Es gibt kaum ein explosiveres Thema als "Die Araber und der Holocaust" das Terrain ist vermint, voller Vorwürfe und Gegenvorwürfe: Die einen werden beschuldigt, den Holocaust zu verleugnen; den anderen wird vorgeworfen, die eigene Tragödie auszubeuten und die der Gegenseite zu ignorieren. In seiner wegweisenden Untersuchung hat der Politikwissenschaftler Gilbert Achcar das Geflecht der unvereinbar scheinenden Narrative und ihre Rolle im Nahost-Konflikt untersucht. Er analysiert die verschiedenen arabischen Reaktionen auf den Nationalsozialismus, von den ersten drohenden Vorzeichen des Völkermords an den Juden über die Gründung Israels und die von Massenvertreibungen begleitete Zerstörung des historischen Palästina bis zur Gegenwart, und stellt sie in ihren jeweiligen historischen und politischen Kontext. Er kritisiert jede Geschichtsschreibung und politische Propaganda, die durch Antisemitismus und Holocaust-Leugnung motiviert sind. Berechtigte Kritik, darauf besteht Achcar, muss einhergehen mit ehrlicher Selbstkritik. Achcars Buch wirkt befreiend, weil es Möglichkeiten der Verständigung eröffnet, die seit Jahren durch einen erbitterten internationalen Propagandakrieg verschüttet werden.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.2012Schlachtenlärm der Tastaturen
Arabische Deutungshoheit
Besser als der Titel gibt der Untertitel wieder, worum es dem Autor geht. Sein Interesse gilt der "Schlacht der Narrative", die auf die realen Schlachten zwischen Israelis und Arabern folgte. Die Deutungshoheit über Ursachen, Verlauf und Ausgang der Gewalt dient auch hier der Legitimierung für eigenes Handeln und dem Ausblenden fremden Leids. Woran es immer noch mangele, sind die Bereitschaft zu Kommunikation und die "Fähigkeit, sein Gegenüber zu verstehen" und sich "in seine Position zu versetzen". Es bedürfe aber nicht nur einer intellektuellen und emotionalen Anstrengung, um die bisher getrennte Geschichte "zusammen" denken und auf diese Weise Schritte zum Frieden gehen zu können. Darüber hinaus müsse es zum Verzicht auf Gewalt kommen. Dann könnte es gelingen, "sowohl in der arabischen Welt als auch in Israel" die friedensrelevante Kraft der Aufklärung zu stärken und die "vielfältigen Formen politischen und religiösen Fanatismus zurückzudrängen, die heute Aufwind haben".
Bevor der in Dakar geborene, im Libanon aufgewachsene und heute in London lehrende Verfasser zu diesem - an Edward Said orientierten - friedenspolitischen Ratschlag kommt, geht er den Wurzeln der konträren Sichtweisen nach, die den Weg zum Frieden im Nahen Osten versperren. Den Ausgang bilden zwei Begriffe, einmal Holocaust beziehungsweise Schoa, um den Genozid an den Juden zu bezeichnen, zum anderen Nakba, der hierzulande weniger bekannte Terminus, mit dem die Palästinenser die "schmerzliche Katastrophe" ihrer durch die Staatsgründung Israels 1948 ausgelöste Vertreibung bezeichnen. Achcar bezeichnet die "historische Beziehung der Araber zum Holocaust" zwar als sein "Hauptthema". Tatsächlich rückt es aus gutem Grund aber immer wieder an den Rand der Untersuchung. Aus arabischer Sicht lautete die eigentliche Frage gar nicht, ob der Holocaust stattgefunden hat oder nicht oder welches Ausmaß er hatte. Entscheidend war, dass er zum Gründungsmythos Israels wurde und die palästinensischen Flüchtlinge dafür durch den Verlust ihrer Heimat bezahlen mussten. Nie der Versuchung widerstehend, seinen Zettelkasten in Gestalt überlanger Quellen- und Literaturzitate auszuleeren, entwirft Achcar ein differenziertes Bild von den Einstellungen und Wahrnehmungsmustern arabischer Intellektueller in den 1930er Jahren und während des Zweiten Weltkriegs.
Auch religiöse Führer wie der Mufti von Jerusalem Amin al-Husseini, der sich auf der Flucht vor den Briten längere Zeit in Deutschland aufhielt und mit Hitler und Himmler zusammentraf, werden behandelt. Dessen notorischer Antisemitismus aber wurde zu Unrecht "auf alle Araber Palästinas projiziert". Überhaupt beruhte das "in den ersten Kriegsjahren beobachtbare Wohlwollen der ägyptischen oder arabischen Öffentlichkeit" nicht auf Übereinstimmung mit der rassenideologischen Lehre des Nationalsozialismus, die nur von einer "winzigen Minderheit" geteilt worden sei. Vielmehr waren es die von Chaim Weizmann schon 1919 geäußerte Absicht, "Palästina so jüdisch zu machen wie England englisch", und dann die Tatsache der Staatsgründung auf Kosten der Palästinenser, die den "arabischen Judenhass" hervorbrachten.
Der zweite Teil des Buches ist der Entwicklung seit 1948 gewidmet. Achcar stellt sie extrem einseitig als Abfolge militärischer Gewalthandlungen Israels dar, die wiederum zu Veränderungen im arabischen Lager führten. Nach der Niederlage 1948 sei das arabische Meinungsspektrum zusammengeschmolzen. Die westlich orientierten Liberalen und die Marxisten verloren den Boden unter den Füßen. Auch die Panislamisten sahen sich geschwächt. Übrig blieben die arabischen Nationalisten mit Gamal Abdel-Nasser als Integrationsfigur. Er sei kein Antisemit gewesen, auch kein Bewunderer Hitlers, sondern habe seine Politik in erster Linie als antiimperialistischen Kampf verstanden. Worin das "fortschrittliche Potential des arabischen Nationalismus" bestand, lässt Achcar offen, sieht es aber mit der Niederlage im Sechs-Tage-Krieg 1967 "erschöpft". Die nun folgenden PLO-Jahre erscheinen mit dem Einmarsch Israels 1982 im Libanon und der Vertreibung der PLO aus Beirut als neue Stufe "israelischer Kriegsverbrechen", als "Abstieg in die Barbarei".
Auch die in ihrer Vielfalt und Zerrissenheit geschilderte arabische Welt wird nicht geschont. Achcar zeigt sich deprimiert über Stimmen, die ein "erschreckendes Maß an Ignoranz" erkennen lassen, und über "Regimes", die dies noch fördern, die er aber nicht beim Namen nennt. Die Initialzündung zu allem sieht er allerdings in der Gründung eines jüdischen Staates als "zionistischer Kolonialmacht" mit der seitdem nicht mehr abbrechenden "frenetischen Beschwörung des Holocaust durch Israel". Der narrative Schlachtenlärm - und hoffentlich nur dieser - wird wohl noch eine Weile zu hören sein.
GOTTFRIED NIEDHART
Gilbert Achcar: Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen. Edition Nautilus, Hamburg 2012. 368 S., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Arabische Deutungshoheit
Besser als der Titel gibt der Untertitel wieder, worum es dem Autor geht. Sein Interesse gilt der "Schlacht der Narrative", die auf die realen Schlachten zwischen Israelis und Arabern folgte. Die Deutungshoheit über Ursachen, Verlauf und Ausgang der Gewalt dient auch hier der Legitimierung für eigenes Handeln und dem Ausblenden fremden Leids. Woran es immer noch mangele, sind die Bereitschaft zu Kommunikation und die "Fähigkeit, sein Gegenüber zu verstehen" und sich "in seine Position zu versetzen". Es bedürfe aber nicht nur einer intellektuellen und emotionalen Anstrengung, um die bisher getrennte Geschichte "zusammen" denken und auf diese Weise Schritte zum Frieden gehen zu können. Darüber hinaus müsse es zum Verzicht auf Gewalt kommen. Dann könnte es gelingen, "sowohl in der arabischen Welt als auch in Israel" die friedensrelevante Kraft der Aufklärung zu stärken und die "vielfältigen Formen politischen und religiösen Fanatismus zurückzudrängen, die heute Aufwind haben".
Bevor der in Dakar geborene, im Libanon aufgewachsene und heute in London lehrende Verfasser zu diesem - an Edward Said orientierten - friedenspolitischen Ratschlag kommt, geht er den Wurzeln der konträren Sichtweisen nach, die den Weg zum Frieden im Nahen Osten versperren. Den Ausgang bilden zwei Begriffe, einmal Holocaust beziehungsweise Schoa, um den Genozid an den Juden zu bezeichnen, zum anderen Nakba, der hierzulande weniger bekannte Terminus, mit dem die Palästinenser die "schmerzliche Katastrophe" ihrer durch die Staatsgründung Israels 1948 ausgelöste Vertreibung bezeichnen. Achcar bezeichnet die "historische Beziehung der Araber zum Holocaust" zwar als sein "Hauptthema". Tatsächlich rückt es aus gutem Grund aber immer wieder an den Rand der Untersuchung. Aus arabischer Sicht lautete die eigentliche Frage gar nicht, ob der Holocaust stattgefunden hat oder nicht oder welches Ausmaß er hatte. Entscheidend war, dass er zum Gründungsmythos Israels wurde und die palästinensischen Flüchtlinge dafür durch den Verlust ihrer Heimat bezahlen mussten. Nie der Versuchung widerstehend, seinen Zettelkasten in Gestalt überlanger Quellen- und Literaturzitate auszuleeren, entwirft Achcar ein differenziertes Bild von den Einstellungen und Wahrnehmungsmustern arabischer Intellektueller in den 1930er Jahren und während des Zweiten Weltkriegs.
Auch religiöse Führer wie der Mufti von Jerusalem Amin al-Husseini, der sich auf der Flucht vor den Briten längere Zeit in Deutschland aufhielt und mit Hitler und Himmler zusammentraf, werden behandelt. Dessen notorischer Antisemitismus aber wurde zu Unrecht "auf alle Araber Palästinas projiziert". Überhaupt beruhte das "in den ersten Kriegsjahren beobachtbare Wohlwollen der ägyptischen oder arabischen Öffentlichkeit" nicht auf Übereinstimmung mit der rassenideologischen Lehre des Nationalsozialismus, die nur von einer "winzigen Minderheit" geteilt worden sei. Vielmehr waren es die von Chaim Weizmann schon 1919 geäußerte Absicht, "Palästina so jüdisch zu machen wie England englisch", und dann die Tatsache der Staatsgründung auf Kosten der Palästinenser, die den "arabischen Judenhass" hervorbrachten.
Der zweite Teil des Buches ist der Entwicklung seit 1948 gewidmet. Achcar stellt sie extrem einseitig als Abfolge militärischer Gewalthandlungen Israels dar, die wiederum zu Veränderungen im arabischen Lager führten. Nach der Niederlage 1948 sei das arabische Meinungsspektrum zusammengeschmolzen. Die westlich orientierten Liberalen und die Marxisten verloren den Boden unter den Füßen. Auch die Panislamisten sahen sich geschwächt. Übrig blieben die arabischen Nationalisten mit Gamal Abdel-Nasser als Integrationsfigur. Er sei kein Antisemit gewesen, auch kein Bewunderer Hitlers, sondern habe seine Politik in erster Linie als antiimperialistischen Kampf verstanden. Worin das "fortschrittliche Potential des arabischen Nationalismus" bestand, lässt Achcar offen, sieht es aber mit der Niederlage im Sechs-Tage-Krieg 1967 "erschöpft". Die nun folgenden PLO-Jahre erscheinen mit dem Einmarsch Israels 1982 im Libanon und der Vertreibung der PLO aus Beirut als neue Stufe "israelischer Kriegsverbrechen", als "Abstieg in die Barbarei".
Auch die in ihrer Vielfalt und Zerrissenheit geschilderte arabische Welt wird nicht geschont. Achcar zeigt sich deprimiert über Stimmen, die ein "erschreckendes Maß an Ignoranz" erkennen lassen, und über "Regimes", die dies noch fördern, die er aber nicht beim Namen nennt. Die Initialzündung zu allem sieht er allerdings in der Gründung eines jüdischen Staates als "zionistischer Kolonialmacht" mit der seitdem nicht mehr abbrechenden "frenetischen Beschwörung des Holocaust durch Israel". Der narrative Schlachtenlärm - und hoffentlich nur dieser - wird wohl noch eine Weile zu hören sein.
GOTTFRIED NIEDHART
Gilbert Achcar: Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen. Edition Nautilus, Hamburg 2012. 368 S., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gottfried Niedhart sieht den Autor in den Fußstapfen Edward Saids. Wenn Gilbert Achcar den Kampf um die Deutungshoheit zu den Ursachen und Verläufen des israelisch-palästinensischen Konflikts untersucht, den Wurzeln des Konflikts nachspürt und zur Aufklärung aufruft, fühlt sich Niedhart allerdings mitunter recht einseitig informiert. So spricht der Autor von der "zionistischen Kolonialmacht" Israel und schildert etwa die Entwicklung seit 1948 als eine Reihe militärischer Gewalthandlungen Israels. Dass Achcar der Versuchung widersteht, mit allzuviel Quellenmaterial zu hantieren und der Autor stattdessen ein differenziertes Bild der Lage arabischer Intellektueller während des Zweiten Weltkriegs zeichnet, gefällt dem Rezensenten hingegen gut.
© Perlentaucher Medien GmbH
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