Loretta ist Mitte Zwanzig und so erwachsen wie Kate Moss. Sie weiß, was ihr steht, bewegt sich in Künstlerkreisen, führt die Coverversion eines hippen, bohemistischen Lebens. Sie ist nicht zimperlich, aber im praktischen Leben von ihrem Freund Malte abhängig: Findet sie am Morgen keinen To-do-Zettel von ihm vor, streift sie ziellos durch Berlin. Die Stadt mit ihren verwitterten Häusern, wilden Menschen und Tieren ist ihre Feindin und beste Freundin. Loretta steckt in einem Kokon aus Mode und Verführungskraft, Realitätsflucht und Kindlichkeit fest. Oder liegt in ihrer Mädchenhaftigkeit gerade ihre besondere Stärke? Loretta wird schwanger. Ein selten bezauberndes Mädchen kommt neben den Umkleidekabinen eines Dessousgeschäfts zur Welt. Für die junge Mutter beginnt eine neue Phase der Verzweiflung. Sie muß verhindern, daß ihr kleines, schönes Ebenbild ein selbstverliebtes Mädchen-Mädchen und ihr zur Konkurrentin wird.Loretta fällt endlich eine Entscheidung und haut ab. Sie gerät in eine Art Mädchen-Camp, eine pastellen süße Welt mit eigenen Regeln. Ob dort eine neue feministische Utopie gelebt, eine Reality Show gedreht oder schlicht eine niedlich verbrämte ABM für gescheiterte Frauen angeboten wird, ist zunächst nicht klar. Tappt Loretta in die nächste liebliche Falle? Julia Zanges Debüt überrascht mit faszinierend funkelnden Beobachtungen, ist beklemmend nah dran an der designten Hölle, durch die die Protagonistin geht. Eine Autorin ist zu entdecken.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Martin Krumbholz erkennt in Julia Zanges Debütroman "Die Anstalt der besseren Mädchen" einen Wiedergänger der Lore-Romane aus den 60er Jahren. Seine Anhaltspunkte dafür sind die eher einfach gestrickte Handlung und die Thematik, die schicksalshafte Liebe eines jungen Paares, Mutterschaft und altmodische Rollenklischees. Auch wenn Krumbholz keinerlei Hinweise darauf finden kann, dass Zange den Schundroman parodieren will, konstatiert er, dass sie das Genre ein wenig auf den aktuellen Stand des Berliner Künstlermilieus gebracht hat, indem sie ihre Protagonistin (Lore!) die konventionelle Mutterrolle unterlaufen lässt. Was Krumbholz damit meint, wenn er Zanges Humor als "gewissermaßen frei flottierend" bezeichnet, bleibt genauso rätselhaft, wie seine überraschende Versicherung am Schluss, dass man von Zange noch viel hören werde: "Schreiben kann sie."
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2008Die Raubtierkontur des Backenknochens
Alle Barbies warten auf Ken: Julia Zange entwirft in ihrem Roman "Die Anstalt der besseren Mädchen" eine Berliner Lolita.
Von Julia Bähr
Bücher, die in Berliner Pseudo-Künstler-Szenen spielen, gibt es wahrhaftig genug. Ein Teil davon ist bemüht provokativ, ein anderer bemüht intellektuell, der größte unbemüht langweilig. Über die Schnittmenge soll an dieser Stelle der Mantel gnädigen Schweigens gebreitet sein. Es ist eine nette Überraschung, dass eine rühmliche Ausnahme von einer fünfundzwanzigjährigen Debütantin stammt. Julia Zange hat beim "open mike Berlin" 2006 mit einer Kurzgeschichte den ersten Platz belegt, 2005 den Hildesheimer Prosanova-Wettbewerb gewonnen.
Jetzt ist sie Suhrkamp-Autorin. Mit "Die Anstalt der besseren Mädchen" hat sie ein Psychogramm einer jungen Frau geschaffen, das zugleich hochkomplex und fast banal ist: In Loretta vereinigen sich Kind und Erwachsene, intellektuelle Fähigkeit mit kindlicher Verantwortungslosigkeit. Loretta denkt nicht, sie handelt auch nicht, sie lässt sich einfach treiben. Wenn ihr Freund Malte ihr nicht einen Zettel mit Aufgaben für den Tag hinlegt, ist sie aufgeschmissen. Wenn er es tut, ist sie es auch, denn sie erfüllt die Aufgaben meist sowieso nicht. Als "Kind im Gesicht und im Geist" wird sie beschrieben, klein, blond und problematisch. Loretta mag klinische Sauberkeit, sammelt ausgeschnittene Tierfotos in Mappen und isst nur Blödsinn: "Milky Ways, trockene Mohnbrötchen, rosafarbene Donuts. Nudeln mit Sahnesoße, Schokopops mit Milch. Pure Butter und Mangolassi."
In manchen Dingen ist Loretta allerdings unerwartet alltagstauglich, wenn auch unkonventionell. Fisch nimmt sie mit Maltes Operationsübungs-Skalpell aus, bis der ihr Einhalt gebietet. Überhaupt hat diese Beziehung Ähnlichkeit mit der Erziehung einer depressiven Pubertierenden. Malte beschützt Loretta, schenkt ihr Aufmerksamkeit und sieht über halbherzige Selbstmordversuche freundlich hinweg. Er holt sie morgens aus dem Bett, "zieht sie an und auf". Nicht immer zu ihrer Begeisterung: "Morgen früh wird er sie wieder aus dem Bett zerren, wenn sie ihm nicht vorher schon die Nase zertrümmert hat." Denn Loretta bringt auch jede Menge kindlichen Eigensinn mit.
Schon Loretta hat einige Ähnlichkeit mit Nabokovs Lolita. Einen zarten Hinweis bildet der Name: Lolita wird Lola genannt, Loretta Lorchen - und beide sind immer wieder Lo, bei Julia Zange ausgesprochen wie "low". Klar: Großstadt, einundzwanzigstes Jahrhundert. Als Loretta schwanger wird, kommt mit Marla ein Mädchen zur Welt, das die Autorin als "Doppelkindchen" bezeichnet, das Kind eines Kindes: "Diese Mädchen sind die potentiellen Verführerinnen, werden oft nicht älter als 25 Jahre, weil sie an Selbstverführung zugrunde gehen." Die ultimative Lolita scheint da geboren worden zu sein.
Unter den Kleidern steckt ein kleiner Dämon.
Die Mutter verzweifelt schier daran und zeigt dabei wenig von ihrer üblichen Naivität: "Schau sie doch mal an. In spätestens zwei Jahren werden die Männer steife Schwänze bekommen, wenn sie sie im Buggy sitzen sehen . . . Marla ist die Reinheit, aber auch verdorben. Sie ist berechnend." Bei Nabokov klingt das, wenn Humbert Humbert die "Nymphchen" beschreibt, so: "um an unbeschreibbaren Anzeichen - der leichtgeschwungenen Raubtierkontur eines Backenknochens, dem Flaum an den schlanken Gliedern und anderen Merkmalen, die aufzuzählen mir Verzweiflung, Scham und Tränen der Zärtlichkeit verbieten - sofort den tödlichen kleinen Dämon unter den normalen Kindern zu erkennen".
Den wortreichen Nabokovschen Stil hat Zange nicht übernommen. Ihre Spezialität sind schlichte Formulierungen, aber dafür haufenweise Bilder; je impressionistischer, desto besser: "Wenn man die Natur heute als eine Oberfläche betrachten würde und mit einer Nadel hineinstäche, würde sie zäh tropfen wie Milch aus einem Gummibaum." Ein eigenes Kapitel bildet eine Art Walpurgisnacht, in der die Realität außer Kraft gesetzt ist - inhaltlich leer, aber sprachlich anmutig: "Der Himmel ist rosa, durchzogen mit Hyänenfellstreifen in blassem Gelb. In der Prinzessinnenstraße pellt ein Junge sich gerade aus der Schale und streift besonders säuberlich die weißen Häute ab."
Als Loretta in einer psychosomatischen Klinik landet, die eine Patientin treffend "Fundstelle für waidwunde Seelen" nennt, beginnt die Romanbelegschaft erst richtig abseitig zu werden. Loretta wandelt durch zahlreiche Neurosengärten - doch die Figuren werden erstaunlicherweise niemals nervig. Wie gestört und dabei unterhaltsam die Menschen sind, wird in einer Partyszene deutlich. Eine Blase aus Kleber fliegt durch den Raum: "Zoe, die ihr Innerstes nach außen zu stülpen pflegt, denn sie ist eine von den Schauspielstudentinnen, denen man die Beschäftigung mit jedem einzelnen ihrer Moleküle auferlegt, schreit gen Himmel: ,Es ist mein Uterus. Er fliegt.'" Zange beschreibt ihre Figuren nie boshaft, aber stets entlarvend. Ein feiner, kleiner Roman ist ihr gelungen. Sie bringt ihre Leser dazu, die eigenartigsten Verhaltensweisen wertfrei zu betrachten. Da soll noch jemand behaupten, Literatur könne einem nichts beibringen, das man für den Alltag bräuchte.
Julia Zange: "Die Anstalt der besseren Mädchen". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 158 S., geb., 15,- [Euro].
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Alle Barbies warten auf Ken: Julia Zange entwirft in ihrem Roman "Die Anstalt der besseren Mädchen" eine Berliner Lolita.
Von Julia Bähr
Bücher, die in Berliner Pseudo-Künstler-Szenen spielen, gibt es wahrhaftig genug. Ein Teil davon ist bemüht provokativ, ein anderer bemüht intellektuell, der größte unbemüht langweilig. Über die Schnittmenge soll an dieser Stelle der Mantel gnädigen Schweigens gebreitet sein. Es ist eine nette Überraschung, dass eine rühmliche Ausnahme von einer fünfundzwanzigjährigen Debütantin stammt. Julia Zange hat beim "open mike Berlin" 2006 mit einer Kurzgeschichte den ersten Platz belegt, 2005 den Hildesheimer Prosanova-Wettbewerb gewonnen.
Jetzt ist sie Suhrkamp-Autorin. Mit "Die Anstalt der besseren Mädchen" hat sie ein Psychogramm einer jungen Frau geschaffen, das zugleich hochkomplex und fast banal ist: In Loretta vereinigen sich Kind und Erwachsene, intellektuelle Fähigkeit mit kindlicher Verantwortungslosigkeit. Loretta denkt nicht, sie handelt auch nicht, sie lässt sich einfach treiben. Wenn ihr Freund Malte ihr nicht einen Zettel mit Aufgaben für den Tag hinlegt, ist sie aufgeschmissen. Wenn er es tut, ist sie es auch, denn sie erfüllt die Aufgaben meist sowieso nicht. Als "Kind im Gesicht und im Geist" wird sie beschrieben, klein, blond und problematisch. Loretta mag klinische Sauberkeit, sammelt ausgeschnittene Tierfotos in Mappen und isst nur Blödsinn: "Milky Ways, trockene Mohnbrötchen, rosafarbene Donuts. Nudeln mit Sahnesoße, Schokopops mit Milch. Pure Butter und Mangolassi."
In manchen Dingen ist Loretta allerdings unerwartet alltagstauglich, wenn auch unkonventionell. Fisch nimmt sie mit Maltes Operationsübungs-Skalpell aus, bis der ihr Einhalt gebietet. Überhaupt hat diese Beziehung Ähnlichkeit mit der Erziehung einer depressiven Pubertierenden. Malte beschützt Loretta, schenkt ihr Aufmerksamkeit und sieht über halbherzige Selbstmordversuche freundlich hinweg. Er holt sie morgens aus dem Bett, "zieht sie an und auf". Nicht immer zu ihrer Begeisterung: "Morgen früh wird er sie wieder aus dem Bett zerren, wenn sie ihm nicht vorher schon die Nase zertrümmert hat." Denn Loretta bringt auch jede Menge kindlichen Eigensinn mit.
Schon Loretta hat einige Ähnlichkeit mit Nabokovs Lolita. Einen zarten Hinweis bildet der Name: Lolita wird Lola genannt, Loretta Lorchen - und beide sind immer wieder Lo, bei Julia Zange ausgesprochen wie "low". Klar: Großstadt, einundzwanzigstes Jahrhundert. Als Loretta schwanger wird, kommt mit Marla ein Mädchen zur Welt, das die Autorin als "Doppelkindchen" bezeichnet, das Kind eines Kindes: "Diese Mädchen sind die potentiellen Verführerinnen, werden oft nicht älter als 25 Jahre, weil sie an Selbstverführung zugrunde gehen." Die ultimative Lolita scheint da geboren worden zu sein.
Unter den Kleidern steckt ein kleiner Dämon.
Die Mutter verzweifelt schier daran und zeigt dabei wenig von ihrer üblichen Naivität: "Schau sie doch mal an. In spätestens zwei Jahren werden die Männer steife Schwänze bekommen, wenn sie sie im Buggy sitzen sehen . . . Marla ist die Reinheit, aber auch verdorben. Sie ist berechnend." Bei Nabokov klingt das, wenn Humbert Humbert die "Nymphchen" beschreibt, so: "um an unbeschreibbaren Anzeichen - der leichtgeschwungenen Raubtierkontur eines Backenknochens, dem Flaum an den schlanken Gliedern und anderen Merkmalen, die aufzuzählen mir Verzweiflung, Scham und Tränen der Zärtlichkeit verbieten - sofort den tödlichen kleinen Dämon unter den normalen Kindern zu erkennen".
Den wortreichen Nabokovschen Stil hat Zange nicht übernommen. Ihre Spezialität sind schlichte Formulierungen, aber dafür haufenweise Bilder; je impressionistischer, desto besser: "Wenn man die Natur heute als eine Oberfläche betrachten würde und mit einer Nadel hineinstäche, würde sie zäh tropfen wie Milch aus einem Gummibaum." Ein eigenes Kapitel bildet eine Art Walpurgisnacht, in der die Realität außer Kraft gesetzt ist - inhaltlich leer, aber sprachlich anmutig: "Der Himmel ist rosa, durchzogen mit Hyänenfellstreifen in blassem Gelb. In der Prinzessinnenstraße pellt ein Junge sich gerade aus der Schale und streift besonders säuberlich die weißen Häute ab."
Als Loretta in einer psychosomatischen Klinik landet, die eine Patientin treffend "Fundstelle für waidwunde Seelen" nennt, beginnt die Romanbelegschaft erst richtig abseitig zu werden. Loretta wandelt durch zahlreiche Neurosengärten - doch die Figuren werden erstaunlicherweise niemals nervig. Wie gestört und dabei unterhaltsam die Menschen sind, wird in einer Partyszene deutlich. Eine Blase aus Kleber fliegt durch den Raum: "Zoe, die ihr Innerstes nach außen zu stülpen pflegt, denn sie ist eine von den Schauspielstudentinnen, denen man die Beschäftigung mit jedem einzelnen ihrer Moleküle auferlegt, schreit gen Himmel: ,Es ist mein Uterus. Er fliegt.'" Zange beschreibt ihre Figuren nie boshaft, aber stets entlarvend. Ein feiner, kleiner Roman ist ihr gelungen. Sie bringt ihre Leser dazu, die eigenartigsten Verhaltensweisen wertfrei zu betrachten. Da soll noch jemand behaupten, Literatur könne einem nichts beibringen, das man für den Alltag bräuchte.
Julia Zange: "Die Anstalt der besseren Mädchen". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 158 S., geb., 15,- [Euro].
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»Man lasse sich versichern, dass Julia Zange Sätze schreibt wie derzeit keine andere.«
Jochen Jung, DIE ZEIT
Jochen Jung, DIE ZEIT