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Auf der Flucht vor den Deutschen gelangt Walter Benjamin im September 1940 auf einem alten Schmugglerpfad vom französischen Grenzort Banyuls-sur-Mer ins nordspanische Portbou. Tags darauf setzt er seinem Leben ein Ende. Acht Jahrzehnte später nimmt Marica Bodrozic den letzten Weg des großen deutschen Schriftstellers und Philosophen zum Anlass, um über unsere Zeit, die Komplexität von Lebensläufen und Identität, Freundschaft und Flucht nachzudenken. Für sie wird der Gang über die Pyrenäen zu einem luziden Denkweg, auf dem die Natur als synästhetisches Gefüge mitspricht. Die äußere Bergwelt…mehr

Produktbeschreibung
Auf der Flucht vor den Deutschen gelangt Walter Benjamin im September 1940 auf einem alten Schmugglerpfad vom französischen Grenzort Banyuls-sur-Mer ins nordspanische Portbou. Tags darauf setzt er seinem Leben ein Ende. Acht Jahrzehnte später nimmt Marica Bodrozic den letzten Weg des großen deutschen Schriftstellers und Philosophen zum Anlass, um über unsere Zeit, die Komplexität von Lebensläufen und Identität, Freundschaft und Flucht nachzudenken. Für sie wird der Gang über die Pyrenäen zu einem luziden Denkweg, auf dem die Natur als synästhetisches Gefüge mitspricht. Die äußere Bergwelt verschmilzt mit der inneren Lebenslandschaft. Kunstvoll webt Marica Bodrozic in ihren Gedankenstrom die Schicksale auch anderer Intellektueller ein, die der Gewalt des 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren - etwa der Widerstandskämpferin Lisa Fittko oder des Dichters Ossip Mandelstam. Entstanden ist dabei eine überzeitliche Wanderung durch die inneren Landschaften der Seele, die das schmerzverzahnteGedächtnis mit dem leuchtenden Kern von Poesie verbindet. »Ein großes Projekt des Denkens ganz im Geiste Benjamins.« (Paul Reitter).
Autorenporträt
Marica Bodroi¿ wurde 1973 in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays, die in über sechzehn Sprachen übersetzt wurden. Für ihr bisheriges Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis, dem Manès-Sperber-Literaturpreis für ihr Gesamtwerk sowie dem Irmtraud-Morgner-Preis. Marica Bodroi¿ lebt mit ihrer Familie als freie Schriftstellerin in Berlin und in einem kleinen Dorf in Mecklenburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2022

Unter dem Horizont der persönlichen Fixsterne
Der Pfad führt sie zu sich selbst: Marica Bodrozic geht den letzten Weg von Walter Benjamin nach

Ein "Denk-, Essay- und Erzählprojekt" nennt die aus Dalmatien stammende Schriftstellerin Marica Bodrozic ihren neuesten Roman; es mögen auch "Seelenstenogramme" (so der Untertitel) sein; sicher ist, dass die Autorin ihre Leserschaft auf einen langen Weg durch die Abgründe und Höhen des zwanzigsten Jahrhunderts führt. Sie hat viele Weggefährten, die sie aufruft, an die sie erinnert und die ihr den eigenen Weg weisen.

Bodrozic, die gern mit den Vögeln in den Wolken schwebt, hat einen ganz konkreten Plan: Zusammen mit ihrem Mann und im vierten Monat schwanger, verfolgt sie den Pfad von Frankreich aus über die Pyrenäen, den Walter Benjamin im September 1940 wählte, um nach sieben Jahren Exil den Fängen der Nationalsozialisten zu entkommen. Achtzehn Kilometer lang ist dieser Maultierpfad, an dessen Ende, im katalanischen Port-Bou, Benjamin den Freitod suchte. Seine Reise war zu Ende. Für die nachgeborene Schriftstellerin ist dieser letzte Gang des verehrten Philosophen keine biographische Wanderung, keine mögliche Rekonstruktion von Benjamins Gefühlen und Gedanken; sie bleibt, was das Persönliche betrifft, empfindsam zurückhaltend, ja fast nüchtern. Ihren Unwillen erregt, dass heute touristische Schilder den "Walter-Benjamin-Wanderweg" ausweisen.

Ihr Zugang ist ein anderer. Ihr Respekt vor dem bewunderten Philosophen, dem sie emotional nicht zu nahe treten will, schimmert überall durch und leuchtet bis in ihre eigene Kindheit: "Das Sehen sieht in mir zurück und führt mich zu jenem Rest Vergangenheit, der sich als Essenz im Jetzt gerettet hat, der von der grünen Natur meines dalmatinisch-mediterranen Hinterlandes rührt. Die sozialistischen Pioniere meiner Kindheit sind eine lächelnde Bild-Einheit darin. Wie musikalische Ähren wogen sie in mir hin und her, heller Weizen im Wind, frei noch von den späteren Beschriftungen der politischen Zeit sind sie mit einem Mal hier und machen, ätherisch kundig, jene Pyrenäen-Reise mit. Dieses Wogen ist es, das sich mit der Bergluft und mit meinen Lungen verbündet und mich Schritt für Schritt herausfordert."

Ein Jahrhundert der Flucht, des Exils, der Verfolgung und der Menschenrechtsverletzungen wird durchschritten. Berühmte und unbekannte Personen stehen neben ihr und wandern mit. Gulag und Konzentrationslager liegen dicht nebeneinander. Wie Wegmarken tauchen Nadeshda und Ossip Mandelstam, Warlam Schalamow, Karlo Stajner, Ruth Klüger, Gershom Scholem, Paolo Pasolini, Danilo Kis auf, und sie alle vertragen sich gut mit dem Vater der Autorin, einer hundertjährigen alten Frau aus Berlin, die sie über die Pyrenäen begleitet, oder einem Bäcker, der in Berlin den besten Orangenkuchen backt. Bodrozic umreißt einen beklemmenden, aber auch strahlenden Horizont von Fixsternen in ihrem Leben. Dazu gehört auch der Philosoph Franz Rosenzweig und sein Hauptwerk "Der Stern der Erlösung", das die Schriftstellerin seit ihrer Jugend begleitet. Bücher sind der Resonanzboden für das Denken dieser Autorin, denn das Wort und die Sprache kristallisieren die Existenz der Menschen.

Walter Benjamin wird in eine große Republik des Geistes eingemeindet, die generationenübergreifend den kulturellen Humus der Aufklärung bildet. Manchmal klingen die Worte sehr erhaben, ein wenig zu hoch gestimmt, dann wiederum findet die Schriftstellerin ganz einfache Bilder der Erinnerung, die sich wie ein Schlaglicht auf das Leben richten. Eines dieser Beispiele ist der Bericht über ihre erste Lüge als Kind. Bodrozic war 1983 zehn Jahre alt, als die Familie beschloss, als ganze nach Hessen zu ziehen, wo die Eltern bereits arbeiteten. Marica hatte bis dahin glücklich beim Großvater gelebt, der nichts von der bevorstehenden Ausreise wissen sollte. Also musste das Mädchen ihm vorlügen, wenn sie nicht zu Hause sei, dann sei sie beim Zahnarzt, nicht aber bei den Behörden, um ihre Ausreise vorzubereiten. Diese Unaufrichtigkeit dem geliebten Großvater gegenüber hat sich tief in das Bewusstsein des Kindes und bis heute in die Erinnerung der erwachsenen Frau eingefressen - eine Scham, die sie ihr Lebtag nicht verlieren wird.

Auf den Spuren Benjamins durchschreitet die Autorin Welten des Schmerzes und der Erkenntnis, "Seelenstenogramme" einer Kultur des Erinnerns. Walter Benjamin wurde in Port-Bou erst im Jahre 1979, fast vierzig Jahre nach seinem Tod, eine Gedenktafel gewidmet. LERKE VON SAALFELD

Marica Bodrozic: "Die Arbeit der Vögel". Seelenstenogramme.

Luchterhand Literaturverlag, München 2022. 348 S.,geb., 22,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Joseph Hanimann macht sich mit Marica Bodrozic auf und folgt Walter Benjamins Spuren über die Pyrenäen. Was dabei herauskommt, rhythmisch gefasste Landschaftsbetrachtungen, Erinnerungen der Autorin an Lektüren und Empfindungen, Gedanken über Flucht und Verfolgung, Exil und Widerstand, Faschismus und Stalinismus, findet Hanimann lesenswert, auch wenn nicht alles bei ihm verfängt und die Assoziationen der Autorin ihm mitunter etwas vernebelt vorkommen. Am liebsten ist ihm Bodrozic, wenn sie klar reflektiert oder erhellende Zusammenhänge herstellt, etwa zwischen Überlebensprotokollen aus der Sowjet-Haft von Pawel Florenski und Benjamins letztem Gang.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.08.2022

Archaische
Stille
Marica Bodrožić ist auf den Spuren
Walter Benjamins über die Pyrenäen gewandert.
Und hat die Zeitdimension jenseits der
Menschheitskatastrophen gefunden
VON JOSEPH HANIMANN
Gehen und Denken bilden seit den griechischen Peripatetikern einen Zusammenhang. Jener zwischen Wandern und Denken ist jüngeren Datums. Fliehen und Denken dagegen stehen fast schon in einem Widerspruch zueinander. Im Spannungsfeld dieser Pole bewegt sich dieses Buch: Mit offenen Sinnen für Landschaften, Leseerinnerungen und eigene Empfindungen hat die Essayistin, Gedicht- und Romanautorin Marica Bodrožić noch einmal die letzte Etappe von Walter Benjamins Fluchtweg 1940 über die Pyrenäen abgeschritten. So ein Unternehmen ist der für Gedankenbilder und schillernde Begriffspoesie bekannt gewordenen Autorin wie auf den Leib geschnitten.
Das Nachdenken über Verfolgung, Gefangenschaft, Widerstand, Exil stellt sich ihr im Rhythmus des Ein- und Ausatmens ein, beim bald beschwerlichen, bald beglückenden Aufstieg über den Pyrenäenweg. Betrachtungen über die Geschichtsnarben von Faschismus und Stalinismus wechseln einander ab. Bedrückt bemerkt Bodrožić wie altüberlieferte Zauberwelten durch narzisstisch moderne Sofortkommunikation verdrängt werden. Besorgt denkt sie an die Wonnen des spätkapitalistischen Überangebots und beruhigt sich wieder angesichts der betörend schön erhaltenen Landschaften von Banyuls-sur-Mer bis zum nordspanischen Portbou.
Als Lesender nimmt man das eine oder andere davon mit, hält manchmal inne, geht an anderem achtlos vorbei und beschleunigt mitunter den Gang wie beim Durchqueren eines uns persönlich nicht besonders ansprechenden Landstrichs. Jeder muss sich seinen eigenen Weg bahnen durchs Gelände dieser Seelenstenogramme aus Assoziationen, Zitaten und historischer Spekulation.
Denn alles, was die Autorin beim „Nach-Innen-Sprechen“ wahrnimmt auf dem ihr zuarbeitenden Weg, ist für sie eine Sprache geworden, „die Punkte, Kommas und Semikolons verweigert“, und die in absatzlosen Kapiteln die Gedanken in luftige Schlaufen fasst, wie von den beim Wandern allgegenwärtigen Vögel in den Himmel gezeichnet, botschaftslos.
So, schreibt die Autorin, „hat das eindimensionale und Besitzansprüche anmeldende Ich an Einfluss verloren“ und lässt „ein weiter gefasstes, großzügigeres Selbst“ zum Ausdruck kommen. Ein Selbst, das in philosophische und psychoanalytische Tiefenlagen hinabreicht. An manchen Stellen mag sich dieser Assoziationsstrom vernebeln. Meistens führt aber dank des stetigen Themenwechsels mit jeweils nur kurzen Zitatsplittern von Daniil Charms, Ossip Mandelstam, C. G. Jung, Simone Weil, T. W. Adorno, Georges Bataille, Toni Morrison und natürlich Walter Benjamin schnell wieder eine Spur ans klarere Licht der Reflexion. Überlebensprotokolle von Pawel Florenski und Karlo Štajner aus der sowjetischen Haft, die nie überwundene Erinnerung der Pariser Philosophin Sarah Kofman an die Verschleppung ihres Vaters durch die Nazis und eigene Reminiszenzen der Autorin aus ihren Kinderjahren in der sozialistischen Abgeschiedenheit der dalmatischen Berghänge wechseln einander ab. Palmen ragen als Zeugen des Heiligen aus der Landschaft empor und die Schäfer, die umgeben von Tierherden am Haus von Bodrožićs Kindheit vorbeikamen, werden zu biblischen Gestalten „archaischer Stille“.
Einen losen, aber anregenden Zusammenhang erhält das alles durch die Konfrontation mit Benjamins Gang pyrenäenaufwärts im September 1940.
Marica Bodrožić stützt sich dabei vorwiegend auf die Erinnerungen der Flüchtlingshelfer Lisa und Hans Fittko. Der Satz „Wissen Sie, diese Aktentasche ist mir das Allerwichtigste“, den Benjamin beim Aufstieg gesagt haben soll, kommt der Autorin beim Wiederlesen plötzlich „irgendwie schief“ vor, „irgendwie nicht mit der Stimme sagbar“, eher wie eine nachträgliche Eintragung aus dem Gedächtnis. Und selbst die verbürgten Fakten von Benjamins letztem Gang und Suizid erscheinen ihr zweifelhaft. Doch geht es im Buch keineswegs um historische Tatsachenklärung, sondern ums Nachdenken über Realität und Geheimnis einer „seelischen“ Zeit, in welcher Gegenwart und Zukunft verschmelzen. Die Autorin untersucht dies ausgehend vom Kapitel „Ein Gespenst“ aus der „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“. Sie liest dieses Kapitel überzeugend als ein Beispiel vorausgeahnter Zukunft und deutet es im Spiegel des rückwärtsgewandten Engels der Geschichte, den Benjamin in Paul Klees Zeichnung „Angelus Novus“ erkannte.
Was Marica Bodrožić unter den zeitgenössischen Denkern auszeichnet ist, dass sie sich nicht katastrophensüchtig an vergangenen und gegenwärtigen Dramen ergötzt. Selbst über der Erinnerung an Völkermord, Kriege und Diktaturen leuchtet bei ihr eine andere Zeitdimension, die eine „messianische Zuspitzung des Lebendigen mitten im Lebensfeindlichen“ erlaubt. Den Fliehenden um 1940 mag sie oben auf dem Col de Rumpissa beim Grenzübertritt nach Spanien als Erlösung vorgekommen sein, selbst wenn ihr Schicksal wie im Falle Benjamins tragisch endete. Missachtet werde diese Haltung hingegen „von den Leerherzigen, die ihre Verordnungen, ihre neuen Gesetze, ihre tödlichen Wortmaschinen ins Feld führen“.
Sie sei im Sozialismus geboren, aber nie ein auf ideologischen Kampf ausgerichteter Mensch geworden, schreibt die Autorin. Empfänglich geblieben ist sie für die Anwesenheit des Heiligen und für die Wirkung der Gnade – ein wiederkehrendes Wort in ihrem Buch. Von solchen Dingen mit klaren Bildern und Worten sprechen zu können, ohne Abschweifung ins raunende Ungefähr, sondern vor dem Hintergrund einer konkreten historischen Situation, ist ein Verdienst. Es macht aus diesem Buch eine Besonderheit, die Bestand hat.
Kurze Zitatsplitter gibt es auch
von C. G. Jung, Simone Weil,
Adorno, Bataille, Toni Morrison
Nachgedacht wird hier in klaren
Bildern und Worten, ohne
raunendes Ungefähr
Marica Bodrožić: Die
Arbeit der Vögel. Seelenstenogramme. Luchterhand, München, 2022.
348 Seiten. 22 Euro.
„Das eindimensionale und Besitzansprüche anmeldende Ich hat an Einfluss verloren.“ – Die 1973 geborene Essayistin und Schriftstellerin Marica Bodrožić wuchs in Dalmatien und Hessen auf.
Foto: Peter von Felbert/Luchterhand Verlag
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»Ein Buch wie die Wanderung durch die bergige Landschaft, die es beschreibt. Man ist sprachlos ob seiner Schönheit, wird immer wieder an die eigenen Grenzen gebracht und hat am Ende so viel über sich und die Welt gelernt, dass man jemand anderes geworden ist. Ein funkelndes, ein brillantes Kleinod.« Daniel Schreiber