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Jonas ist allein. Zuerst ist es nur eine kleine Irritation, als die Zeitung nicht vor der Tür liegt und Fernseher und Radio nur Rauschen von sich geben. Dann jedoch wird Jonas klar, dass seine Stadt, Wien, menschenleer ist. Ist er der einzige Überlebende einer Katastrophe? Sind die Menschen geflüchtet? Wenn ja, wovor? Jonas beginnt zu suchen. Er durchstreift die Stadt, die Läden, die Wohnungen und bricht schließlich mit einem Truck auf, um nach Spuren der Menschen suchen. Mit wachsender Spannung erzählt Thomas Glavinic davon, was Menschsein heißt, wenn es keine Menschen mehr gibt.

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Produktbeschreibung
Jonas ist allein. Zuerst ist es nur eine kleine Irritation, als die Zeitung nicht vor der Tür liegt und Fernseher und Radio nur Rauschen von sich geben. Dann jedoch wird Jonas klar, dass seine Stadt, Wien, menschenleer ist. Ist er der einzige Überlebende einer Katastrophe? Sind die Menschen geflüchtet? Wenn ja, wovor? Jonas beginnt zu suchen. Er durchstreift die Stadt, die Läden, die Wohnungen und bricht schließlich mit einem Truck auf, um nach Spuren der Menschen suchen. Mit wachsender Spannung erzählt Thomas Glavinic davon, was Menschsein heißt, wenn es keine Menschen mehr gibt.
Autorenporträt
Thomas Glavinic wurde 1972 in Graz geboren. 1998 erschien sein Debüt Carl Haffners Liebe zum Unentschieden. Es folgten u.a. Die Arbeit der Nacht (2006), Das bin doch ich (2007), Das Leben der Wünsche (2009) und Das größere Wunder (2013). Seine Romane Der Kameramörder (2001) und Wie man leben soll (2004) wurden fürs Kino verfilmt. Thomas Glavinic erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Seine Romane sind in 18 Sprachen übersetzt. Er lebt in Wien.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.09.2006

Das letzte Tier auf diesem Planeten
Was ist der Mensch, wenn keine Menschen mehr da sind? Thomas Glavinics grausam fesselnder Roman „Die Arbeit der Nacht”
Zuerst merkt er es gar nicht. Wie auch. Die Vorstellung, alleine zu sein, radikal alleine, der letzte Mensch auf Erden, ist zu absurd, als dass man sie auch nur für einen Moment in Erwägung ziehen könnte. Morgens fehlt die Zeitung auf der Türmatte; beim morgendlichen Surfen durchs Internet erscheinen nur Fehlermeldungen; ans Telefon geht auch keiner. Kann alles passieren. Erst an der Bushaltestelle beschleicht Jonas, einen durchschnittlichen 34-jährigen Bewohner Wiens, ein merkwürdiges Gefühl. „Da war nichts. Keine davoneilenden Schritte, kein Räuspern, kein Atem. Nichts.”
Was bleibt, wenn keiner mehr da ist, nicht einmal ein Tier? Die Stille. Die Dinge. Die Zeit. Und die eigenen Träume. Wobei diese erst später wichtig werden, wenn Jonas langsam bewusst wird, was das heißt: Alleine sein, einziger Überlebender eines unerklärlichen Geschehens. Erstmal stürzt er sich in panischen Aktionismus, fährt durch die Stadt, zur Wohnung seines Vaters. Zum Bahnhof. Aber es bleibt dabei: Keiner da. Und nichts, dass das Verschwinden der übrigen Menschheit erklären könnte.
Was für ein geradezu tollkühnes Experiment für einen 400-Seiten-Roman. Ein einziger Mensch. Niemand, mit dem er streiten, sich lieben, sich unterhalten kann. Die Sprache hat ausgedient in Jonas’ Welt, sie wird in dem Moment, da sie nicht mehr Kommunikationsmittel ist, unsinnig und redundant. Jonas redet noch ab und zu vor sich hin, Stummelsätze, mit denen eigentlich die eigene Angst vertrieben werden soll, die ihm dann aber in den Ohren klingen wie ein unheimliches Echo: „Hehe, wir werden ja sehen.”
Das Ich und der Schläfer
Thomas Glavinic hat mit „Die Arbeit der Nacht” einen so eindringlichen Roman über die Einsamkeit, den Wahnsinn, die Nacht und das Schweigen der Dinge geschrieben, dass man selbst als ja eigentlich kühl lesender, mit Bleistift bewaffneter Rezensent mehrere Nächte hintereinander lieber mit Licht einschläft, so unsicher lässt einen dieses Buch zurück.
Jonas, diese winzige, letzte Insel im Ozean der Einsamkeit, versucht, „normal” zu bleiben. Aber wie weiß man in solch einer komplett verrückten Situation, ob man noch normal ist? Man kann sich nur minutiös selbst beobachten. Wie soll er aber sicher sein, dass das, was er beobachtet, „normal” ist? Und dass er richtig beobachtet? Glavinic führt dieses hermeneutische Dilemma durch die erzählerische Idee der Selbstüberwachung vor: Jonas filmt sich nachts mit einer Videokamera und schaut sich tagsüber die Bänder an. Anfangs fällt ihm nichts auf. Der Horror beginnt, als er auf einem der Bänder sieht, wie er nachts aufsteht, um aufs Klo zu gehen. „Als er an der Kamera vorbeikam, winkte er, lächelte schief und sagte: ,Ich bin es, nicht der Schläfer.’”
Glavinic spielt im Folgenden meisterhaft mit dieser Urangst des Menschen, dass man hinter dem Rücken der eigenen Vernunft noch jemand anders sein könnte; dass da noch jemand in einem wohnt. Ein Schläfer, den man sonst nicht zu Gesicht bekommt. Ist also alles nur die Psychose eines Schizophrenen? Oder ist das Ganze ein Wachtraum? Schließlich schickt Jonas im allerersten Absatz des Buches an seine Geliebte Marie eine SMS, in der Wachen, Träumen und Schlafen ineinander übergehen: „Gut geschlafen? Habe von Dir geträumt. Dann festgestellt, dass ich wach war.”
Thomas Glavinic definierte das Schreiben einmal „als Dauerbeschäftigung, ohne die ich mich vermutlich früher oder später in der einen oder anderen Form des betreuten Wohnens wiederfinden würde”. Dieser Form der Psychohygiene verdanken sich bisher vier Bücher, von denen jedes einen so eigenen Ton hat, als wären da vier unterschiedliche Autoren am Werke gewesen. Interessant im Zusammenhang mit „Die Arbeit der Nacht” ist Glavinics dritter Roman, die monströse Mediensatire „Der Kameramörder”, in der Glavinic mit dem Überraschungseffekt eines schizoiden Erzählers spielte, eines Erzählers also, der eigene Handlungen soweit von sich abgespalten hat, dass er darüber wie ein neutraler Zuschauer berichten kann: Ein österreichischer Privatsender hält das ganze Land in Atem, indem er häppchenweise die widerwärtig sadistischen Kindermorde zeigt, die ein Mann mit einer Kamera gefilmt und dann an den Sender geschickt hat. Der Erzähler sitzt mit seiner Geliebten und einem befreundeten Paar vor dem Fernseher und erzählt in grotesk protokollarischem Stil von dem gemeinsam verbrachten Fernseh-Wochenende. Erst im letzten Absatz stellt sich heraus, dass er der Mörder der Kinder war und sein eigenes Tun filmte.
„Die Arbeit der Nacht” ist auch deshalb ein so außergewöhnlicher Roman, weil Glavinic alles in der Schwebe lässt. Wachtraum, Psychose, Horrorfilm – man kann Interpretationsmöglichkeiten und Verweise finden ohne Ende: Jona, der Prophet, der vor dem Willen Gottes fliehen will und dafür die tiefste Einsamkeit erfahren muss, im stockdunklen Bauch eines Wales, dreihundert Meter unter der Meeresoberfläche; Stephen Kings schwarze Phantasmen; Actionfilme wie „Mission impossible”; Sigmund Freuds Aufsatz über das Unheimliche als einst Vertrautes, das verdrängt wurde, sich verborgen hielt und im unheimlichen Erlebnis in entfremdeter Form wieder auftaucht – all das hat Glavinic so tief eingewoben in seinen Text wie Stimmen, die man in einem Alptraum undeutlich hinter einer Tapete wispern hört. Und wie in einem Traum verwandeln sich die Dinge um ihn herum fortwährend, sind das eine Mal vertraute Zeichen eines untergangenen Alltags, ein anderes Mal reptilkalte Beobachter, die ihn schweigsam anstarren, mal stille Verbündete: „Das Haus, erinnerte es sich?”
Was ist der Mensch, wenn keine Menschen mehr da sind? Was bleibt von ihm außer seiner Angst, seiner Hilflosigkeit schon bei schlichten Zahnschmerzen und ein paar Erinnerungen, die er mit keinem mehr teilen kann?
In der Verzweiflung die Liebe
Marlen Haushofer hat Anfang der sechziger Jahre in ihrem Roman „Die Wand” ein ähnliches Szenario durchgespielt: Eine Frau ist plötzlich durch eine unsichtbare Wand abgeschirmt von der Außenwelt, alleine mit ein paar Tieren. Bei Haushofer waren der Stillstand von Geschichte und die damit einhergehende Schwerelosigkeit, zwar bedrückend aber auch befreiend, ja sie erlebt mit ihrem Hund inmitten der Naturidylle ein paar geradezu bukolisch friedliche Momente. Für Jonas ist es nicht einen Moment lang schön, allein zu sein. Gut, er holt sich ein schnelles Auto und eine Pumpgun. Das hat aber nichts mit Allmachtsphantasien zu tun, die er jetzt, da alle Schranken und Normen von ihm abfallen, endlich einmal ausleben könnte. Er traut sich ohne das Gewehr schlicht nirgends mehr hin.
Auf seiner gehetzten Suche nach weiteren Überlebenden, Erklärungen, Zeichen denkt er oft an den verschollenen Polarforscher Roald Amundsen, an den im All vor sich hin werkelnden Marsroboter und an einen Eiszylinder, den Forscher in der Antarktis aus einem Kilometer Tiefe gebohrt haben. Selbst als er am Ende in einer Art Road Movie einen Wettlauf mit der Nacht antritt, quer durch Europa, in einem Truck, kommen da keine Freiheitsgefühle auf. Im Gegenteil, immer schrecklichere Dinge geschehen mit ihm, sobald er schläft, bis man nicht umhin kann zu glauben, dass es die Nacht selbst ist, die ihm geradezu höhnisch ihre Allmacht vorführt und ihm eigentlich keinen Ausweg lässt.
Freiheit schenkt ihm am Ende nur ein starkes Medikament, das den Schlaf unterdrückt und ihm somit gestundete Zeit schenkt, ein paar Tage nur, in denen er zumindest sein eigenes Ende so arrangieren kann, wie er das will. Wie Jonas sich tatsächlich einen Freiraum erkämpft, und wie er, dieses allerletzte Säugetier auf dem Planeten Erde, das nicht weiß, warum es übrig gelassen wurde, noch im freien Fall an die Liebe glaubt, das ist nach den 400 Seiten, durch die man sich teilweise wie durch einen engen Tunnel hindurchgelesen hat, so verstörend schön wie helles Sonnenlicht nach einer schrecklichen Nacht.
ALEX RÜHLE
THOMAS GLAVINIC: Die Arbeit der Nacht. Roman. Hanser Verlag, München 2006. 400 Seiten, 21,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.09.2006

Der Herbst kann kommen
Zwischen Heimat und Hollywood: Selten war die deutschsprachige Literatur so welthaltig wie heute. Ein Ausblick auf die neuen Bücher

Sie sind alle wieder da in diesem neuesten Herbst, die alten und die neuen Protagonisten aus der Welt der deutschsprachigen Literatur. Die alten Könige, die jungen Streber, die Schaumschläger, die Eindringlinge, die ewigen Platzhirsche und die echten Revolutionäre. Während einige sich vor Jahren in einer Endlosschleife verirrt haben, aus der sie sich ein Leben lang nicht mehr herausschreiben können, jagen andere von Idee zu Idee, von Neuerfindung zu Neuerfindung.

Einer der größten Neuerfinder der deutschen Gegenwartsliteratur ist der Unternehmer und Schriftsteller Ernst-Wilhelm Händler (8). Der sich mit jedem neuen Buch tief in ein neues Gesellschaftssystem hineinfräst und dieses mit den Mitteln der literarischen Tradition umkreist und erleuchtet, wie es kein zweiter kann. Klingt synthetisch, ist aber ungeheuer lebendig und widerständig und klug. Dieses Mal ist es die Welt der Literatur, der sogenannte Literaturbetrieb. Ein alter, mächtiger, patriarchalischer Verleger, nach dem eine ganze Kultur benannt worden ist (wer dabei nicht an den Suhrkamp-Verleger Unseld denkt, hat die letzten zwanzig Jahre kein Feuilleton gelesen) zwingt einen freien Schriftsteller in seinen Verlag, um das Buch eines Erfolgsautors zu beenden. Er entdeckt zu spät, daß es seine eigene Lebensgeschichte ist, die ihm gestohlen wurde und die er nun unter fremdem Namen für einen Fremden fertigstellen soll. Es geht um das Verhältnis von Leben und Literatur, es geht um Macht, und es geht um uns. Daß der Verlag, in dem dieses Buch erscheint, der des einst verstoßenen Unseld-Sohnes ist, wird das Gerede des Betriebs schön am Laufen halten.

Währenddessen können wir uns schon einmal mit diesem erstaunlichen Experiment beschäftigen. 400 Seiten Roman und nur ein Mensch. Jonas erwacht eines Morgens - und ist allein auf der Welt. Menschen, Tiere, alle sind über Nacht verschwunden. Wir wissen nicht wieso und nicht wohin. Außerirdische, eine geheimnisvolle Bombe, eine Flucht von allen ins Nirgendwo? Jonas ist übriggeblieben, und sein Erfinder, der junge Wiener Autor Thomas Glavinic (6), schickt ihn auf eine Reise durch die leere Welt. Kein Romanstoff könnte langweiliger und ermüdender sein. Glavinic macht daraus ein wahnsinnig poetisches und spannendes Werk.

Auch der Österreicher Christoph Ransmayr (4), mehr als zehn Jahre liegt das Erscheinen seines letzten Romans "Morbus Kitahara" zurück, läßt seine Helden in letzte Einsamkeiten reisen. Zwei Brüder suchen in Osttibet den letzten weißen, unentdeckten Fleck der Welt, den fliegenden Berg. Sie finden ihn, sie glauben ihn zu finden, doch nur einer der beiden kehrt zurück. Die Geschichte erinnert von fern an das Drama von Ransmayrs Freund und Reisegefährten Reinhold Messner und dessen Bruder, der auf einer gemeinsamen Expedition unter noch immer ungeklärten Umständen starb. Ransmayr hat für sein Buch die Versform gewählt. 350 Seiten Verse, das klingt nach Schrecken, doch es ist die passende Form für diese Geschichte aus einer archaischen Welt der Gegenwart. Man liest sich schnell hinein.

Einige hundert Kilometer südwestlich hätte der Reisende auf den entschlossenen Reporter Helge Timmerberg (2) treffen können. Schon fast eine Legende aus alten "Tempo"- und anderen Zeiten, reist er mit seiner grauen Mähne auf knapp zweihundert Seiten durch das Indien der Gegenwart und bereitet uns auf die unübersehbare Zahl indischer Bücher zum diesjährigen Buchmesseschwerpunkt vor. "Fiction oder Non-Fiction?" fragt ihn die alte Korrespondentin, die er bei seiner Ankunft in Delhi besucht. "Non-Fiction", sagt er stolz, und sie entgegnet, oh, da müsse er sich beeilen, wenn er noch in den Himalaja wolle, die Pässe würden demnächst geschlossen. Der Nachteil der Wirklichkeitsbeschreiberei: ständig muß man hetzen.

Wie auch Thomas Meinecke (13), den man meist mit Plattenkoffer unterm Arm, unterwegs von einem "Auflegen" zum anderen, trifft. Der hat in einem neuen Erzählungsband aufs herrlichste "historische Kippmomente der sexuellen Kulturen" festgehalten und nacherzählt. Und vor allem findet der gender- und theoriebegeisterte Meinecke in diesen Geschichten über Andy Warhol, Richard Gere und Cindy Crawford zu einer theoriegrundierten, aber kaum mit Theorie prahlenden Erzählfreude wie seit langem nicht mehr.

Oooh, die Hochglanzwelt, der schwule Glamour, das ist aber nicht die Welt des Schweizer Autors Peter Stamm (18). Die Ruhe in seinen Büchern ist schon legendär. In seinem neuesten ist es wieder ganz besonders still. Er hat inzwischen fast schon so etwas wie eine Gemeinde um sich und seine Bücher versammelt. Aber auch jede Menge Feinde, die behaupten, hinter all der Stille und all den gläsernen Menschen fände sich kein Geheimnis, sondern: Nichts. Doch wir wissen, in Wahrheit ist dort: Poesie.

Und dieser frühere Poet der Stille hat als Protagonisten seines neuen Romans einen Terroristen gewählt. Christoph Peters (7) beschreibt das Leben eines gescheiterten deutschen Selbstmordattentäters in Ägypten im Jahr 1993. Peters (auf unserem Bild leider unsichtbar), der sich selbst als geläuterten "katholischen Fundamentalisten" bezeichnet, wagt viel beim Versuch, die Motive des jungen Terroristen nachvollziehbar zu machen. Im Gespräch mit dem um seine Begnadigung bemühten deutschen Botschafter, der einst RAF-Sympathisant war, entwickelt Peters eine Phänomenologie des Terrors, die er über weite Strecken überzeugend und spannend erzählt und die ihm an entscheidenden Punkten dann doch phrasenhaft und ausgedacht gerät.

Die politische Autorin und ewige Kleinschreiberin Kathrin Röggla (1) (also kathrin röggla) beschreibt in zwei Essays ihre Faszination für Katastrophen. "es ist so. mich faszinieren katastrophen . . . ganz einfach, weil ich mit dem phantasma der atomkatastrophe aufgewachsen bin und mich in diesem genre quasi zuhause fühle." Das Genre sind Katastrophenfilme, und Röggla beschreibt diese Katastrophenerfahrung als Stadterfahrung, schreibt sie, von den Baldwin Hills aus Los Angeles überblickend. Und beschwört die moderne Großstadt als Ort der "sozialen realitäten, widersprüche - also der ort der literatur und somit in doppelter hinsicht der ort meiner existenz".

Das Gegenteil dessen, was Florian Illies (14) als Sehnsuchtsort einer imaginären oder wirklichen "Vormoderne" in seinem Heimatstädtchen Schlitz erkennt. Ein Fluchtpunkt aus der Welt des Hybriden und der ewigen Beschleunigung heraus. "Die Welt rast voran, aber an der Wand neben dem Kachelofen im Schwarzen Grund 17 geht die Zeit auch schon mal rückwärts. Nicht zuletzt deshalb hat dieses Haus eine solche magnetische Anziehungskraft, die man selbst auf Satellitenbildern zu spüren meint."

Und dieser Mann blickt gerade eher in zukünftige Welten. Jakob Arjouni (16), der einst den großen Detektiv Kayankaya erfand und uns mit "Magic Hoffmann" den schönsten Wenderoman schenkte. Sein neues Buch ist ein Zukunftsroman aus dem Jahr 2064. Die Welt ist durch eine Mauer in Arm und Reich geteilt, und es regieren Terrorangst und totale Überwachung. Sehr gut gemeint und sehr ausgedacht.

Auch der Österreicher Wolf Haas (21) hatte mit einem Krimihelden geradezu kultischen Erfolg, doch nach seinem letzten "Brenner"-Roman erklärte er, damit sei jetzt Schluß. Er wolle ganz was anderes machen. Alle sagten: Das wird schwierig. Daß er es seinen Lesern aber so schwermachen würde, das ist dann doch eine Überraschung. Statt einen Roman zu schreiben, läßt er eine Dame namens "Literaturbeilage" auf mehr als zweihundert Seiten einen Romanautor namens Haas über einen Roman interviewen, von dem wir nur in Andeutungen die (sehr schöne) Handlung erfahren. Das kann man nicht wirklich durchlesen, und man hätte sich so sehr gewünscht, daß ihn irgend jemand vor dieser, ja nun: "Idee" bewahrt hätte.

Da ist der alte Erinnerungsmeister Walter Kempowski (gerade nicht im Bild) traditioneller. Er erzählt noch einmal eine Ostpreußengeschichte, eine Fluchtgeschichte, eine Geschichte vom Ende des Krieges. Alle treten noch einmal auf im alten Gut Georgenhof, SS-Männer, flüchtende Juden, Zwangsarbeiter, ahnungslose Kinder und eine gute, alte Familie, die im Angesicht des letzten Schreckens noch Silberlöffel zählt und putzt.

Ja, und unserem Nobelpreisträger war da ja noch ein kleines Lebensdetail wieder eingefallen, mit dem er den Betrieb ein weiteres Mal am Laufen hält, mit einem Buch, das in seinem endlos mäandernden Umständlichkeitsstil mehr verschweigt als verrät. Aber das mit großen Worten. Das ist aber noch längst nicht das letzte Geheimnis des Günter Grass (15). Oder wissen Sie schon, wo er eigentlich am 11. September war? Also.

Am ersten Jahrestag der Anschläge war der Held von Thomas Hettches (20) neuem Roman in New York. Er sucht die Spuren eines jüdischen Emigranten, über den er eine Biographie schreiben will, und verliert auf der Suche seine Frau. Auf der Suche nach ihr gerät er immer tiefer in das Land hinein, ins Landesinnere und in die Mythenwelt des amerikanischen Films. Es ist auch eine Suche nach sich selbst, dem eigenen Herkommen, und daß ein deutscher Autor im Jahr 2006 dies nicht nur in der deutschen Geschichte, sondern eben auch in der Bilderwelt von Hollywood sucht, ist sehr erfreulich. Doch die Reise ist auch eine Reise in ein untergehendes Reich. Amerika ist das späte Rom. Präsident Bush der Claqueur des letzten Niedergangs.

Auch Helmut Krausser (12) (Jahrgang 1964, wie Hettche und Arjouni) läßt seinen Erzähler eine Auftragsbiographie schreiben. Ein sterbender Industrieller erzählt ihm die Geschichte der Liebe seines Lebens. Eine ewig verfehlte Liebe natürlich, die einst im Luftschutzkeller bei einem Fliegerangriff schüchtern begann. Dann wird ihm die Geliebte per Landverschickung entzogen, und sein Leben lang wird er sie suchen, immer wieder kurz finden, um sie schließlich endgültig zu verlieren. Wir durchstreifen die deutsche Geschichte, Studentenbewegung, RAF, Flucht in die DDR und wieder zurück. Wer hatte gesagt, daß die deutsche Gegenwartsliteratur zu wenig will, zu wenig wagt?

Alles Unsinn! Lesen Sie doch zum Beispiel einmal den neuen Roman von Bernd Schroeder (9). Das ist auch eine Jahrhundertgeschichte. Die Geschichte des Hochstaplers, Akademikers, genialen Geschichtenerfinders und möglichen Mörders Karl Hau. Der sich die Ehe mit Lina Molitor erschlich, mit ihr nach Amerika floh und - vielleicht - wenige Jahre später seine Schwiegermutter ermordete. Dafür zum Tode verurteilt und später zu lebenslanger Haft begnadigt wurde und in der Weimarer Republik zwei sensationelle Bestseller über sein Schicksal schrieb - was für ein Buch, was für eine Geschichte!

Wie auch Felicitas Hoppe (19), die große Sprachumtänzlerin, Weltreisende im Container, aber immer frisch gebügelt. Wie sie die Geschichte von Johanna von Orléans in ihrem neuen Buch nicht erzählt, wie sie sie umspringt und weitererzählt, umerzählt, von den wahren Protokollen ihres Prozesses erschüttert, wie sie sie als Sprungbrett in eine neue Welt benutzt und sich weit hinüberschießen läßt, in ein Johanna-Universum - zum Staunen.

So wie das Strauß-Universum, die Welt von Botho Strauß (17), die eigentlich die unsrige ist, deren Bewohner er aber mit einer sonderbaren Röntgenbrille durchleuchtet. Ihre Sehnsucht, ihre Einsamkeit, die stolzen und lächerlichen Gedanken. Strauß hat einmal gesagt, er schreibe eigentlich immer nur am selben Buch. Aber dieses eine wird mit jedem Neuerscheinen besser.

Die Welt der weisen Darmstädterin Gabriele Wohmann (10) muß weniger hell durchleuchtet werden. Die Geheimnisse der langsam alternden Bewohner ihrer Geschichtenwelt liegen offen zu Tage. Und auch ihr Humor. Sie leben so lange schon zusammen, daß die ewige Frage "Heiraten oder nicht" zu einem letzten Witz geworden ist. Die Kinder sagen über ihre Vorgänger: "Meine Eltern haben eine bescheuerte Angst davor, eines schönen Tages die älteste Generation zu sein." Und die Eltern sagen: "Es wird zur Zeit zu viel gestorben."

Deshalb heißt es: lieben, was das Leben noch möglich macht. Wie Martin Walsers (5) greiser Held, der gegen Ende seines Lebens einer wahren Körpersucht erliegt und von seiner Frauengier fast getötet wird: "Er ist enttäuscht. Er hatte gehofft, im Alter nehme eine Art Sterbebereitschaft zu." Doch er hat sich getäuscht. Nur Lebensbereitschaft. Letzte Lebensgier.

Auch die neununddreißigjährige Annette Pehnt (11) schreibt vom Alter und von der Zeit, die ganz gewiß kein Heldentum mehr verspricht. Wenn keine Erinnerung mehr bleibt, wenn die Demenz regiert. Die Welt des Pflegeheims, des letzten Abschieds. Es ist allerdings unendlich schwer, dieser Welt des letzten Schweigens eine literarische Dramatik abzugewinnen.

Wie schön das Bild, das der Schweizer Autor Thomas Hürlimann (3) für den Beharrungswillen des Lebens gegen den Tod fand. Vierzig Rosen bekommt Marie Jahr für Jahr für Jahr von ihrem Mann. Ein ewiges Ritual gegen das Altern. Für immer vierzig. Und die Welt um sie herum, ihre Welt des Aufstiegs bis in die höchsten Staatsämter hinein, verfällt. Der Mensch verfällt. Die vierzig Rosen kommen jedes Jahr. Schön und frisch wie immer. Irgendwann erscheinen sie nur noch als Hohn. Als grausames Bild des eigenen Verfalls. Marie: "Wir haben die Zeit herausgefordert. Wir haben sie zu stauen versucht. Und jetzt, Max, jetzt demonstriert sie uns ihre Macht!"

VOLKER WEIDERMANN

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Als typische "Männerphantasie" erscheint Maike Albath die Ausgangslage des Romans "Die Arbeit der Nacht" von Thomas Glavinic, der sie aber zunächst noch durchaus willig zu folgen bereit ist. Eines Morgens wacht Jonas auf und muss feststellen, dass er plötzlich vollkommen allein auf der Welt ist und alle anderen Menschen aus unerfindlichen Gründen vom Erdboden verschwunden sind. Was zunächst noch als interessantes und erschreckendes Experiment fesselt, nutzt sich aber nach Meinung der Rezensentin schon nach dem ersten Drittel des Buches enorm ab und wird immer einförmiger. Der Handlungsverlauf, der keine wirkliche Entwicklung mehr erfährt und durch das Stilmittel der Wiederholung den fortschreitenden Zerfall der Hauptperson verbildlichen soll, kann die Rezensentin nicht mehr recht bei der Stange halten und ganz offensichtlich beginnt sie sich zu langweilen. Albath findet, dass der Autor nach einem durchaus atemberaubenden Ausgangspunkt dann doch nur ein "lebloses" Buch geschrieben hat, was ihrer Meinung nach nicht zuletzt an der strikten Außenperspektive eines sehr sachlichen Erzählers und der Beschränkung auf einen einzigen Protagonisten liegt.

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'Die Arbeit der Nacht' ist ein kluger Roman über die Einsamkeit, der unter anderem zeigt, dass man sich gerade in Anbetracht großer Ungewissheit und fehlender menschlicher Kontakte vor Paranoia in Acht nehmen sollte. Nils Neuhaus Berliner Morgenpost 20200322