Politikverdrossenheit und Misstrauen gegenüber Politikern kennzeichnen zunehmend die westlichen Demokratien. Gewählt werden immer häufiger Personen und Bewegungen, die sich als »antipolitisch« verstehen.
Saint Victor analysiert den Zusammenhang zwischen den antipolitischen Strömungen und den Forderungen nach direkter Demokratie mittels des Web 2.0. Was sind die Folgen, wenn das Volk unter Ausschaltung repräsentativer Instanzen über alle grundlegenden Entscheidungen online abstimmt?
»Antipolitik« ist ein Ausdruck der Krise unserer Demokratie, so Saint Victor. Was als - zumindest potentiell - fortschrittliche Antipolitik auftritt, ist eigentlich eine Entpolitisierung, die neue Unterdrückungsformen ermöglicht und fördert.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Saint Victor analysiert den Zusammenhang zwischen den antipolitischen Strömungen und den Forderungen nach direkter Demokratie mittels des Web 2.0. Was sind die Folgen, wenn das Volk unter Ausschaltung repräsentativer Instanzen über alle grundlegenden Entscheidungen online abstimmt?
»Antipolitik« ist ein Ausdruck der Krise unserer Demokratie, so Saint Victor. Was als - zumindest potentiell - fortschrittliche Antipolitik auftritt, ist eigentlich eine Entpolitisierung, die neue Unterdrückungsformen ermöglicht und fördert.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.08.2015In Zeiten der
Misstrauensdemokratie
Einsprüche gegen den Aufstieg der „Antipolitischen“
Wenn man in diesem Sommer wenigstens ein aktuelles Buch darüber lesen möchte, wie schlecht es um die Demokratien des Westens steht, dann wäre der nur knapp mehr als 80 Seiten lange Essay „Die Antipolitischen“ von Jacques de Saint Victor, der in Paris Professor für Politik und Rechtsgeschichte ist, eine gute Wahl. Vielleicht sogar die beste. Nicht zuletzt auch wegen des 14-seitigen Aufsatzes „Republik, Markt, Demokratie“ des an der Universität Cambridge lehrenden Ideengeschichtlers Raymond Geuss am Ende der Ausgabe. Er ist der heimliche Höhepunkt des Bändchens.
Aber eines nach dem anderen. Bei den italienischen Parlamentswahlen 2013 kam die erst 2009 gegründete Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) des Fernsehentertainers und Comedians Beppe Grillo auf 25 Prozent der Stimmen. Damit war M5S beinahe aus dem Stand die zweitstärkste politische Kraft des Landes. Grillo hatte dafür allerdings nicht klassisch mit besseren Politikvorschlägen gekämpft, sondern ausdrücklich mit „Antipolitik“, also mit dem Frontalangriff gegen die herrschende Politik und ihre Protagonisten. Die Botschaft lautete: „Devono andare tutti a casa“ – sie sollen alle nach Hause gehen. Weil sie offensichtlich unfähig seien, die Probleme des Landes zu lösen – und sich dafür auch noch horrend bezahlen lassen mit Geld, dass ihnen nicht gehöre. Den Steuern der Bürger.
Worum es M5S gehe, so de Saint Victor, sei aber nicht nur die Abschaffung der alten Politik, sondern „eine neue Beziehung zum Politischen“ durch die potenziell ständigen Teilnahmemöglichkeiten, die – natürlich – das Internet eröffne. Und genau hier werde der Fall auch politiktheoretisch symptomatisch. An die Stelle der alten repräsentativen Demokratie mit ihren so schwerfälligen wie undurchsichtigen Vermittlungsinstanzen zwischen Volk und Macht solle in Italien eine große unmittelbare regierende „digitale Polis“ entstehen. Das Land stehe mit seiner Tendenz zur antipolitischen Politik alles andere als allein, dank Beppe Grillo sei das Phänomen dort allerdings am weitesten entwickelt, Italien längst so etwas wie das politische Laboratorium Kontinentaleuropas.
Nach italienischem Vorbild erschaffe der allgemeine Systemverdruss im gesamten Westen seit einigen Jahren neue, tendenziell antipolitische Kräfte. Im Fall Deutschlands erwähnt de Saint Victor die mittlerweile stark geschwächte Piratenpartei, inzwischen muss man wohl auch an AfD und Pegida denken. In Amerika ist sicher ein Präsidentschaftskandidat wie der Immobilienmilliardär Donald Trump den Antipolitischen zuzurechnen. Und vergessen werden sollte auch nicht, dass der erste Wahlkampf des amtierenden amerikanischen Präsidenten Barack Obama besonders da deutlich antipolitische Züge hatte, wo er sich – obgleich seit Jahren Mitglied des amerikanischen Senats – als strahlende Alternative zum Washingtoner Polit-Establishment inszenierte. Die Antipolitik ist populistisch orientiert und damit ideologisch ein schillerndes Phänomen. Klassische linke Anliegen wie der Umweltschutz oder die Ablehnung von Auslandseinsätzen des Militärs passen im Zweifel ebenso ins Konzept wie eine eher rechte Asylpolitik. Beppe Grillo etwa steht für Ersteres und hat sich soeben für die Zwangsabschiebung von Flüchtlingen ausgesprochen.
De Saint Victor ist kein Freund der Antipolitik, das ist von Anfang an klar. Er hält es für falsch, sich der traditionellen politischen Eliten entledigen zu wollen. Aber sein Buch – und das ist das Besondere – ist dennoch keines der beliebten Hauptsatz-Pamphlete geworden, bei denen man nach vier Sekunden weiß, dass sie geschrieben wurden, damit ihre Käufer nach sechs Sekunden glücklich rufen können: „Endlich schreibt mal einer, was ich immer schon gesagt habe.“ De Saint Victor ist temperamentvoll genug, um seine Skepsis gegenüber dem Emanzipationspotenzial des Netzes, der Technikbegeisterung, der Transparenzemphase, der Politikfeindschaft und der historisch blauäugigen Verherrlichung der direkten Demokratie nicht zu verschweigen, er ist aber auch neugieriger Intellektueller genug, um skrupulös und instruktiv der Frage nachzugehen, wie es zum Erfolg der Antipolitik kommen konnte.
Die erleichtert-selbstzufriedene Zustimmung zum Band von vielen Kommentatoren der klassischen Medien erscheint deshalb ähnlich unpassend wie die erwartbare Häme, die es von den Netz-Optimisten und all denen gab, die sich immer sehr sicher sind, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Der digitalen.
Man möchte aber doch bitte nicht mehr darüber streiten müssen, ob man nun für oder gegen das Internet sein soll. Beim Wetter muss man das ja auch nicht. Es ist gekommen, um zu bleiben. Man möchte viel lieber endlich so begründet, wie es nur eben geht, über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Netzes in Zeiten der Misstrauensdemokratie diskutieren, keiner Sache einfach so auf den Leim gehen müssen. Schmeichelhaft gerät das dann für keine Seite, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Genau davon handelt dieses Büchlein, dem womöglich nur vorzuwerfen ist, dass es seinen eigenen Politikbegriff nirgendwo systematischer erläutert. Was wäre denn nun gute zeitgenössische Politik, wenn sowohl die herrschende so mangelhaft ist wie auch der prominenteste Gegenentwurf? Einige Missverständnisse von Freunden wie Feinden hätten so sicher vermieden werden können.
Aber es gibt ja noch den heimlichen Höhepunkt, den „Kommentar“ von Raymond Geuss, der zum Glück ein eigener, elegant vertiefender Versuch geworden ist, eine Lösung für das Rätsel der modernen westlichen Politik zu finden. Das Rätsel nämlich, dass trotz eines – historisch betrachtet – unwahrscheinlich hohen Niveaus an Demokratie, Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand die große Frustration durchbricht und Antipolitik gewinnt.
Der wesentliche Grund dafür sei, so Geuss, dass wir genau genommen keine Demokratien hätten, also unbedingte Volksherrschaften, sondern nur demokratische Wahlen. Ordnungspolitisch habe sich der Westen nämlich für Republiken entschieden, in denen es keinen zentralen Punkt gebe, an dem alle Macht versammelt sei. Die Grundlagen unserer Politik sind also eigentlich nicht zuerst demokratisch, sondern zuerst antiautokratisch. Solange jedoch die populären politischen Ideale demokratische seien, seien Enttäuschungen programmiert. Darüber hinaus teilt Geuss die wesentlichen Vorbehalte de Saint Victors gegenüber der Antipolitik und den politischen Potenzialen des Internets. Er weist allerdings unmissverständlich darauf hin, dass die „existierenden politischen Systeme Herrschaftsinstrumente unserer Wirtschaftseliten“ geworden seien. Es komme darauf an, welche Schlüsse man daraus ziehe. Aber dazu brauche es ein klares Bewusstsein davon, was eine republikanische Ordnung ausmacht und dass ihre Institutionen nicht zwangsläufig nur die Freiheit einschränkten.
Also: Wenn man sich nicht zu den 80 Seiten von de Saint Victor durchringen kann, die 14 von Geuss muss man gelesen haben, wenn man denn eine Ahnung davon haben will, was es im Jahr 2015 heißt, Politik zu machen.
JENS-CHRISTIAN RABE
Jacques de Saint Victor: Die Antipolitischen – Mit einem Kommentar von Raymond Geuss. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt. Hamburger Edition, Hamburg 2015. 111 Seiten, 12 Euro.
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Misstrauensdemokratie
Einsprüche gegen den Aufstieg der „Antipolitischen“
Wenn man in diesem Sommer wenigstens ein aktuelles Buch darüber lesen möchte, wie schlecht es um die Demokratien des Westens steht, dann wäre der nur knapp mehr als 80 Seiten lange Essay „Die Antipolitischen“ von Jacques de Saint Victor, der in Paris Professor für Politik und Rechtsgeschichte ist, eine gute Wahl. Vielleicht sogar die beste. Nicht zuletzt auch wegen des 14-seitigen Aufsatzes „Republik, Markt, Demokratie“ des an der Universität Cambridge lehrenden Ideengeschichtlers Raymond Geuss am Ende der Ausgabe. Er ist der heimliche Höhepunkt des Bändchens.
Aber eines nach dem anderen. Bei den italienischen Parlamentswahlen 2013 kam die erst 2009 gegründete Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) des Fernsehentertainers und Comedians Beppe Grillo auf 25 Prozent der Stimmen. Damit war M5S beinahe aus dem Stand die zweitstärkste politische Kraft des Landes. Grillo hatte dafür allerdings nicht klassisch mit besseren Politikvorschlägen gekämpft, sondern ausdrücklich mit „Antipolitik“, also mit dem Frontalangriff gegen die herrschende Politik und ihre Protagonisten. Die Botschaft lautete: „Devono andare tutti a casa“ – sie sollen alle nach Hause gehen. Weil sie offensichtlich unfähig seien, die Probleme des Landes zu lösen – und sich dafür auch noch horrend bezahlen lassen mit Geld, dass ihnen nicht gehöre. Den Steuern der Bürger.
Worum es M5S gehe, so de Saint Victor, sei aber nicht nur die Abschaffung der alten Politik, sondern „eine neue Beziehung zum Politischen“ durch die potenziell ständigen Teilnahmemöglichkeiten, die – natürlich – das Internet eröffne. Und genau hier werde der Fall auch politiktheoretisch symptomatisch. An die Stelle der alten repräsentativen Demokratie mit ihren so schwerfälligen wie undurchsichtigen Vermittlungsinstanzen zwischen Volk und Macht solle in Italien eine große unmittelbare regierende „digitale Polis“ entstehen. Das Land stehe mit seiner Tendenz zur antipolitischen Politik alles andere als allein, dank Beppe Grillo sei das Phänomen dort allerdings am weitesten entwickelt, Italien längst so etwas wie das politische Laboratorium Kontinentaleuropas.
Nach italienischem Vorbild erschaffe der allgemeine Systemverdruss im gesamten Westen seit einigen Jahren neue, tendenziell antipolitische Kräfte. Im Fall Deutschlands erwähnt de Saint Victor die mittlerweile stark geschwächte Piratenpartei, inzwischen muss man wohl auch an AfD und Pegida denken. In Amerika ist sicher ein Präsidentschaftskandidat wie der Immobilienmilliardär Donald Trump den Antipolitischen zuzurechnen. Und vergessen werden sollte auch nicht, dass der erste Wahlkampf des amtierenden amerikanischen Präsidenten Barack Obama besonders da deutlich antipolitische Züge hatte, wo er sich – obgleich seit Jahren Mitglied des amerikanischen Senats – als strahlende Alternative zum Washingtoner Polit-Establishment inszenierte. Die Antipolitik ist populistisch orientiert und damit ideologisch ein schillerndes Phänomen. Klassische linke Anliegen wie der Umweltschutz oder die Ablehnung von Auslandseinsätzen des Militärs passen im Zweifel ebenso ins Konzept wie eine eher rechte Asylpolitik. Beppe Grillo etwa steht für Ersteres und hat sich soeben für die Zwangsabschiebung von Flüchtlingen ausgesprochen.
De Saint Victor ist kein Freund der Antipolitik, das ist von Anfang an klar. Er hält es für falsch, sich der traditionellen politischen Eliten entledigen zu wollen. Aber sein Buch – und das ist das Besondere – ist dennoch keines der beliebten Hauptsatz-Pamphlete geworden, bei denen man nach vier Sekunden weiß, dass sie geschrieben wurden, damit ihre Käufer nach sechs Sekunden glücklich rufen können: „Endlich schreibt mal einer, was ich immer schon gesagt habe.“ De Saint Victor ist temperamentvoll genug, um seine Skepsis gegenüber dem Emanzipationspotenzial des Netzes, der Technikbegeisterung, der Transparenzemphase, der Politikfeindschaft und der historisch blauäugigen Verherrlichung der direkten Demokratie nicht zu verschweigen, er ist aber auch neugieriger Intellektueller genug, um skrupulös und instruktiv der Frage nachzugehen, wie es zum Erfolg der Antipolitik kommen konnte.
Die erleichtert-selbstzufriedene Zustimmung zum Band von vielen Kommentatoren der klassischen Medien erscheint deshalb ähnlich unpassend wie die erwartbare Häme, die es von den Netz-Optimisten und all denen gab, die sich immer sehr sicher sind, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Der digitalen.
Man möchte aber doch bitte nicht mehr darüber streiten müssen, ob man nun für oder gegen das Internet sein soll. Beim Wetter muss man das ja auch nicht. Es ist gekommen, um zu bleiben. Man möchte viel lieber endlich so begründet, wie es nur eben geht, über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Netzes in Zeiten der Misstrauensdemokratie diskutieren, keiner Sache einfach so auf den Leim gehen müssen. Schmeichelhaft gerät das dann für keine Seite, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Genau davon handelt dieses Büchlein, dem womöglich nur vorzuwerfen ist, dass es seinen eigenen Politikbegriff nirgendwo systematischer erläutert. Was wäre denn nun gute zeitgenössische Politik, wenn sowohl die herrschende so mangelhaft ist wie auch der prominenteste Gegenentwurf? Einige Missverständnisse von Freunden wie Feinden hätten so sicher vermieden werden können.
Aber es gibt ja noch den heimlichen Höhepunkt, den „Kommentar“ von Raymond Geuss, der zum Glück ein eigener, elegant vertiefender Versuch geworden ist, eine Lösung für das Rätsel der modernen westlichen Politik zu finden. Das Rätsel nämlich, dass trotz eines – historisch betrachtet – unwahrscheinlich hohen Niveaus an Demokratie, Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand die große Frustration durchbricht und Antipolitik gewinnt.
Der wesentliche Grund dafür sei, so Geuss, dass wir genau genommen keine Demokratien hätten, also unbedingte Volksherrschaften, sondern nur demokratische Wahlen. Ordnungspolitisch habe sich der Westen nämlich für Republiken entschieden, in denen es keinen zentralen Punkt gebe, an dem alle Macht versammelt sei. Die Grundlagen unserer Politik sind also eigentlich nicht zuerst demokratisch, sondern zuerst antiautokratisch. Solange jedoch die populären politischen Ideale demokratische seien, seien Enttäuschungen programmiert. Darüber hinaus teilt Geuss die wesentlichen Vorbehalte de Saint Victors gegenüber der Antipolitik und den politischen Potenzialen des Internets. Er weist allerdings unmissverständlich darauf hin, dass die „existierenden politischen Systeme Herrschaftsinstrumente unserer Wirtschaftseliten“ geworden seien. Es komme darauf an, welche Schlüsse man daraus ziehe. Aber dazu brauche es ein klares Bewusstsein davon, was eine republikanische Ordnung ausmacht und dass ihre Institutionen nicht zwangsläufig nur die Freiheit einschränkten.
Also: Wenn man sich nicht zu den 80 Seiten von de Saint Victor durchringen kann, die 14 von Geuss muss man gelesen haben, wenn man denn eine Ahnung davon haben will, was es im Jahr 2015 heißt, Politik zu machen.
JENS-CHRISTIAN RABE
Jacques de Saint Victor: Die Antipolitischen – Mit einem Kommentar von Raymond Geuss. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt. Hamburger Edition, Hamburg 2015. 111 Seiten, 12 Euro.
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