich ist, wenn er zunächst verloren wird, daran erinnert uns Bong in diesem Geschichtsbuch, das sich liest wie ein Roman.
Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit. Die deutsche Revolution 1848/1849. KiWi, 560 Seiten, 29 Euro.
Träumen: Seine Chansons sind wie Filme, nur kürzer. Vincent Delerm, Sohn des minimalistischen Schriftstellers Philippe Delerm, versteht es, in eingängigen Melodien und geistreichen Texten den manchmal arg verborgenen Zauber unserer Gegenwart hervorzulocken. Am schönsten sind die Liveaufnahmen und Duette, man hat auf jeden Fall danach eine von feiner Melancholie durchzogene, sehr erwachsene aber unabweisbar euphorische gute Laune.
Vincent Delerm: Comme une histoire/Sans paroles, Tôt ou tard, 18,99 Euro (Vinyl) und 29,99 (Buch und CD).
Marie Schmidt
Verstehen: Taugt Sigmund Freud als Autor von Kalendersprüchen? Kann man über einem Freud-Zitat einen Tag meditieren, wie über einem Zen-Mantra? Sollte man es? Wer liest überhaupt heute noch den Patriarchen der Psychoanalyse? Das Register der Autoren, die für den Band „365 x Freud“ über Sätze seiner Lehre geschrieben haben, lässt nur den Schluss zu: Das Who is Who der intellektuellen Gegenwart liest Freud. Von Geisteswissenschaftlerinnen, Verlegern, Schriftstellerinnen, Journalisten, Kritikerinnen, Soziologen und auch Psychoanalytikern haben die Herausgeber Kommentare eingeholt, 365 glänzende Exemplare eines Genres, von dem man nicht genug bekommen kann: dem psychoanalytischen Mini-Essay.
Tobias Nolte, Kai Rugenstein (Hrsg.): 365xFreud. Eine Lesebuch für jeden Tag. Klett-Cotta, 399 Seiten, 28 Euro.
Träumen: In diesem Sommer ist die portugiesische Malerin Paula Rego gestorben, während auf der Biennale in Venedig ihre Bilder hingen und wie Klassiker der Kunst wirkten, die dort zu sehen war. Aus dem weiblichen Unterbewussten und der Idee, dass alle Spezies, Fantasiegestalten und technischen Wesenheiten auf der Welt wie Verwandte zusammenleben sollten, schienen die Arbeiten der Biennalekünstlerinnen zu kommen. In Paula Regos Malerei wird Traum und Albtraum dieser Lebensform wahr. Und auch in ihren Illustrationen zu Kindergedichten. Kinder fürchten sich davor bezeichnenderweise nicht so wie Erwachsene.
Paula Rego: Nursery Rhymes. Thames & Hudson, 72 Seiten, 17,99 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
David Steinitz
Verstehen: Während der Coronaisolation noch mal verschlungen: Das berührende Interviewbuch „Hat es Spaß gemacht, Mr. Wilder?“, das der Regisseur und Oscarpreisträger Cameron Crowe mit dem Regisseur und Oscarpreisträger Billy Wilder gemacht hat, wenige Jahre vor dessen Tod. Wilder erzählt von seiner Kindheit in Wien, seinem Besuch bei Sigmund Freud, seiner Auswanderung und seinem Aufstieg zum König der Hollywoodkomödie. Ein ehrliches, stets komisches Buch über Identitätssuche und Selbstzweifel, aber auch über Glück, Liebe und die Geheimnisse der letzten Bastion, die zwischen uns und dem Wahnsinn steht: des Humors.
Cameron Crowe: Hat es Spaß gemacht, Mr. Wilder? Kampa Verlag, 496 Seiten, 26 Euro.
Träumen: Wärmer als in diesem Film hat die kalifornische Sonne wohl nie geschienen. „Licorice Pizza“ ist eine wilde Gauner- und Liebesgeschichte aus dem Los Angeles der Siebziger, frei nach den schönsten Erinnerungen (und natürlich auch Erfindungen) des Regisseurs Paul Thomas Anderson. Der war lange vor allem für düsteres Kino bekannt („There Will Be Blood“). Mit dieser Komödie über einen Highschool-Schüler, der sich in ein älteres Mädchen verliebt und mit ihr ein obskures Geschäft für Wasserbetten hochzieht, beweist er auch sein komisches Talent.
Licorice Pizza, Universal Pictures, DVD ab 7,99 Euro.
Sonja Zekri
Verstehen: Alles da auf diesen Bildern, Museumsinsel, „Clärchens Ballhaus“, Brandenburger Tor. Aber wie? Menschenleer, mit krassen Schwarzweiß-Kontrasten oder in fahles Morgenlicht gegossen, so hat Günter Steffen in den Achtzigern Ostberlin fotografiert. Eine vielleicht tote, vielleicht nie zum Leben erwachte Stadt, rätselhaft, schauderhaft, zauberhaft. In dem Bildband „Die Hauptstadt“ wechseln sich seine Berlin-Fotos mit Romanfragmenten aus Jewgenij Samjatins grandioser sowjetischer Dystopie „Wir“ ab. Freiheit als Verbrechen, Fantasie als Hindernis zum Glück – war Unmenschlichkeit je so schön?
Günter Steffen: Die Hauptstadt. Ost-Berlin in den Achtzigern. Hartmann Projects, 160 Seiten, 38 Euro.
Träumen: Europa ist schuld. Die verfluchte EU mit ihren offenen Grenzen hat Heniek die Frau ausgespannt. Beatka arbeitet jetzt in Holland, weit weg vom polnischen Gajerudki, wo Heniek seit gefühlt schon immer Autos repariert und nach Beatkas Abreise nicht weiterweiß. Andrzej aber weiß es, und so brechen die beiden Freunde auf, um sie zurückzuholen – zwei abgebrannte polnische Provinzler, mit Vorurteilen über „den Westen“ im Kopf und Speiseöl im Tank des alten Mercedes. Das kann nicht gut gehen. Tut es auch nicht, denn jedes Roadmovie ist nur so gut wie die Leiden der Protagonisten. Der Wisent“ ist eine witzige, rührende Heldenreise, „Tschick“ für Erwachsene.
Konrad Bogusław Bach: Der Wisent. Blessing Verlag, 432 Seiten, 24 Euro.
Andrian Kreye
Verstehen: Was die Maschinen mit dem Kopf machen, ist den Menschen ein unheimliches Rätsel. Der Soziologe Gérald Bronner hat ein paar Antworten auf die vielen Fragen gefunden. Seit 12 000 Jahren schon räumt der Mensch sein Hirn für die Gedanken frei, erzählt er. So entstand so etwas wie ein kognitiver Überschuss. Die digitalen Medien aber fressen dieses Plus an Hirnleistung wieder auf. Wie die Menschen damit umgehen könnten, hat Bronner so spannend und schlüssig aufgeschrieben, dass aus dem Theoriebuch ein Thriller wird, der im eigenen Hirn spielt. Gérald Bronner: Kognitive Apokalypse. C.H. Beck, 285 Seiten. 24 Euro. Träumen: Klavierkonzerte sind eine der intimsten Formen der Musik. Egal ob Alfred Brendel, Keith Jarrett oder Chilly Gonzales, die Meister ihres Fachs kommen ihren Zuhörern so nah wie nur wenige. Abdullah Ibrahim, der seine Laufbahn in Südafrika als Dollar Brand begann, ist einer der ganz großen Solopianisten. Inzwischen ist er 88 Jahre alt und lebt im Chiemgau. Dort gibt er alljährlich an seinem Geburtstag ein Solokonzert im Gasthaus Hirzinger in Riedering. Im Jahr 2020 durfte wegen dem Virus kein Publikum kommen. Also nahm er sein Konzert alleine für das Album „Solotude“ auf. Was er da im Gedankenfluss spielt, ist nichts weniger als die Verdichtung eines der großartigsten Gesamtwerke in der Geschichte des Jazz auf eine Dreiviertelstunde. Abdullah Ibrahim: Solotude. Gearbox, CD um die 15, LP um die 25 Euro.
Tanja Rest
Verstehen: Es gibt das Dorf Kosawa in Westafrika nicht wirklich, aber die Erzählung, die Imbolo Mbue dort spielen lässt, ist universell: Profit gegen Menschenrechte. Ein Ölkonzern hat sich in der Nähe des Dorfes angesiedelt, wo die Menschen seit Generationen in Einklang mit der Natur leben, er hat ihnen Wohlstand und Bildung versprochen. Nun vergiften lecke Pipelines Boden und Trinkwasser, Kinder erkranken, die Behörden schauen weg. Wie die Familien von Kosawa versuchen, sich gegen diese Übermacht zu wehren, wird hier mit einem Chor von Stimmen erzählt – als Geschichte eines nahezu aussichtslosen Kampfes und als unvergessliches Porträt derer, die ihn führen – warm, zärtlich und unendlich traurig.
Imbolo Mbue: Wie schön wir waren. KiWi, 448 Seiten, 23 Euro.
Träumen: Im März 2021 landet eine Boeing nach einem Wirbelsturm in New York. An Bord: ein erfolgloser Schriftsteller, ein Auftragskiller, ein alternder Architekt mit junger Geliebter, ein nigerianischer Popsänger. Ihr Leben geht weiter. Drei Monate später landet dieselbe Boeing mit denselben Menschen erneut in New York. Es gibt sie jetzt also doppelt, nur fehlen den später Angekommenen drei Monate ihres Lebens. Und nun? Was sagen Wissenschaft, Weltreligionen, Staaten zu dieser Anomalie? Ein herrliches Buch voller Komik, Suspense und existenziellen Fragen. Demnächst todsicher bei Netflix.
Hervé Le Tellier: Die Anomalie. Rowohlt, 352 Seiten, 13 Euro.
Hilmar Klute
Verstehen: Es ist nichts Neues, dass die Geschichte der Menschheit mit Nachteilen für jene Naturformen einhergeht, die ihr nicht angehören. Wie unerbittlich das Sterben ganzer Großtierarten und Pflanzen mit der wirtschaftlichen Expansion einhergeht, beschreibt Ashley Dawson im Essay „Aussterben“. An Beispielen erklärt er, wie bereits die kapitalistischen „Erschließungsgesellschaften“ der frühen Neuzeit mit ihren Urbarmachungsplänen die Saat für die Verödung streuten. Mag sein, dass Dawsons Aktivisten-Zorn auf den Kapitalismus ein bisschen übersteuert daherkommt. Andererseits zeigt unsere Wirklichkeit ja, was uns blüht, wenn Natur zur Marktware gemacht wird.
Ashley Dawson: Aussterben. Eine radikale Geschichte. Padmos Kunstverlag, 144 Seiten, 19.90 Euro.
Träumen: Wie lebe ich richtig und was benötige ich dazu? Diese Frage stellt sich jeder, der einigermaßen bei Verstand und bei sich ist. John von Düffel hat daraus ein reizendes Buch gemacht, das aus lauter Meditationen darüber besteht, was einen guten Asketen vom Entsagungsnarren unterscheidet. „Der Asket der Zukunft ist kein Asket der Kunst“, schreibt von Düffel und das ist schon einmal schön. Diese glasklaren lyrischen Notizen sind in Italien entstanden, wo man Frische, Wärme und Klarheit von Natur aus zur Verfügung hat – eine Dosis Spiritualität in reiner Form, ohne Esoterik, nur mit fühlendem Verstand hergestellt.
John von Düffel: Das Wenige und das Wesentliche. Ein Stundenbuch. Dumont, 106 Seiten, 23 Euro.
Peter Richter
Verstehen: Der Krieg hatte noch nicht begonnen, als eines der interessantesten Architekturbücher des Jahres geschrieben wurde. Es erzählt von einem Ukrainer aus Odessa, der zum Baumeister des Moskauer Imperialismus werden sollte: Boris Iofan, „Stalins Architekt“. Er überlebte, als die sowjetische Avantgarde um ihn herum liquidiert wurde, er war derjenige, der den klassizistischen Stil der Stalinzeit designte. Gleichzeitig war er eng mit Frank Lloyd Wright. Deyan Sudjic hat nun seine Biografie vorgelegt, bisher nur auf Englisch. Dafür spektakulär bebildert.
Deyan Sudjic: Stalin’s Architect. Power and Survival in Moscow. Thames and Hudson, 319 Seiten, ab 25 Euro.
Träumen: Der Münchner Kunsthändler Franz Dahlem erzählt mit seinem Insiderwissen, mit wüster Meinungsfreudigkeit und seidiger Angeberattitüde sehr heiter von früher, und die junge Kunsthistorikerin Franziska Leuthäußer stellt zwischendurch Fragen – mal aus der Perspektive der Nachgeborenen, dann wieder eher im Tonfall einer ironisch-verständnisvollen Pflegerin: Was als Oral-History-Projekt zur frühen bundesdeutschen Kunstszene begann, ist ein astreines Zwischending aus Sachbuch und Schelmenroman geworden. Die Frage ist immer, ob Dahlem am unterhaltsamsten ist, wenn er erzählt, wie es wirklich war, oder am glaubwürdigsten, wenn er auf den Pudding haut.
Franz Dahlem: Am liebsten würde ich Marilyn Monroe sein. Schirmer Mosel, 222 Seiten, 34 Euro.
Christine Dössel
Verstehen: Das Theater kann und muss die Welt nicht erklären, aber sie verstehen – und manchmal sogar: sie verändern – helfen, das kann es schon. Der soeben erschienene dritte Band von Günther Rühles groß angelegtem Werk „Theater in Deutschland“ erzählt davon. Beginnend mit dem Jahr 1967, in der Zeit der Revolten, und endend 1995, als Heiner Müller starb, beschreibt Rühle diese Zeit des Auf- und Umbruchs, der Skandale und Debatten so anschaulich wie kenntnisreich. Als FAZ-Kritiker und Frankfurter Intendant war der 2021 gestorbene Rühle nicht nur Zeitzeuge, sondern auch Mitgestalter jener Theaterjahre. Ein wertvolles Buch. Rühles Hinterlassenschaft.
Günther Rühle: Theater in Deutschland 1967-1995, Fischer, 794 Seiten, 98 Euro.
Träumen: Statt waldbaden zu gehen, was im Winter nicht so kommod ist, kann man sich das grüne Gefühl auch ins Haus holen: mit einer „Zwitscherbox“, aus der natürliches, gar nicht nerviges Vogelgezwitscher erklingt. Zum Abschalten, Entspannen und etwaigen Mitpfeifen, als sei man auf einer sonnigen Waldlichtung. Man aktiviert die Box wie einen Bewegungsmelder im Vorbeigehen. Nach zwei Minuten gibt sie wieder Ruhe. Auch das unterscheidet sie erfreulich von Twitter. Gestaltet in kleiner Häuschenform gibt es die batteriebetriebene Box in den unterschiedlichsten Designs, zum Beispiel aus Eichenholz. Aufgehängt etwa im Bad, bezwitschert sie das stille Örtchen. Es ist als Kompliment aufzufassen, wenn Gäste sagen: „Bei dir piepst’s.“
Zwitscherbox“, über www.relaxound.com, Modelle für 49 und 59 Euro.
Susan Vahabzadeh
Verstehen: Was ist uns nur passiert – wie konnte aus einem ungeheuer langen Frieden, aus Mauerfall und Idealen das entstehen, womit wir uns heute herumschlagen – Brexit, entfesselter Kapitalismus, Krieg in Europa? Ian McEwan versucht sich in „Lektionen“ an einer Geschichte, für die er sich viel aus dem eigenen Leben geborgt hat. Sie läuft an den großen Linien der letzten Jahrzehnte entlang, quer durch das Leben des Helden Roland, der immer versucht, auf der richtigen Seite zu stehen. Auch, wenn es manchmal beim Lesen wehtut: Dranbleiben.
Ian McEwan: Lektionen. Diogenes, 720 Seiten, 32 Euro.
Träumen: Penelope Cruz als überehrgeizige Regisseurin, Oscar Martínez als prätentiöser Theaterschauspieler und Antonio Banderas als Superstar, bei dem man nie weiß, ob er hinterhältig ist oder ein bisschen doof, machen zusammen einen Film. Klar: Es wird „Der beste Film aller Zeiten“. Wenn das Kino Nabelschau betreibt, spielt das in einem Paralleluniversum, in das ernstzunehmende Sorgen selten hineinfinden. Aber: Das ist zum Schreien komisch.
Der beste Film aller Zeiten, Arthaus/Studiocanal, DVD ab 12,99 Euro.
Tobias Kniebe
Verstehen: Zu seinem 80. Geburtstag hatte er wieder schmerzbefreite Großmaul-Auftritte, dieses Buch ist zum Glück aber anders. Denn Geltungssucht hat den Filmemacher Werner Herzog („Grizzly Man“, „Fitzcarraldo“) dann doch nicht in den Dschungel und ins ewige Eis getrieben – es war seine Neugier auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest. Sie reicht vom tollwütigen Pensionsnachbarn (Klaus Kinski) bis zu fernsten kosmischen Phänomenen, und er kann wunderbar davon erzählen. Allein mit den Urviechern aus seiner bitterarmen Kriegskind-Jugend in Sachrang, denen er hier ein Denkmal setzt, könnte man einen beinhart realistischen und doch vollkommen unsentimentalen Heimatroman bevölkern.
Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen. Hanser, 352 Seiten, 28 Euro.
Träumen: Wenn man in einem Film aus Georgien den Krieg des aggressiven Nachbarn Russland für zweieinhalb Stunden vergessen kann, muss er märchenhaft sein. Und das ist die Geschichte von Lisa und Giorgi: Nach einer Zufallsbegegnung sind sie füreinander bestimmt, wachen aber durch einen Fluch in neuen Körpern auf, erkennen sich nicht mehr. Diese Wirrungen spielen in Kutaissi, wo der Kaukasus sanft ausläuft, aber der mächtige Fluss Rioni noch die Wildwasserwucht des Gebirges mitbringt. Alexandre Koberidze lässt seine Kamera so träumerisch durch die helle Stadt schweifen, dass man am Ende selbst ganz verliebt ist.
Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?. 375 Media, DVD ab 16,99 Euro.
Nils Minkmar
Verstehen: In diesem Buch geht es zu den Wurzeln unserer Republik und der langen Geschichte unserer demokratischen Ordnung. Die meisten dürften die Revolution von 1848 als eine Geschichte des Scheiterns abgespeichert haben, aber hier wird noch einmal das ganze Drama mit allen Möglichkeiten so entfaltet, dass man meint, dabei zu sein. Bong erinnert so an eine ganze Gruppe von Demokratinnen und Demokraten, die schon lange vor ihren Zeitgenossen verstanden haben, wohin die Reise der Geschichte gehen sollte. Dass ein solcher Kampf auch dann siegreich ist, wenn er zunächst verloren wird, daran erinnert uns Bong in diesem Geschichtsbuch, das sich liest wie ein Roman.
Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit. Die deutsche Revolution 1848/1849. KiWi, 560 Seiten, 29 Euro.
Träumen: Seine Chansons sind wie Filme, nur kürzer. Vincent Delerm, Sohn des minimalistischen Schriftstellers Philippe Delerm, versteht es, in eingängigen Melodien und geistreichen Texten den manchmal arg verborgenen Zauber unserer Gegenwart hervorzulocken. Am schönsten sind die Liveaufnahmen und Duette, man hat auf jeden Fall danach eine von feiner Melancholie durchzogene, sehr erwachsene aber unabweisbar euphorische gute Laune.
Vincent Delerm: Comme une histoire/Sans paroles, Tôt ou tard, 18,99 Euro (Vinyl) und 29,99 (Buch und CD).
Marie Schmidt
Verstehen: Taugt Sigmund Freud als Autor von Kalendersprüchen? Kann man über einem Freud-Zitat einen Tag meditieren, wie über einem Zen-Mantra? Sollte man es? Wer liest überhaupt heute noch den Patriarchen der Psychoanalyse? Das Register der Autoren, die für den Band „365 x Freud“ über Sätze seiner Lehre geschrieben haben, lässt nur den Schluss zu: Das Who is Who der intellektuellen Gegenwart liest Freud. Von Geisteswissenschaftlerinnen, Verlegern, Schriftstellerinnen, Journalisten, Kritikerinnen, Soziologen und auch Psychoanalytikern haben die Herausgeber Kommentare eingeholt, 365 glänzende Exemplare eines Genres, von dem man nicht genug bekommen kann: dem psychoanalytischen Mini-Essay.
Tobias Nolte, Kai Rugenstein (Hrsg.): 365xFreud. Eine Lesebuch für jeden Tag. Klett-Cotta, 399 Seiten, 28 Euro.
Träumen: In diesem Sommer ist die portugiesische Malerin Paula Rego gestorben, während auf der Biennale in Venedig ihre Bilder hingen und wie Klassiker der Kunst wirkten, die dort zu sehen war. Aus dem weiblichen Unterbewussten und der Idee, dass alle Spezies, Fantasiegestalten und technischen Wesenheiten auf der Welt wie Verwandte zusammenleben sollten, schienen die Arbeiten der Biennalekünstlerinnen zu kommen. In Paula Regos Malerei wird Traum und Albtraum dieser Lebensform wahr. Und auch in ihren Illustrationen zu Kindergedichten. Kinder fürchten sich davor bezeichnenderweise nicht so wie Erwachsene.
Paula Rego: Nursery Rhymes. Thames & Hudson, 72 Seiten, 17,99 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2021Doppelspiel mit einem Flugzeug
Hervé Le Telliers goncourtgekrönter Roman "Die Anomalie" ist jetzt auf Deutsch zu haben
Des einen Freud, des anderen Leid. Für Leser ist Hervé Le Telliers "Die Anomalie" ein Vergnügen im weitesten Wortsinn. Spannung, Emotion, Parodie, intellektuelles Spiel, philosophische Herausforderung, abgründigen Existenzhumor, kalauernden Slapstick und schieres Lebensglück - das alles bietet er auf einmal. Kein Wunder, dass der Roman 2020 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Für den Rezensenten hingegen ist diese literarische Anomalie ein Worst-Case-Szenario: Wie soll man die Gründe erklären, aus denen man als Leser grandios auf seine Kosten gekommen ist, wenn es so unendlich viele sind? Alles hat seinen Preis, zahlen wir unseren.
"Die Anomalie" erzählt eine völlig unwahrscheinliche Geschichte auf absolut glaubwürdige Weise: Der Flug Air France 006 Paris-New York gerät am 10. März 2021 in eine Unwetterfront, einen Kumulonimbus, eine "graue, opake, an ihrem oberen Rand im gleißenden Sonnenlicht irisierende Wand". Die Boeing 787 fällt in ein Luftloch, wird mit Hagelkörnern bombardiert und so heftig durchgeschüttelt, dass mancher Passagier seine Seele empfiehlt. Als sie zur Landung ansetzen will, gibt es ein weiteres Problem: Es ist mittlerweile der 24. Juni, und sie ist bereits gelandet, mit identischer Besatzung, 243 an der Zahl, nämlich eben am 10. März. Im Sturm hat sich die Maschine verdoppelt, um "16 Uhr 26 Minuten 34 Sekunden und 20 Hundertstel", wie anhand der Bordkameras rekonstruiert werden kann; das Doppel taucht allerdings mit drei Monaten Verspätung auf. Nebenbei sei angemerkt, dass das Datum zum Zeitpunkt des Erscheinens der Originalausgabe (Herbst 2020) in der Zukunft lag.
Was tun? Das FBI löst Protokoll 42 aus. "Der Dialog zwischen Adrian Miller und Riccardo Bertoni - er steht auf der Shortlist des Physik-Nobelpreises 2021 für seine Arbeiten über die schwarze Materie - gibt ein Resümee der Lage: - Sie verarschen uns, Professor Miller? - Wenn es doch so wäre." Wissenschaftler, Psychologen, Religionsvertreter, eine Infanteriebrigade und jede Menge Agenten werden in Bewegung gesetzt, die die Maschine auf der McGuire Air Force Base, Trenton, New Jersey, in Empfang nehmen. Wie die Verdoppelung erklären? Liegt "ein Lorentz-Wurmloch mit negativer Masse" vor, handelt es sich um eine 3D-Kopie, oder ist das Doppel vielmehr Beleg dafür, dass die Realität generell eine Simulation ist? Wer sind die Doppel, und was mit ihnen tun?
Was nur ein Gedankenexperiment sein könnte, nimmt unsere Fantasie als aberwitzige Situation gefangen. Das liegt an Le Telliers erzählerischem Geschick: Im ersten der drei Teile seines Romans folgt er diversen Passagieren und dem Piloten des Fluges AF 006, die im März 2021 in New York gelandet waren. Der Flug ist lediglich eine beiläufige Erinnerung in mehr oder weniger normalen Leben, bevor die Anomalie auftritt. Teil zwei beschreibt die Situation auf der US-Luftwaffenbasis, die wissenschaftlichen und theologischen Erklärungsversuche sowie die verzweifelten Anläufe der Politik, der Lage Herr zu werden; schließlich erfährt die Öffentlichkeit davon. Teil drei schildert die Begegnung der Menschen mit ihrem Doppel und die höchst variablen Lösungsversuche.
Mit psychologischer Dichte und ironischer Leichtigkeit entwirft Le Tellier zehn Leben, in denen die Anomalie handfeste Form annimmt: Da wären der Profikiller Blake, der ein Doppelleben in der Gastronomie führt; der depressive Schriftsteller Victor Miesel, der nach dem Flug ein letztes Buch mit dem Titel "Die Anomalie" schreibt, Selbstmord begeht und postum Erfolg hat; die Filmcutterin und alleinerziehende Mutter Lucie Bogaert; der mit ihr liierte schmerzreich alternde Stararchitekt André Vannier; der Pilot David Markle, der nach der Landung todkrank darniederliegt; das von ihrem Vater missbrauchte Mädchen Sophia Kleffman; die schwarze Anwältin Joanna Woods, die für die Pharmaindustrie arbeitet; der nigerianische Sänger Slimboy, der seine Homosexualität verbergen muss. Schließlich Adrian Miller, der Wahrscheinlichkeitstheoretiker, der das Protokoll für die Anomalie entworfen hatte, sowie sein Date, die Topologikerin Meredith Harper.
Miller und Miesel stechen heraus: Es sind die schrägsten und berührendsten Figuren. Ferner treten noch auf: Donald Trump, Emmanuel Macron (der "arrogante Sack", dixit Trump), Xi Jinping, einige Topwissenschaftler und zahlreiche Geheimdienstler.
Le Tellier zieht viele Register, seien es Genres oder mehr oder weniger versteckte Bezüge. Wenige Beispiele müssen es tun: Mit dem Killer Blake serviert er einen Krimi, mit dem homosexuellen Sänger Slimboy eine Coming-out-Geschichte; Adrian und Meredith sind von Nerd-Comedys à la "The Big Bang Theory" inspiriert - Meredith artikuliert angeschickert denkwürdige Sätze des Kalibers "Ich bin Britin, Adrian, ich warne Sie, falls Sie versuchen sollten, mich zu vergewaltigen, lasse ich es geschehen und werde dabei an die Queen denken". Adrians Vorlieben verdankt sich eine Hommage an Douglas Adams' "Per Anhalter durch die Galaxis". Durch Miesel wird "Die Anomalie" zum Schriftstellerroman, durch sein gleichnamiges Werk zur Mise en abyme, zur Spiegelung des Ganzen in einem Motiv, wenngleich auf komplexere Weise, als es zunächst scheint.
Einerseits erzählt "Die Anomalie" eine spannende Geschichte, die viele Teilgeschichten verschmilzt. Andererseits stellt sie eine große Frage: Was, wenn die Realität nur eine Simulation in einem Programm wäre? Diese an Jean Baudrillard erinnernde Hypothese ist die plausibelste Erklärung für die Ereignisse. Was die zentrale Stellung sowohl des Wahrscheinlichkeitstheoretikers als auch des Schriftstellers erklärt: Beide sind Simulationsexperten. Und beides wird denkbar: Dass es um die Fiktionalität von Literatur geht - oder um die der Realität.
Hier kommt Le Telliers literarische Zugehörigkeit ins Spiel: Der 1957 geborene Romancier und Journalist ist seit 1992 Mitglied des Oulipo ("Ouvroir de Littérature Potentielle" - Nähstube potentieller Literatur), einer 1960 von Raymond Queneau und François Le Lionnais gegründeten Gruppierung, die bis heute aktiv ist (www.oulipo.net). Die Spätavantgardisten stacheln ihre Einbildungskraft mit der "contrainte" an, dem gewählten Hindernis, versöhnen Literatur und Mathematik, Poesie und Kombinatorik, Humor und Komplexität. Ein beliebter Ableger war die Radiosendung "Des Papous dans la tête" auf France Culture (1984 bis 2018), deren Teilnehmer sich in geistreichen literarischen Spielen übten; Le Tellier war Stammgast.
Er hat sich nicht nur durch sein (abgebrochenes) Mathematikstudium und eine linguistische Promotion oulipotisch qualifiziert, sein umfangreiches Werk ist ein Laboratorium mit verschiedensten Versuchsanordnungen, von Kofferworten bis zu Miniaturnovellen eines fiktiven portugiesischen Autors, von hundert Variationen auf die Mona Lisa bis zu "Tausend Antworten auf die Frage: Woran denkst Du?". Mehr noch, er hat eine "Ästhetik des Oulipo" verfasst und erweist in "Die Anomalie" dem Ahnherrn Alfred Jarry (in dessen Pataphysik Oulipo wurzelt) mittels einer urkomischen Szene die Ehre, durch ein "zitronengelbes Kleid mit den goldenen Kringeln" nämlich, "die an den Spiralbauch des alten Ubu erinnern", ein wahrhaft "pataphysisches Gewand" - nur dass die französische Konsulin es auf einem Empfang trägt und das Kompliment vom beschwipsten italienischen Konsul kommt. Auch die Oulipiens Italo Calvino und Georges Perec werden gewürdigt; Perecs Roman "Ulcérations" erscheint im finalen Kalligramm (in der deutschen Fassung als "wucherunge").
Vor allem aber ist der Roman selbst ein Experiment und wimmelt von kleineren Spielen und - nun ja - Anomalien. Etwa die Zahl der Passagiere: 243, minus den Killer Blake, eine eliminierte Abweichung, sodass es symmetrische 242 sind - los geht die Spekulation! Die Lesbarkeit auf mehreren Ebenen, die an Umberto Eco erinnert, die Kombination aus schwarzem Humor, Gedankenspiel-Kitzel und emotionaler Dichte machen aus Le Tellier einen Autor, den man spätestens jetzt entdecken sollte. Hoffen wir, dass es ihm nicht wie Miesel geht: "Allein schon der Erfolg mit fünfzig Jahren, das ist wie Senf, der zum Nachtisch kommt." NIKLAS BENDER
Hervé Le Tellier: "Die Anomalie". Roman.
Aus dem Französischen von Romy Ritte und Jürgen Ritte. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 350 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hervé Le Telliers goncourtgekrönter Roman "Die Anomalie" ist jetzt auf Deutsch zu haben
Des einen Freud, des anderen Leid. Für Leser ist Hervé Le Telliers "Die Anomalie" ein Vergnügen im weitesten Wortsinn. Spannung, Emotion, Parodie, intellektuelles Spiel, philosophische Herausforderung, abgründigen Existenzhumor, kalauernden Slapstick und schieres Lebensglück - das alles bietet er auf einmal. Kein Wunder, dass der Roman 2020 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Für den Rezensenten hingegen ist diese literarische Anomalie ein Worst-Case-Szenario: Wie soll man die Gründe erklären, aus denen man als Leser grandios auf seine Kosten gekommen ist, wenn es so unendlich viele sind? Alles hat seinen Preis, zahlen wir unseren.
"Die Anomalie" erzählt eine völlig unwahrscheinliche Geschichte auf absolut glaubwürdige Weise: Der Flug Air France 006 Paris-New York gerät am 10. März 2021 in eine Unwetterfront, einen Kumulonimbus, eine "graue, opake, an ihrem oberen Rand im gleißenden Sonnenlicht irisierende Wand". Die Boeing 787 fällt in ein Luftloch, wird mit Hagelkörnern bombardiert und so heftig durchgeschüttelt, dass mancher Passagier seine Seele empfiehlt. Als sie zur Landung ansetzen will, gibt es ein weiteres Problem: Es ist mittlerweile der 24. Juni, und sie ist bereits gelandet, mit identischer Besatzung, 243 an der Zahl, nämlich eben am 10. März. Im Sturm hat sich die Maschine verdoppelt, um "16 Uhr 26 Minuten 34 Sekunden und 20 Hundertstel", wie anhand der Bordkameras rekonstruiert werden kann; das Doppel taucht allerdings mit drei Monaten Verspätung auf. Nebenbei sei angemerkt, dass das Datum zum Zeitpunkt des Erscheinens der Originalausgabe (Herbst 2020) in der Zukunft lag.
Was tun? Das FBI löst Protokoll 42 aus. "Der Dialog zwischen Adrian Miller und Riccardo Bertoni - er steht auf der Shortlist des Physik-Nobelpreises 2021 für seine Arbeiten über die schwarze Materie - gibt ein Resümee der Lage: - Sie verarschen uns, Professor Miller? - Wenn es doch so wäre." Wissenschaftler, Psychologen, Religionsvertreter, eine Infanteriebrigade und jede Menge Agenten werden in Bewegung gesetzt, die die Maschine auf der McGuire Air Force Base, Trenton, New Jersey, in Empfang nehmen. Wie die Verdoppelung erklären? Liegt "ein Lorentz-Wurmloch mit negativer Masse" vor, handelt es sich um eine 3D-Kopie, oder ist das Doppel vielmehr Beleg dafür, dass die Realität generell eine Simulation ist? Wer sind die Doppel, und was mit ihnen tun?
Was nur ein Gedankenexperiment sein könnte, nimmt unsere Fantasie als aberwitzige Situation gefangen. Das liegt an Le Telliers erzählerischem Geschick: Im ersten der drei Teile seines Romans folgt er diversen Passagieren und dem Piloten des Fluges AF 006, die im März 2021 in New York gelandet waren. Der Flug ist lediglich eine beiläufige Erinnerung in mehr oder weniger normalen Leben, bevor die Anomalie auftritt. Teil zwei beschreibt die Situation auf der US-Luftwaffenbasis, die wissenschaftlichen und theologischen Erklärungsversuche sowie die verzweifelten Anläufe der Politik, der Lage Herr zu werden; schließlich erfährt die Öffentlichkeit davon. Teil drei schildert die Begegnung der Menschen mit ihrem Doppel und die höchst variablen Lösungsversuche.
Mit psychologischer Dichte und ironischer Leichtigkeit entwirft Le Tellier zehn Leben, in denen die Anomalie handfeste Form annimmt: Da wären der Profikiller Blake, der ein Doppelleben in der Gastronomie führt; der depressive Schriftsteller Victor Miesel, der nach dem Flug ein letztes Buch mit dem Titel "Die Anomalie" schreibt, Selbstmord begeht und postum Erfolg hat; die Filmcutterin und alleinerziehende Mutter Lucie Bogaert; der mit ihr liierte schmerzreich alternde Stararchitekt André Vannier; der Pilot David Markle, der nach der Landung todkrank darniederliegt; das von ihrem Vater missbrauchte Mädchen Sophia Kleffman; die schwarze Anwältin Joanna Woods, die für die Pharmaindustrie arbeitet; der nigerianische Sänger Slimboy, der seine Homosexualität verbergen muss. Schließlich Adrian Miller, der Wahrscheinlichkeitstheoretiker, der das Protokoll für die Anomalie entworfen hatte, sowie sein Date, die Topologikerin Meredith Harper.
Miller und Miesel stechen heraus: Es sind die schrägsten und berührendsten Figuren. Ferner treten noch auf: Donald Trump, Emmanuel Macron (der "arrogante Sack", dixit Trump), Xi Jinping, einige Topwissenschaftler und zahlreiche Geheimdienstler.
Le Tellier zieht viele Register, seien es Genres oder mehr oder weniger versteckte Bezüge. Wenige Beispiele müssen es tun: Mit dem Killer Blake serviert er einen Krimi, mit dem homosexuellen Sänger Slimboy eine Coming-out-Geschichte; Adrian und Meredith sind von Nerd-Comedys à la "The Big Bang Theory" inspiriert - Meredith artikuliert angeschickert denkwürdige Sätze des Kalibers "Ich bin Britin, Adrian, ich warne Sie, falls Sie versuchen sollten, mich zu vergewaltigen, lasse ich es geschehen und werde dabei an die Queen denken". Adrians Vorlieben verdankt sich eine Hommage an Douglas Adams' "Per Anhalter durch die Galaxis". Durch Miesel wird "Die Anomalie" zum Schriftstellerroman, durch sein gleichnamiges Werk zur Mise en abyme, zur Spiegelung des Ganzen in einem Motiv, wenngleich auf komplexere Weise, als es zunächst scheint.
Einerseits erzählt "Die Anomalie" eine spannende Geschichte, die viele Teilgeschichten verschmilzt. Andererseits stellt sie eine große Frage: Was, wenn die Realität nur eine Simulation in einem Programm wäre? Diese an Jean Baudrillard erinnernde Hypothese ist die plausibelste Erklärung für die Ereignisse. Was die zentrale Stellung sowohl des Wahrscheinlichkeitstheoretikers als auch des Schriftstellers erklärt: Beide sind Simulationsexperten. Und beides wird denkbar: Dass es um die Fiktionalität von Literatur geht - oder um die der Realität.
Hier kommt Le Telliers literarische Zugehörigkeit ins Spiel: Der 1957 geborene Romancier und Journalist ist seit 1992 Mitglied des Oulipo ("Ouvroir de Littérature Potentielle" - Nähstube potentieller Literatur), einer 1960 von Raymond Queneau und François Le Lionnais gegründeten Gruppierung, die bis heute aktiv ist (www.oulipo.net). Die Spätavantgardisten stacheln ihre Einbildungskraft mit der "contrainte" an, dem gewählten Hindernis, versöhnen Literatur und Mathematik, Poesie und Kombinatorik, Humor und Komplexität. Ein beliebter Ableger war die Radiosendung "Des Papous dans la tête" auf France Culture (1984 bis 2018), deren Teilnehmer sich in geistreichen literarischen Spielen übten; Le Tellier war Stammgast.
Er hat sich nicht nur durch sein (abgebrochenes) Mathematikstudium und eine linguistische Promotion oulipotisch qualifiziert, sein umfangreiches Werk ist ein Laboratorium mit verschiedensten Versuchsanordnungen, von Kofferworten bis zu Miniaturnovellen eines fiktiven portugiesischen Autors, von hundert Variationen auf die Mona Lisa bis zu "Tausend Antworten auf die Frage: Woran denkst Du?". Mehr noch, er hat eine "Ästhetik des Oulipo" verfasst und erweist in "Die Anomalie" dem Ahnherrn Alfred Jarry (in dessen Pataphysik Oulipo wurzelt) mittels einer urkomischen Szene die Ehre, durch ein "zitronengelbes Kleid mit den goldenen Kringeln" nämlich, "die an den Spiralbauch des alten Ubu erinnern", ein wahrhaft "pataphysisches Gewand" - nur dass die französische Konsulin es auf einem Empfang trägt und das Kompliment vom beschwipsten italienischen Konsul kommt. Auch die Oulipiens Italo Calvino und Georges Perec werden gewürdigt; Perecs Roman "Ulcérations" erscheint im finalen Kalligramm (in der deutschen Fassung als "wucherunge").
Vor allem aber ist der Roman selbst ein Experiment und wimmelt von kleineren Spielen und - nun ja - Anomalien. Etwa die Zahl der Passagiere: 243, minus den Killer Blake, eine eliminierte Abweichung, sodass es symmetrische 242 sind - los geht die Spekulation! Die Lesbarkeit auf mehreren Ebenen, die an Umberto Eco erinnert, die Kombination aus schwarzem Humor, Gedankenspiel-Kitzel und emotionaler Dichte machen aus Le Tellier einen Autor, den man spätestens jetzt entdecken sollte. Hoffen wir, dass es ihm nicht wie Miesel geht: "Allein schon der Erfolg mit fünfzig Jahren, das ist wie Senf, der zum Nachtisch kommt." NIKLAS BENDER
Hervé Le Tellier: "Die Anomalie". Roman.
Aus dem Französischen von Romy Ritte und Jürgen Ritte. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 350 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Joseph Hanimann freut vor allem, dass es Hervé Le Tellier zumindest größtenteils gelingt, seinen Roman über zwei identische Flugzeuge mit identischen Passagieren an Bord, die zu zwei unterschiedlichen Zeiten zur Landung auf New York ansetzen, nicht zur literarischen Formspielerei werden zu lassen. Der Text lässt sich spannend und unterhaltsam an, die Passagiere (vom Auftragsmörder über einen Starsänger bis zum Erfolgsautor) werden überzeugend eingeführt und entwickelt, die Reaktion von Politik und Wissenschaft auf die Duplikation der Wirklichkeit wird anhand von unterschiedlichen Modellen und unter Zuhilfenahme verschiedener literarischer Bezüge dargestellt, erläutert Hanimann. Und dann? Dann steht der Autor wie der Ochs vor seinen Dubletten und weiß nichts mit ihnen anzufangen, meint der Rezensent. Der Schluss wirkt auf Hanimann leider doch wie eine Kopfgeburt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Geschenke für den Kopf (Fortsetzung von S. 18)
David Steinitz
Verstehen: Während der Coronaisolation noch mal verschlungen: Das berührende Interviewbuch „Hat es Spaß gemacht, Mr. Wilder?“, das der Regisseur und Oscarpreisträger Cameron Crowe mit dem Regisseur und Oscarpreisträger Billy Wilder gemacht hat, wenige Jahre vor dessen Tod. Wilder erzählt von seiner Kindheit in Wien, seinem Besuch bei Sigmund Freud, seiner Auswanderung und seinem Aufstieg zum König der Hollywoodkomödie. Ein ehrliches, stets komisches Buch über Identitätssuche und Selbstzweifel, aber auch über Glück, Liebe und die Geheimnisse der letzten Bastion, die zwischen uns und dem Wahnsinn steht: des Humors.
Cameron Crowe: Hat es Spaß gemacht, Mr. Wilder? Kampa Verlag, 496 Seiten, 26 Euro.
Träumen: Wärmer als in diesem Film hat die kalifornische Sonne wohl nie geschienen. „Licorice Pizza“ ist eine wilde Gauner- und Liebesgeschichte aus dem Los Angeles der Siebziger, frei nach den schönsten Erinnerungen (und natürlich auch Erfindungen) des Regisseurs Paul Thomas Anderson. Der war lange vor allem für düsteres Kino bekannt („There Will Be Blood“). Mit dieser Komödie über einen Highschool-Schüler, der sich in ein älteres Mädchen verliebt und mit ihr ein obskures Geschäft für Wasserbetten hochzieht, beweist er auch sein komisches Talent.
Licorice Pizza, Universal Pictures, DVD ab 7,99 Euro.
Sonja Zekri
Verstehen: Alles da auf diesen Bildern, Museumsinsel, „Clärchens Ballhaus“, Brandenburger Tor. Aber wie? Menschenleer, mit krassen Schwarzweiß-Kontrasten oder in fahles Morgenlicht gegossen, so hat Günter Steffen in den Achtzigern Ostberlin fotografiert. Eine vielleicht tote, vielleicht nie zum Leben erwachte Stadt, rätselhaft, schauderhaft, zauberhaft. In dem Bildband „Die Hauptstadt“ wechseln sich seine Berlin-Fotos mit Romanfragmenten aus Jewgenij Samjatins grandioser sowjetischer Dystopie „Wir“ ab. Freiheit als Verbrechen, Fantasie als Hindernis zum Glück – war Unmenschlichkeit je so schön?
Günter Steffen: Die Hauptstadt. Ost-Berlin in den Achtzigern. Hartmann Projects, 160 Seiten, 38 Euro.
Träumen: Europa ist schuld. Die verfluchte EU mit ihren offenen Grenzen hat Heniek die Frau ausgespannt. Beatka arbeitet jetzt in Holland, weit weg vom polnischen Gajerudki, wo Heniek seit gefühlt schon immer Autos repariert und nach Beatkas Abreise nicht weiterweiß. Andrzej aber weiß es, und so brechen die beiden Freunde auf, um sie zurückzuholen – zwei abgebrannte polnische Provinzler, mit Vorurteilen über „den Westen“ im Kopf und Speiseöl im Tank des alten Mercedes. Das kann nicht gut gehen. Tut es auch nicht, denn jedes Roadmovie ist nur so gut wie die Leiden der Protagonisten. Der Wisent“ ist eine witzige, rührende Heldenreise, „Tschick“ für Erwachsene.
Konrad Bogusław Bach: Der Wisent. Blessing Verlag, 432 Seiten, 24 Euro.
Andrian Kreye
Verstehen: Was die Maschinen mit dem Kopf machen, ist den Menschen ein unheimliches Rätsel. Der Soziologe Gérald Bronner hat ein paar Antworten auf die vielen Fragen gefunden. Seit 12 000 Jahren schon räumt der Mensch sein Hirn für die Gedanken frei, erzählt er. So entstand so etwas wie ein kognitiver Überschuss. Die digitalen Medien aber fressen dieses Plus an Hirnleistung wieder auf. Wie die Menschen damit umgehen könnten, hat Bronner so spannend und schlüssig aufgeschrieben, dass aus dem Theoriebuch ein Thriller wird, der im eigenen Hirn spielt. Gérald Bronner: Kognitive Apokalypse. C.H. Beck, 285 Seiten. 24 Euro. Träumen: Klavierkonzerte sind eine der intimsten Formen der Musik. Egal ob Alfred Brendel, Keith Jarrett oder Chilly Gonzales, die Meister ihres Fachs kommen ihren Zuhörern so nah wie nur wenige. Abdullah Ibrahim, der seine Laufbahn in Südafrika als Dollar Brand begann, ist einer der ganz großen Solopianisten. Inzwischen ist er 88 Jahre alt und lebt im Chiemgau. Dort gibt er alljährlich an seinem Geburtstag ein Solokonzert im Gasthaus Hirzinger in Riedering. Im Jahr 2020 durfte wegen dem Virus kein Publikum kommen. Also nahm er sein Konzert alleine für das Album „Solotude“ auf. Was er da im Gedankenfluss spielt, ist nichts weniger als die Verdichtung eines der großartigsten Gesamtwerke in der Geschichte des Jazz auf eine Dreiviertelstunde. Abdullah Ibrahim: Solotude. Gearbox, CD um die 15, LP um die 25 Euro.
Tanja Rest
Verstehen: Es gibt das Dorf Kosawa in Westafrika nicht wirklich, aber die Erzählung, die Imbolo Mbue dort spielen lässt, ist universell: Profit gegen Menschenrechte. Ein Ölkonzern hat sich in der Nähe des Dorfes angesiedelt, wo die Menschen seit Generationen in Einklang mit der Natur leben, er hat ihnen Wohlstand und Bildung versprochen. Nun vergiften lecke Pipelines Boden und Trinkwasser, Kinder erkranken, die Behörden schauen weg. Wie die Familien von Kosawa versuchen, sich gegen diese Übermacht zu wehren, wird hier mit einem Chor von Stimmen erzählt – als Geschichte eines nahezu aussichtslosen Kampfes und als unvergessliches Porträt derer, die ihn führen – warm, zärtlich und unendlich traurig.
Imbolo Mbue: Wie schön wir waren. KiWi, 448 Seiten, 23 Euro.
Träumen: Im März 2021 landet eine Boeing nach einem Wirbelsturm in New York. An Bord: ein erfolgloser Schriftsteller, ein Auftragskiller, ein alternder Architekt mit junger Geliebter, ein nigerianischer Popsänger. Ihr Leben geht weiter. Drei Monate später landet dieselbe Boeing mit denselben Menschen erneut in New York. Es gibt sie jetzt also doppelt, nur fehlen den später Angekommenen drei Monate ihres Lebens. Und nun? Was sagen Wissenschaft, Weltreligionen, Staaten zu dieser Anomalie? Ein herrliches Buch voller Komik, Suspense und existenziellen Fragen. Demnächst todsicher bei Netflix.
Hervé Le Tellier: Die Anomalie. Rowohlt, 352 Seiten, 13 Euro.
Hilmar Klute
Verstehen: Es ist nichts Neues, dass die Geschichte der Menschheit mit Nachteilen für jene Naturformen einhergeht, die ihr nicht angehören. Wie unerbittlich das Sterben ganzer Großtierarten und Pflanzen mit der wirtschaftlichen Expansion einhergeht, beschreibt Ashley Dawson im Essay „Aussterben“. An Beispielen erklärt er, wie bereits die kapitalistischen „Erschließungsgesellschaften“ der frühen Neuzeit mit ihren Urbarmachungsplänen die Saat für die Verödung streuten. Mag sein, dass Dawsons Aktivisten-Zorn auf den Kapitalismus ein bisschen übersteuert daherkommt. Andererseits zeigt unsere Wirklichkeit ja, was uns blüht, wenn Natur zur Marktware gemacht wird.
Ashley Dawson: Aussterben. Eine radikale Geschichte. Padmos Kunstverlag, 144 Seiten, 19.90 Euro.
Träumen: Wie lebe ich richtig und was benötige ich dazu? Diese Frage stellt sich jeder, der einigermaßen bei Verstand und bei sich ist. John von Düffel hat daraus ein reizendes Buch gemacht, das aus lauter Meditationen darüber besteht, was einen guten Asketen vom Entsagungsnarren unterscheidet. „Der Asket der Zukunft ist kein Asket der Kunst“, schreibt von Düffel und das ist schon einmal schön. Diese glasklaren lyrischen Notizen sind in Italien entstanden, wo man Frische, Wärme und Klarheit von Natur aus zur Verfügung hat – eine Dosis Spiritualität in reiner Form, ohne Esoterik, nur mit fühlendem Verstand hergestellt.
John von Düffel: Das Wenige und das Wesentliche. Ein Stundenbuch. Dumont, 106 Seiten, 23 Euro.
Peter Richter
Verstehen: Der Krieg hatte noch nicht begonnen, als eines der interessantesten Architekturbücher des Jahres geschrieben wurde. Es erzählt von einem Ukrainer aus Odessa, der zum Baumeister des Moskauer Imperialismus werden sollte: Boris Iofan, „Stalins Architekt“. Er überlebte, als die sowjetische Avantgarde um ihn herum liquidiert wurde, er war derjenige, der den klassizistischen Stil der Stalinzeit designte. Gleichzeitig war er eng mit Frank Lloyd Wright. Deyan Sudjic hat nun seine Biografie vorgelegt, bisher nur auf Englisch. Dafür spektakulär bebildert.
Deyan Sudjic: Stalin’s Architect. Power and Survival in Moscow. Thames and Hudson, 319 Seiten, ab 25 Euro.
Träumen: Der Münchner Kunsthändler Franz Dahlem erzählt mit seinem Insiderwissen, mit wüster Meinungsfreudigkeit und seidiger Angeberattitüde sehr heiter von früher, und die junge Kunsthistorikerin Franziska Leuthäußer stellt zwischendurch Fragen – mal aus der Perspektive der Nachgeborenen, dann wieder eher im Tonfall einer ironisch-verständnisvollen Pflegerin: Was als Oral-History-Projekt zur frühen bundesdeutschen Kunstszene begann, ist ein astreines Zwischending aus Sachbuch und Schelmenroman geworden. Die Frage ist immer, ob Dahlem am unterhaltsamsten ist, wenn er erzählt, wie es wirklich war, oder am glaubwürdigsten, wenn er auf den Pudding haut.
Franz Dahlem: Am liebsten würde ich Marilyn Monroe sein. Schirmer Mosel, 222 Seiten, 34 Euro.
Christine Dössel
Verstehen: Das Theater kann und muss die Welt nicht erklären, aber sie verstehen – und manchmal sogar: sie verändern – helfen, das kann es schon. Der soeben erschienene dritte Band von Günther Rühles groß angelegtem Werk „Theater in Deutschland“ erzählt davon. Beginnend mit dem Jahr 1967, in der Zeit der Revolten, und endend 1995, als Heiner Müller starb, beschreibt Rühle diese Zeit des Auf- und Umbruchs, der Skandale und Debatten so anschaulich wie kenntnisreich. Als FAZ-Kritiker und Frankfurter Intendant war der 2021 gestorbene Rühle nicht nur Zeitzeuge, sondern auch Mitgestalter jener Theaterjahre. Ein wertvolles Buch. Rühles Hinterlassenschaft.
Günther Rühle: Theater in Deutschland 1967-1995, Fischer, 794 Seiten, 98 Euro.
Träumen: Statt waldbaden zu gehen, was im Winter nicht so kommod ist, kann man sich das grüne Gefühl auch ins Haus holen: mit einer „Zwitscherbox“, aus der natürliches, gar nicht nerviges Vogelgezwitscher erklingt. Zum Abschalten, Entspannen und etwaigen Mitpfeifen, als sei man auf einer sonnigen Waldlichtung. Man aktiviert die Box wie einen Bewegungsmelder im Vorbeigehen. Nach zwei Minuten gibt sie wieder Ruhe. Auch das unterscheidet sie erfreulich von Twitter. Gestaltet in kleiner Häuschenform gibt es die batteriebetriebene Box in den unterschiedlichsten Designs, zum Beispiel aus Eichenholz. Aufgehängt etwa im Bad, bezwitschert sie das stille Örtchen. Es ist als Kompliment aufzufassen, wenn Gäste sagen: „Bei dir piepst’s.“
Zwitscherbox“, über www.relaxound.com, Modelle für 49 und 59 Euro.
Susan Vahabzadeh
Verstehen: Was ist uns nur passiert – wie konnte aus einem ungeheuer langen Frieden, aus Mauerfall und Idealen das entstehen, womit wir uns heute herumschlagen – Brexit, entfesselter Kapitalismus, Krieg in Europa? Ian McEwan versucht sich in „Lektionen“ an einer Geschichte, für die er sich viel aus dem eigenen Leben geborgt hat. Sie läuft an den großen Linien der letzten Jahrzehnte entlang, quer durch das Leben des Helden Roland, der immer versucht, auf der richtigen Seite zu stehen. Auch, wenn es manchmal beim Lesen wehtut: Dranbleiben.
Ian McEwan: Lektionen. Diogenes, 720 Seiten, 32 Euro.
Träumen: Penelope Cruz als überehrgeizige Regisseurin, Oscar Martínez als prätentiöser Theaterschauspieler und Antonio Banderas als Superstar, bei dem man nie weiß, ob er hinterhältig ist oder ein bisschen doof, machen zusammen einen Film. Klar: Es wird „Der beste Film aller Zeiten“. Wenn das Kino Nabelschau betreibt, spielt das in einem Paralleluniversum, in das ernstzunehmende Sorgen selten hineinfinden. Aber: Das ist zum Schreien komisch.
Der beste Film aller Zeiten, Arthaus/Studiocanal, DVD ab 12,99 Euro.
Tobias Kniebe
Verstehen: Zu seinem 80. Geburtstag hatte er wieder schmerzbefreite Großmaul-Auftritte, dieses Buch ist zum Glück aber anders. Denn Geltungssucht hat den Filmemacher Werner Herzog („Grizzly Man“, „Fitzcarraldo“) dann doch nicht in den Dschungel und ins ewige Eis getrieben – es war seine Neugier auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest. Sie reicht vom tollwütigen Pensionsnachbarn (Klaus Kinski) bis zu fernsten kosmischen Phänomenen, und er kann wunderbar davon erzählen. Allein mit den Urviechern aus seiner bitterarmen Kriegskind-Jugend in Sachrang, denen er hier ein Denkmal setzt, könnte man einen beinhart realistischen und doch vollkommen unsentimentalen Heimatroman bevölkern.
Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen. Hanser, 352 Seiten, 28 Euro.
Träumen: Wenn man in einem Film aus Georgien den Krieg des aggressiven Nachbarn Russland für zweieinhalb Stunden vergessen kann, muss er märchenhaft sein. Und das ist die Geschichte von Lisa und Giorgi: Nach einer Zufallsbegegnung sind sie füreinander bestimmt, wachen aber durch einen Fluch in neuen Körpern auf, erkennen sich nicht mehr. Diese Wirrungen spielen in Kutaissi, wo der Kaukasus sanft ausläuft, aber der mächtige Fluss Rioni noch die Wildwasserwucht des Gebirges mitbringt. Alexandre Koberidze lässt seine Kamera so träumerisch durch die helle Stadt schweifen, dass man am Ende selbst ganz verliebt ist.
Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?. 375 Media, DVD ab 16,99 Euro.
Nils Minkmar
Verstehen: In diesem Buch geht es zu den Wurzeln unserer Republik und der langen Geschichte unserer demokratischen Ordnung. Die meisten dürften die Revolution von 1848 als eine Geschichte des Scheiterns abgespeichert haben, aber hier wird noch einmal das ganze Drama mit allen Möglichkeiten so entfaltet, dass man meint, dabei zu sein. Bong erinnert so an eine ganze Gruppe von Demokratinnen und Demokraten, die schon lange vor ihren Zeitgenossen verstanden haben, wohin die Reise der Geschichte gehen sollte. Dass ein solcher Kampf auch dann siegreich ist, wenn er zunächst verloren wird, daran erinnert uns Bong in diesem Geschichtsbuch, das sich liest wie ein Roman.
Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit. Die deutsche Revolution 1848/1849. KiWi, 560 Seiten, 29 Euro.
Träumen: Seine Chansons sind wie Filme, nur kürzer. Vincent Delerm, Sohn des minimalistischen Schriftstellers Philippe Delerm, versteht es, in eingängigen Melodien und geistreichen Texten den manchmal arg verborgenen Zauber unserer Gegenwart hervorzulocken. Am schönsten sind die Liveaufnahmen und Duette, man hat auf jeden Fall danach eine von feiner Melancholie durchzogene, sehr erwachsene aber unabweisbar euphorische gute Laune.
Vincent Delerm: Comme une histoire/Sans paroles, Tôt ou tard, 18,99 Euro (Vinyl) und 29,99 (Buch und CD).
Marie Schmidt
Verstehen: Taugt Sigmund Freud als Autor von Kalendersprüchen? Kann man über einem Freud-Zitat einen Tag meditieren, wie über einem Zen-Mantra? Sollte man es? Wer liest überhaupt heute noch den Patriarchen der Psychoanalyse? Das Register der Autoren, die für den Band „365 x Freud“ über Sätze seiner Lehre geschrieben haben, lässt nur den Schluss zu: Das Who is Who der intellektuellen Gegenwart liest Freud. Von Geisteswissenschaftlerinnen, Verlegern, Schriftstellerinnen, Journalisten, Kritikerinnen, Soziologen und auch Psychoanalytikern haben die Herausgeber Kommentare eingeholt, 365 glänzende Exemplare eines Genres, von dem man nicht genug bekommen kann: dem psychoanalytischen Mini-Essay.
Tobias Nolte, Kai Rugenstein (Hrsg.): 365xFreud. Eine Lesebuch für jeden Tag. Klett-Cotta, 399 Seiten, 28 Euro.
Träumen: In diesem Sommer ist die portugiesische Malerin Paula Rego gestorben, während auf der Biennale in Venedig ihre Bilder hingen und wie Klassiker der Kunst wirkten, die dort zu sehen war. Aus dem weiblichen Unterbewussten und der Idee, dass alle Spezies, Fantasiegestalten und technischen Wesenheiten auf der Welt wie Verwandte zusammenleben sollten, schienen die Arbeiten der Biennalekünstlerinnen zu kommen. In Paula Regos Malerei wird Traum und Albtraum dieser Lebensform wahr. Und auch in ihren Illustrationen zu Kindergedichten. Kinder fürchten sich davor bezeichnenderweise nicht so wie Erwachsene.
Paula Rego: Nursery Rhymes. Thames & Hudson, 72 Seiten, 17,99 Euro.
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David Steinitz
Verstehen: Während der Coronaisolation noch mal verschlungen: Das berührende Interviewbuch „Hat es Spaß gemacht, Mr. Wilder?“, das der Regisseur und Oscarpreisträger Cameron Crowe mit dem Regisseur und Oscarpreisträger Billy Wilder gemacht hat, wenige Jahre vor dessen Tod. Wilder erzählt von seiner Kindheit in Wien, seinem Besuch bei Sigmund Freud, seiner Auswanderung und seinem Aufstieg zum König der Hollywoodkomödie. Ein ehrliches, stets komisches Buch über Identitätssuche und Selbstzweifel, aber auch über Glück, Liebe und die Geheimnisse der letzten Bastion, die zwischen uns und dem Wahnsinn steht: des Humors.
Cameron Crowe: Hat es Spaß gemacht, Mr. Wilder? Kampa Verlag, 496 Seiten, 26 Euro.
Träumen: Wärmer als in diesem Film hat die kalifornische Sonne wohl nie geschienen. „Licorice Pizza“ ist eine wilde Gauner- und Liebesgeschichte aus dem Los Angeles der Siebziger, frei nach den schönsten Erinnerungen (und natürlich auch Erfindungen) des Regisseurs Paul Thomas Anderson. Der war lange vor allem für düsteres Kino bekannt („There Will Be Blood“). Mit dieser Komödie über einen Highschool-Schüler, der sich in ein älteres Mädchen verliebt und mit ihr ein obskures Geschäft für Wasserbetten hochzieht, beweist er auch sein komisches Talent.
Licorice Pizza, Universal Pictures, DVD ab 7,99 Euro.
Sonja Zekri
Verstehen: Alles da auf diesen Bildern, Museumsinsel, „Clärchens Ballhaus“, Brandenburger Tor. Aber wie? Menschenleer, mit krassen Schwarzweiß-Kontrasten oder in fahles Morgenlicht gegossen, so hat Günter Steffen in den Achtzigern Ostberlin fotografiert. Eine vielleicht tote, vielleicht nie zum Leben erwachte Stadt, rätselhaft, schauderhaft, zauberhaft. In dem Bildband „Die Hauptstadt“ wechseln sich seine Berlin-Fotos mit Romanfragmenten aus Jewgenij Samjatins grandioser sowjetischer Dystopie „Wir“ ab. Freiheit als Verbrechen, Fantasie als Hindernis zum Glück – war Unmenschlichkeit je so schön?
Günter Steffen: Die Hauptstadt. Ost-Berlin in den Achtzigern. Hartmann Projects, 160 Seiten, 38 Euro.
Träumen: Europa ist schuld. Die verfluchte EU mit ihren offenen Grenzen hat Heniek die Frau ausgespannt. Beatka arbeitet jetzt in Holland, weit weg vom polnischen Gajerudki, wo Heniek seit gefühlt schon immer Autos repariert und nach Beatkas Abreise nicht weiterweiß. Andrzej aber weiß es, und so brechen die beiden Freunde auf, um sie zurückzuholen – zwei abgebrannte polnische Provinzler, mit Vorurteilen über „den Westen“ im Kopf und Speiseöl im Tank des alten Mercedes. Das kann nicht gut gehen. Tut es auch nicht, denn jedes Roadmovie ist nur so gut wie die Leiden der Protagonisten. Der Wisent“ ist eine witzige, rührende Heldenreise, „Tschick“ für Erwachsene.
Konrad Bogusław Bach: Der Wisent. Blessing Verlag, 432 Seiten, 24 Euro.
Andrian Kreye
Verstehen: Was die Maschinen mit dem Kopf machen, ist den Menschen ein unheimliches Rätsel. Der Soziologe Gérald Bronner hat ein paar Antworten auf die vielen Fragen gefunden. Seit 12 000 Jahren schon räumt der Mensch sein Hirn für die Gedanken frei, erzählt er. So entstand so etwas wie ein kognitiver Überschuss. Die digitalen Medien aber fressen dieses Plus an Hirnleistung wieder auf. Wie die Menschen damit umgehen könnten, hat Bronner so spannend und schlüssig aufgeschrieben, dass aus dem Theoriebuch ein Thriller wird, der im eigenen Hirn spielt. Gérald Bronner: Kognitive Apokalypse. C.H. Beck, 285 Seiten. 24 Euro. Träumen: Klavierkonzerte sind eine der intimsten Formen der Musik. Egal ob Alfred Brendel, Keith Jarrett oder Chilly Gonzales, die Meister ihres Fachs kommen ihren Zuhörern so nah wie nur wenige. Abdullah Ibrahim, der seine Laufbahn in Südafrika als Dollar Brand begann, ist einer der ganz großen Solopianisten. Inzwischen ist er 88 Jahre alt und lebt im Chiemgau. Dort gibt er alljährlich an seinem Geburtstag ein Solokonzert im Gasthaus Hirzinger in Riedering. Im Jahr 2020 durfte wegen dem Virus kein Publikum kommen. Also nahm er sein Konzert alleine für das Album „Solotude“ auf. Was er da im Gedankenfluss spielt, ist nichts weniger als die Verdichtung eines der großartigsten Gesamtwerke in der Geschichte des Jazz auf eine Dreiviertelstunde. Abdullah Ibrahim: Solotude. Gearbox, CD um die 15, LP um die 25 Euro.
Tanja Rest
Verstehen: Es gibt das Dorf Kosawa in Westafrika nicht wirklich, aber die Erzählung, die Imbolo Mbue dort spielen lässt, ist universell: Profit gegen Menschenrechte. Ein Ölkonzern hat sich in der Nähe des Dorfes angesiedelt, wo die Menschen seit Generationen in Einklang mit der Natur leben, er hat ihnen Wohlstand und Bildung versprochen. Nun vergiften lecke Pipelines Boden und Trinkwasser, Kinder erkranken, die Behörden schauen weg. Wie die Familien von Kosawa versuchen, sich gegen diese Übermacht zu wehren, wird hier mit einem Chor von Stimmen erzählt – als Geschichte eines nahezu aussichtslosen Kampfes und als unvergessliches Porträt derer, die ihn führen – warm, zärtlich und unendlich traurig.
Imbolo Mbue: Wie schön wir waren. KiWi, 448 Seiten, 23 Euro.
Träumen: Im März 2021 landet eine Boeing nach einem Wirbelsturm in New York. An Bord: ein erfolgloser Schriftsteller, ein Auftragskiller, ein alternder Architekt mit junger Geliebter, ein nigerianischer Popsänger. Ihr Leben geht weiter. Drei Monate später landet dieselbe Boeing mit denselben Menschen erneut in New York. Es gibt sie jetzt also doppelt, nur fehlen den später Angekommenen drei Monate ihres Lebens. Und nun? Was sagen Wissenschaft, Weltreligionen, Staaten zu dieser Anomalie? Ein herrliches Buch voller Komik, Suspense und existenziellen Fragen. Demnächst todsicher bei Netflix.
Hervé Le Tellier: Die Anomalie. Rowohlt, 352 Seiten, 13 Euro.
Hilmar Klute
Verstehen: Es ist nichts Neues, dass die Geschichte der Menschheit mit Nachteilen für jene Naturformen einhergeht, die ihr nicht angehören. Wie unerbittlich das Sterben ganzer Großtierarten und Pflanzen mit der wirtschaftlichen Expansion einhergeht, beschreibt Ashley Dawson im Essay „Aussterben“. An Beispielen erklärt er, wie bereits die kapitalistischen „Erschließungsgesellschaften“ der frühen Neuzeit mit ihren Urbarmachungsplänen die Saat für die Verödung streuten. Mag sein, dass Dawsons Aktivisten-Zorn auf den Kapitalismus ein bisschen übersteuert daherkommt. Andererseits zeigt unsere Wirklichkeit ja, was uns blüht, wenn Natur zur Marktware gemacht wird.
Ashley Dawson: Aussterben. Eine radikale Geschichte. Padmos Kunstverlag, 144 Seiten, 19.90 Euro.
Träumen: Wie lebe ich richtig und was benötige ich dazu? Diese Frage stellt sich jeder, der einigermaßen bei Verstand und bei sich ist. John von Düffel hat daraus ein reizendes Buch gemacht, das aus lauter Meditationen darüber besteht, was einen guten Asketen vom Entsagungsnarren unterscheidet. „Der Asket der Zukunft ist kein Asket der Kunst“, schreibt von Düffel und das ist schon einmal schön. Diese glasklaren lyrischen Notizen sind in Italien entstanden, wo man Frische, Wärme und Klarheit von Natur aus zur Verfügung hat – eine Dosis Spiritualität in reiner Form, ohne Esoterik, nur mit fühlendem Verstand hergestellt.
John von Düffel: Das Wenige und das Wesentliche. Ein Stundenbuch. Dumont, 106 Seiten, 23 Euro.
Peter Richter
Verstehen: Der Krieg hatte noch nicht begonnen, als eines der interessantesten Architekturbücher des Jahres geschrieben wurde. Es erzählt von einem Ukrainer aus Odessa, der zum Baumeister des Moskauer Imperialismus werden sollte: Boris Iofan, „Stalins Architekt“. Er überlebte, als die sowjetische Avantgarde um ihn herum liquidiert wurde, er war derjenige, der den klassizistischen Stil der Stalinzeit designte. Gleichzeitig war er eng mit Frank Lloyd Wright. Deyan Sudjic hat nun seine Biografie vorgelegt, bisher nur auf Englisch. Dafür spektakulär bebildert.
Deyan Sudjic: Stalin’s Architect. Power and Survival in Moscow. Thames and Hudson, 319 Seiten, ab 25 Euro.
Träumen: Der Münchner Kunsthändler Franz Dahlem erzählt mit seinem Insiderwissen, mit wüster Meinungsfreudigkeit und seidiger Angeberattitüde sehr heiter von früher, und die junge Kunsthistorikerin Franziska Leuthäußer stellt zwischendurch Fragen – mal aus der Perspektive der Nachgeborenen, dann wieder eher im Tonfall einer ironisch-verständnisvollen Pflegerin: Was als Oral-History-Projekt zur frühen bundesdeutschen Kunstszene begann, ist ein astreines Zwischending aus Sachbuch und Schelmenroman geworden. Die Frage ist immer, ob Dahlem am unterhaltsamsten ist, wenn er erzählt, wie es wirklich war, oder am glaubwürdigsten, wenn er auf den Pudding haut.
Franz Dahlem: Am liebsten würde ich Marilyn Monroe sein. Schirmer Mosel, 222 Seiten, 34 Euro.
Christine Dössel
Verstehen: Das Theater kann und muss die Welt nicht erklären, aber sie verstehen – und manchmal sogar: sie verändern – helfen, das kann es schon. Der soeben erschienene dritte Band von Günther Rühles groß angelegtem Werk „Theater in Deutschland“ erzählt davon. Beginnend mit dem Jahr 1967, in der Zeit der Revolten, und endend 1995, als Heiner Müller starb, beschreibt Rühle diese Zeit des Auf- und Umbruchs, der Skandale und Debatten so anschaulich wie kenntnisreich. Als FAZ-Kritiker und Frankfurter Intendant war der 2021 gestorbene Rühle nicht nur Zeitzeuge, sondern auch Mitgestalter jener Theaterjahre. Ein wertvolles Buch. Rühles Hinterlassenschaft.
Günther Rühle: Theater in Deutschland 1967-1995, Fischer, 794 Seiten, 98 Euro.
Träumen: Statt waldbaden zu gehen, was im Winter nicht so kommod ist, kann man sich das grüne Gefühl auch ins Haus holen: mit einer „Zwitscherbox“, aus der natürliches, gar nicht nerviges Vogelgezwitscher erklingt. Zum Abschalten, Entspannen und etwaigen Mitpfeifen, als sei man auf einer sonnigen Waldlichtung. Man aktiviert die Box wie einen Bewegungsmelder im Vorbeigehen. Nach zwei Minuten gibt sie wieder Ruhe. Auch das unterscheidet sie erfreulich von Twitter. Gestaltet in kleiner Häuschenform gibt es die batteriebetriebene Box in den unterschiedlichsten Designs, zum Beispiel aus Eichenholz. Aufgehängt etwa im Bad, bezwitschert sie das stille Örtchen. Es ist als Kompliment aufzufassen, wenn Gäste sagen: „Bei dir piepst’s.“
Zwitscherbox“, über www.relaxound.com, Modelle für 49 und 59 Euro.
Susan Vahabzadeh
Verstehen: Was ist uns nur passiert – wie konnte aus einem ungeheuer langen Frieden, aus Mauerfall und Idealen das entstehen, womit wir uns heute herumschlagen – Brexit, entfesselter Kapitalismus, Krieg in Europa? Ian McEwan versucht sich in „Lektionen“ an einer Geschichte, für die er sich viel aus dem eigenen Leben geborgt hat. Sie läuft an den großen Linien der letzten Jahrzehnte entlang, quer durch das Leben des Helden Roland, der immer versucht, auf der richtigen Seite zu stehen. Auch, wenn es manchmal beim Lesen wehtut: Dranbleiben.
Ian McEwan: Lektionen. Diogenes, 720 Seiten, 32 Euro.
Träumen: Penelope Cruz als überehrgeizige Regisseurin, Oscar Martínez als prätentiöser Theaterschauspieler und Antonio Banderas als Superstar, bei dem man nie weiß, ob er hinterhältig ist oder ein bisschen doof, machen zusammen einen Film. Klar: Es wird „Der beste Film aller Zeiten“. Wenn das Kino Nabelschau betreibt, spielt das in einem Paralleluniversum, in das ernstzunehmende Sorgen selten hineinfinden. Aber: Das ist zum Schreien komisch.
Der beste Film aller Zeiten, Arthaus/Studiocanal, DVD ab 12,99 Euro.
Tobias Kniebe
Verstehen: Zu seinem 80. Geburtstag hatte er wieder schmerzbefreite Großmaul-Auftritte, dieses Buch ist zum Glück aber anders. Denn Geltungssucht hat den Filmemacher Werner Herzog („Grizzly Man“, „Fitzcarraldo“) dann doch nicht in den Dschungel und ins ewige Eis getrieben – es war seine Neugier auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest. Sie reicht vom tollwütigen Pensionsnachbarn (Klaus Kinski) bis zu fernsten kosmischen Phänomenen, und er kann wunderbar davon erzählen. Allein mit den Urviechern aus seiner bitterarmen Kriegskind-Jugend in Sachrang, denen er hier ein Denkmal setzt, könnte man einen beinhart realistischen und doch vollkommen unsentimentalen Heimatroman bevölkern.
Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen. Hanser, 352 Seiten, 28 Euro.
Träumen: Wenn man in einem Film aus Georgien den Krieg des aggressiven Nachbarn Russland für zweieinhalb Stunden vergessen kann, muss er märchenhaft sein. Und das ist die Geschichte von Lisa und Giorgi: Nach einer Zufallsbegegnung sind sie füreinander bestimmt, wachen aber durch einen Fluch in neuen Körpern auf, erkennen sich nicht mehr. Diese Wirrungen spielen in Kutaissi, wo der Kaukasus sanft ausläuft, aber der mächtige Fluss Rioni noch die Wildwasserwucht des Gebirges mitbringt. Alexandre Koberidze lässt seine Kamera so träumerisch durch die helle Stadt schweifen, dass man am Ende selbst ganz verliebt ist.
Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?. 375 Media, DVD ab 16,99 Euro.
Nils Minkmar
Verstehen: In diesem Buch geht es zu den Wurzeln unserer Republik und der langen Geschichte unserer demokratischen Ordnung. Die meisten dürften die Revolution von 1848 als eine Geschichte des Scheiterns abgespeichert haben, aber hier wird noch einmal das ganze Drama mit allen Möglichkeiten so entfaltet, dass man meint, dabei zu sein. Bong erinnert so an eine ganze Gruppe von Demokratinnen und Demokraten, die schon lange vor ihren Zeitgenossen verstanden haben, wohin die Reise der Geschichte gehen sollte. Dass ein solcher Kampf auch dann siegreich ist, wenn er zunächst verloren wird, daran erinnert uns Bong in diesem Geschichtsbuch, das sich liest wie ein Roman.
Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit. Die deutsche Revolution 1848/1849. KiWi, 560 Seiten, 29 Euro.
Träumen: Seine Chansons sind wie Filme, nur kürzer. Vincent Delerm, Sohn des minimalistischen Schriftstellers Philippe Delerm, versteht es, in eingängigen Melodien und geistreichen Texten den manchmal arg verborgenen Zauber unserer Gegenwart hervorzulocken. Am schönsten sind die Liveaufnahmen und Duette, man hat auf jeden Fall danach eine von feiner Melancholie durchzogene, sehr erwachsene aber unabweisbar euphorische gute Laune.
Vincent Delerm: Comme une histoire/Sans paroles, Tôt ou tard, 18,99 Euro (Vinyl) und 29,99 (Buch und CD).
Marie Schmidt
Verstehen: Taugt Sigmund Freud als Autor von Kalendersprüchen? Kann man über einem Freud-Zitat einen Tag meditieren, wie über einem Zen-Mantra? Sollte man es? Wer liest überhaupt heute noch den Patriarchen der Psychoanalyse? Das Register der Autoren, die für den Band „365 x Freud“ über Sätze seiner Lehre geschrieben haben, lässt nur den Schluss zu: Das Who is Who der intellektuellen Gegenwart liest Freud. Von Geisteswissenschaftlerinnen, Verlegern, Schriftstellerinnen, Journalisten, Kritikerinnen, Soziologen und auch Psychoanalytikern haben die Herausgeber Kommentare eingeholt, 365 glänzende Exemplare eines Genres, von dem man nicht genug bekommen kann: dem psychoanalytischen Mini-Essay.
Tobias Nolte, Kai Rugenstein (Hrsg.): 365xFreud. Eine Lesebuch für jeden Tag. Klett-Cotta, 399 Seiten, 28 Euro.
Träumen: In diesem Sommer ist die portugiesische Malerin Paula Rego gestorben, während auf der Biennale in Venedig ihre Bilder hingen und wie Klassiker der Kunst wirkten, die dort zu sehen war. Aus dem weiblichen Unterbewussten und der Idee, dass alle Spezies, Fantasiegestalten und technischen Wesenheiten auf der Welt wie Verwandte zusammenleben sollten, schienen die Arbeiten der Biennalekünstlerinnen zu kommen. In Paula Regos Malerei wird Traum und Albtraum dieser Lebensform wahr. Und auch in ihren Illustrationen zu Kindergedichten. Kinder fürchten sich davor bezeichnenderweise nicht so wie Erwachsene.
Paula Rego: Nursery Rhymes. Thames & Hudson, 72 Seiten, 17,99 Euro.
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