Ein leidenschaftlicher Büchermensch, ein geborener Kritiker, eine Schlüsselfigur der Geistesgeschichte Nachkriegsdeutschlands: Walter Boehlich (1921-2006) prägte als Cheflektor im Suhrkamp Verlag und später als Autor, Herausgeber und Übersetzer den deutschen Literaturbetrieb. Auch als Kommentator des politischen Tagesgeschehens war seine Stimme über Jahrzehnte zu vernehmen. Aus Anlass seines 90. Geburtstags erscheint eine Auswahl seiner Schriften. Sie zeigen einen Anwalt der Literatur, der nur höchste Maßstäbe gelten ließ. Seine Strenge war gepaart mit Leidenschaft und Liebe - zu Autoren, zu Texten, zur Aufrichtigkeit. Dieser Band bietet einen vielfältigen Einblick in sein Schaffen und setzt ihm ein würdiges Denkmal.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2011Der Kritik ist jedes erdenkliche Recht einzuräumen
Streng der Blick und scharf die Formulierungen: Ein Band mit ausgewählten Essays, Rezensionen und Polemiken des vor fünf Jahren verstorbenen Walter Boehlich
Er war elf Jahre lang Cheflektor bei Suhrkamp und gründete später den ersten deutschen Verlag auf genossenschaftlicher Basis. Er empfahl seinen Lesern Gabriel García Marquéz, Vargas Llosa und Ramón del Valle-Inclán. Er übersetzte Virginia Woolf, Marguerite Duras und Karen Blixen aus dem Englischen, Französischen und aus dem Dänischen. Er war politischer Kolumnist bei der Titanic, einer der strengsten Literaturkritiker seiner Generation, zudem Schüler und geistiger Nachlassverwalter des Romanisten Ernst Robert Curtius. Der 1921 in Breslau geborene Walter Boehlich war das, was man eine Kapazität nennt. Dennoch erinnern sich heute meist nur unmittelbare Wegbegleiter an den 2006 Verstorbenen.
Das mag mindestens zwei Gründe haben. Zum einen hat der unermüdlich in der zeitgenössischen Presse, auch in dieser Zeitung, publizierende Boehlich kein geschlossenes Werk hinterlassen - ein Werk, das in seiner Bündigkeit für den Nachruhm bestimmt gewesen wäre. Zum anderen liegt es wohl an der so spektakulären wie folgenreichen Trennung vom frühen Suhrkamp Verlag. Boehlich, von Peter Suhrkamp aufgrund einer meisterlichen Rezension der neuen Proust-Übersetzung von Eva Rechel-Mertens persönlich eingestellt, verantwortete dort die heutigen Theorieklassiker der edition suhrkamp (Frankfurter Schule, Psychoanalyse und Literaturtheorie) ebenso wie die ruhmreiche "Sammlung Insel". 1968 kam es aller inhaltlichen Progression zum Trotz zum Bruch mit der Verlagsführung.
An der Unternehmensspitze sitzt inzwischen nicht mehr Peter Suhrkamp, sondern Siegfried Unseld und pflegt einen äußerst erfolgreichen, jedoch charismatisch-autoritären Führungsstil. Das geht den meisten Lektoren gegen den Strich. Sie sind dem Geist von Achtundsechzig verpflichtet und fordern die Mitsprache in allen inhaltlichen und ökonomischen Entscheidungen. Kurz: Es kommt zum Aufstand, der Putsch scheitert unter anderem an juristischen Fragen, die oppositionellen Lektoren, darunter Walter Boehlich, Urs Widmer und Peter Urban, verlassen den Verlag, um einen neuen, den genossenschaftlich geführten "Verlag der Autoren", zu gründen. Unseld, nachzulesen in seiner 2010 erschienenen Suhrkamp-Chronik, unterschreibt seine Briefe fortan mit "Dein Sieger". Noch in der offiziellen Verlagsgeschichte von 1990 wird Walter Boehlich allenfalls als Randfigur abgehandelt, seine prägende Rolle für den Verlag wird übergangen.
Nun ist Walter Boehlich seit fünf Jahren tot. Zu seinem neunzigsten Geburtstag hat der S. Fischer Verlag das längst Überfällige unternommen: Die Herausgabe seiner wichtigsten Essays, Kritiken und Polemiken. Mit dem Pamphlet "Kritik als Beruf", verfasst 1950, beginnt der Band, mit Einlassungen zur deutschen Leitkultur 2001 endet er. Wer selbst nicht dabei gewesen ist, verspürt nie den Wunsch, etwas aus diesem Gelehrtenleben überblättern zu wollen.
Im Gegenteil, bereits im ersten Beitrag wird man unsanft mit den Regeln der Kritik vertraut gemacht - und liest mit Faszination, wovor hier energisch gewarnt wird: Vor Georg Lukács und dessen marxistisch überformter Literaturtheorie: "Er müsste umso schärfer zurückgewiesen werden, je geistvoller er sich gibt." Vor Friedrich Sieburg und dessen restaurativem Literaturgeschmack: "Er hat keinen einzigen Autor entdeckt, solange der noch zu entdecken gewesen wäre." Vom historischen Augenblick heißt es gleichwohl: "Eine Zeit, die keine eigene Größe hervorbringt, ist nichts Ungewöhnliches, wohl aber ist eine Zeit verächtlich, die auch die Anschauung von Größe verliert."
Von solch im Grunde antibürgerlicher Kritik angesprochen fühlen durfte sich auch Marcel Reich-Ranicki, Vertreter einer bis dahin ungekannten Kunstgerichtsbarkeitsemphase ("die unter Marcel Reich-Ranickis Fürsorge gemeuchelten Gedichte"). 1968 schrieb Boehlich in Enzensbergers "Kursbuch": "Es gibt keine ,großen' Kritiker mehr. Es gibt höchstens Großkritiker." Heute wird öfter beklagt, auch diese stürben aus.
Boehlichs Vorbilder sind in anderen Zusammenhängen zu suchen: A.W. Schlegel, Jacob Grimm, aber auch Hofmannsthal mit seiner "critique des beautés". Überhaupt, das gelehrte achtzehnte und das bildungsbeflissene neunzehnte Jahrhundert, "das der Kritik jedes erdenkliche Recht einräumte". Da wird von dreißig- bis sechzigseitigen Rezensionen geschwärmt, "und es wurde keine einzige davon auf Inhaltsangaben verschwendet". Literatur und die Beschäftigung mit ihr waren in Boehlichs Augen klar mit einer moralischen, also kritischen Pflicht verbunden. Wer die Literatur auf der begrifflichen Ebene nicht ernst nahm, wurde von Boehlich nicht ernst genommen. Unter den Zeitgenossen ließ er nur Max Rychner gelten, "der einzige unter den deutschsprachigen Kritikern, für den Kritik wirklich Beruf ist".
Ein Gutteil des Bandes handelt also von den Möglichkeiten und verpassten Chancen der deutschen Literaturkritik. Ein anderer Teil beschäftigt sich mit gleicher Verve mit dem deutschen Geschichtsbewusstsein. "Die Juden, sagt das Neue Testament, fordern Zeichen, die Griechen fragen nach Weisheit. Was tun die Deutschen? Sie sitzen tief im Sumpf ihrer Vergangenheit und haben nicht einmal mehr Zöpfe, sich daran herauszuziehen." Ihre Trauerarbeit hätten sie nicht geleistet. Hätten vergessen und verdrängt und sich eingerichtet in einem "vermeintlichen Provisorium, das keine Fenster in den Hinterhof des Gewesenen und in den Vorhof des Künftigen besitzt". Boehlich, der selbst jüdischer Herkunft war, dies aber selten thematisierte, schreckte nicht davor zurück, den Deutschen ihre Verdrängungsmanöver vorzuwerfen - und zwar bis hinein in die wohlfeilste Antisemitismus-Kritik. Er verteidigte Fassbinder gegen solche Vorwürfe und ging gleichzeitig streng mit den deutschen Universitäten ins Gericht, denen er die Verschleierung ihrer Verstrickungen in den Nationalsozialismus vorwarf: "Sie werden erklären müssen, was erklärt werden muss, werden endlich die Barbarenhorde entlarven müssen, die an den deutschen Universitäten von 1933 bis 1945 den Ton angab."
Walter Boehlich war ein strenger Zensor - seine Argumente kamen aus der Tiefe eines kritischen, Philologie wie Philosophie verpflichteten Geistes. "Ein Mensch ohne Größe und Bedeutung ist immer noch ein Mensch. Aber was ist ein Buch ohne Größe und Bedeutung?", schrieb er einmal. "Die Antwort", so ist dieser Band überschrieben, "ist das Unglück der Frage." Aber vielleicht muss sie aus heutiger Sicht wieder einmal gegeben werden.
KATHARINA TEUTSCH.
Walter Boehlich: "Die Antwort ist das Unglück der Frage". Ausgewählte Schriften.
Herausgegeben von Helmut Peitsch und Helen Thein-Peitsch. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 704 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Streng der Blick und scharf die Formulierungen: Ein Band mit ausgewählten Essays, Rezensionen und Polemiken des vor fünf Jahren verstorbenen Walter Boehlich
Er war elf Jahre lang Cheflektor bei Suhrkamp und gründete später den ersten deutschen Verlag auf genossenschaftlicher Basis. Er empfahl seinen Lesern Gabriel García Marquéz, Vargas Llosa und Ramón del Valle-Inclán. Er übersetzte Virginia Woolf, Marguerite Duras und Karen Blixen aus dem Englischen, Französischen und aus dem Dänischen. Er war politischer Kolumnist bei der Titanic, einer der strengsten Literaturkritiker seiner Generation, zudem Schüler und geistiger Nachlassverwalter des Romanisten Ernst Robert Curtius. Der 1921 in Breslau geborene Walter Boehlich war das, was man eine Kapazität nennt. Dennoch erinnern sich heute meist nur unmittelbare Wegbegleiter an den 2006 Verstorbenen.
Das mag mindestens zwei Gründe haben. Zum einen hat der unermüdlich in der zeitgenössischen Presse, auch in dieser Zeitung, publizierende Boehlich kein geschlossenes Werk hinterlassen - ein Werk, das in seiner Bündigkeit für den Nachruhm bestimmt gewesen wäre. Zum anderen liegt es wohl an der so spektakulären wie folgenreichen Trennung vom frühen Suhrkamp Verlag. Boehlich, von Peter Suhrkamp aufgrund einer meisterlichen Rezension der neuen Proust-Übersetzung von Eva Rechel-Mertens persönlich eingestellt, verantwortete dort die heutigen Theorieklassiker der edition suhrkamp (Frankfurter Schule, Psychoanalyse und Literaturtheorie) ebenso wie die ruhmreiche "Sammlung Insel". 1968 kam es aller inhaltlichen Progression zum Trotz zum Bruch mit der Verlagsführung.
An der Unternehmensspitze sitzt inzwischen nicht mehr Peter Suhrkamp, sondern Siegfried Unseld und pflegt einen äußerst erfolgreichen, jedoch charismatisch-autoritären Führungsstil. Das geht den meisten Lektoren gegen den Strich. Sie sind dem Geist von Achtundsechzig verpflichtet und fordern die Mitsprache in allen inhaltlichen und ökonomischen Entscheidungen. Kurz: Es kommt zum Aufstand, der Putsch scheitert unter anderem an juristischen Fragen, die oppositionellen Lektoren, darunter Walter Boehlich, Urs Widmer und Peter Urban, verlassen den Verlag, um einen neuen, den genossenschaftlich geführten "Verlag der Autoren", zu gründen. Unseld, nachzulesen in seiner 2010 erschienenen Suhrkamp-Chronik, unterschreibt seine Briefe fortan mit "Dein Sieger". Noch in der offiziellen Verlagsgeschichte von 1990 wird Walter Boehlich allenfalls als Randfigur abgehandelt, seine prägende Rolle für den Verlag wird übergangen.
Nun ist Walter Boehlich seit fünf Jahren tot. Zu seinem neunzigsten Geburtstag hat der S. Fischer Verlag das längst Überfällige unternommen: Die Herausgabe seiner wichtigsten Essays, Kritiken und Polemiken. Mit dem Pamphlet "Kritik als Beruf", verfasst 1950, beginnt der Band, mit Einlassungen zur deutschen Leitkultur 2001 endet er. Wer selbst nicht dabei gewesen ist, verspürt nie den Wunsch, etwas aus diesem Gelehrtenleben überblättern zu wollen.
Im Gegenteil, bereits im ersten Beitrag wird man unsanft mit den Regeln der Kritik vertraut gemacht - und liest mit Faszination, wovor hier energisch gewarnt wird: Vor Georg Lukács und dessen marxistisch überformter Literaturtheorie: "Er müsste umso schärfer zurückgewiesen werden, je geistvoller er sich gibt." Vor Friedrich Sieburg und dessen restaurativem Literaturgeschmack: "Er hat keinen einzigen Autor entdeckt, solange der noch zu entdecken gewesen wäre." Vom historischen Augenblick heißt es gleichwohl: "Eine Zeit, die keine eigene Größe hervorbringt, ist nichts Ungewöhnliches, wohl aber ist eine Zeit verächtlich, die auch die Anschauung von Größe verliert."
Von solch im Grunde antibürgerlicher Kritik angesprochen fühlen durfte sich auch Marcel Reich-Ranicki, Vertreter einer bis dahin ungekannten Kunstgerichtsbarkeitsemphase ("die unter Marcel Reich-Ranickis Fürsorge gemeuchelten Gedichte"). 1968 schrieb Boehlich in Enzensbergers "Kursbuch": "Es gibt keine ,großen' Kritiker mehr. Es gibt höchstens Großkritiker." Heute wird öfter beklagt, auch diese stürben aus.
Boehlichs Vorbilder sind in anderen Zusammenhängen zu suchen: A.W. Schlegel, Jacob Grimm, aber auch Hofmannsthal mit seiner "critique des beautés". Überhaupt, das gelehrte achtzehnte und das bildungsbeflissene neunzehnte Jahrhundert, "das der Kritik jedes erdenkliche Recht einräumte". Da wird von dreißig- bis sechzigseitigen Rezensionen geschwärmt, "und es wurde keine einzige davon auf Inhaltsangaben verschwendet". Literatur und die Beschäftigung mit ihr waren in Boehlichs Augen klar mit einer moralischen, also kritischen Pflicht verbunden. Wer die Literatur auf der begrifflichen Ebene nicht ernst nahm, wurde von Boehlich nicht ernst genommen. Unter den Zeitgenossen ließ er nur Max Rychner gelten, "der einzige unter den deutschsprachigen Kritikern, für den Kritik wirklich Beruf ist".
Ein Gutteil des Bandes handelt also von den Möglichkeiten und verpassten Chancen der deutschen Literaturkritik. Ein anderer Teil beschäftigt sich mit gleicher Verve mit dem deutschen Geschichtsbewusstsein. "Die Juden, sagt das Neue Testament, fordern Zeichen, die Griechen fragen nach Weisheit. Was tun die Deutschen? Sie sitzen tief im Sumpf ihrer Vergangenheit und haben nicht einmal mehr Zöpfe, sich daran herauszuziehen." Ihre Trauerarbeit hätten sie nicht geleistet. Hätten vergessen und verdrängt und sich eingerichtet in einem "vermeintlichen Provisorium, das keine Fenster in den Hinterhof des Gewesenen und in den Vorhof des Künftigen besitzt". Boehlich, der selbst jüdischer Herkunft war, dies aber selten thematisierte, schreckte nicht davor zurück, den Deutschen ihre Verdrängungsmanöver vorzuwerfen - und zwar bis hinein in die wohlfeilste Antisemitismus-Kritik. Er verteidigte Fassbinder gegen solche Vorwürfe und ging gleichzeitig streng mit den deutschen Universitäten ins Gericht, denen er die Verschleierung ihrer Verstrickungen in den Nationalsozialismus vorwarf: "Sie werden erklären müssen, was erklärt werden muss, werden endlich die Barbarenhorde entlarven müssen, die an den deutschen Universitäten von 1933 bis 1945 den Ton angab."
Walter Boehlich war ein strenger Zensor - seine Argumente kamen aus der Tiefe eines kritischen, Philologie wie Philosophie verpflichteten Geistes. "Ein Mensch ohne Größe und Bedeutung ist immer noch ein Mensch. Aber was ist ein Buch ohne Größe und Bedeutung?", schrieb er einmal. "Die Antwort", so ist dieser Band überschrieben, "ist das Unglück der Frage." Aber vielleicht muss sie aus heutiger Sicht wieder einmal gegeben werden.
KATHARINA TEUTSCH.
Walter Boehlich: "Die Antwort ist das Unglück der Frage". Ausgewählte Schriften.
Herausgegeben von Helmut Peitsch und Helen Thein-Peitsch. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 704 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Was Katharina Teutsch hier empfiehlt, kommt aus der Tiefe eines kritischen Geistes. Dessen Walter Boehlichs nämlich, einst prägender Programmchef bei Suhrkamp, dann geschasst und beinahe vergessen. Wenn der Fischer Verlag nun postum Boehlichs wichtigste Essays, Kritiken und Polemiken versammelt, horcht Teutsch auf. Boehlich macht sie mit den Gesetzen der Kritik vertraut und warnt sie - vor marxistischer und restaurativer Literaturkritik etwa. Aber Teutsch lernt auch Boehlichs Vorbilder kennen: A. W. Schlegel, Jacob Grimm, Hofmannsthal, Männer, für die wie für Boehlich kritische Pflicht gleich moralische Pflicht war, wie Teutsch schreibt. Boehlichs Beschäftigung mit dem deutschen Geschichtsbewusstsein der Nachkriegszeit sind Teutsch nicht weniger Fingerzeige eines kritischen Geistes.
© Perlentaucher Medien GmbH
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