Stellen wir uns vor, alle Produkte, Begriffe, Probleme und Hoffnungen, die mit wissenschaftlichen Erkenntnissen verknüpft sind, seien auf einen Schlag verschwunden. Dann gäbe es keinen Wetterbericht mehr, keine Kopfschmerztablette, kein Internet, keine Lebensversicherung, keine MEZ, keine Mittelschicht, keine Lärmschutzwände an der Autobahn, keinen Klimawandel, keine Träume von Zeitreisen, keine Suche nach dem biologischen Jungbrunnen. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit schaffen permanent neue Normalitäten: politisch, gesellschaftlich, ökonomisch. Doch kennzeichnet eher das Klischee des weltfremden Gelehrten oder des über die Medien vermittelten »Experten« das landläufige Bild von der Wissenschaft.
Was bedeutet es für unser Verständnis der Wissenschaften, wenn ihre Untersuchungen keineswegs immer zielgerichtet zum Erfolg führen? Ist es nicht geradezu zu erwarten, dass wichtige Einsichten unbedacht bleiben und Forschung keine Ergebnisse erbringt? Und wie viel Vorläufigkeit begleitet darum alle Aussagen? Die Fragen, die Christoph Hoffmann stellt, nehmen der Arbeit der Wissenschaften nichts an Bedeutung. Sie sind nicht wissenschaftskritisch, sondern darum bemüht, den Status dieser Arbeit in unserer Zeit näher zu umreißen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Was bedeutet es für unser Verständnis der Wissenschaften, wenn ihre Untersuchungen keineswegs immer zielgerichtet zum Erfolg führen? Ist es nicht geradezu zu erwarten, dass wichtige Einsichten unbedacht bleiben und Forschung keine Ergebnisse erbringt? Und wie viel Vorläufigkeit begleitet darum alle Aussagen? Die Fragen, die Christoph Hoffmann stellt, nehmen der Arbeit der Wissenschaften nichts an Bedeutung. Sie sind nicht wissenschaftskritisch, sondern darum bemüht, den Status dieser Arbeit in unserer Zeit näher zu umreißen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2013Wer hier eintritt, lasse alle Hypothesen fahren
Zwei Bücher widmen sich auf recht unterschiedliche Weise der Rolle wissenschaftlicher Methodik
Chaim Weizmann, der erste Präsident Israels, nutzte die einmalige Gelegenheit: Als er feststellte, dass auch Albert Einstein auf dem Schiff war, mit dem er den Atlantik überquerte, bat er ihn, sich jeden Morgen für zwei Stunden mit ihm an Deck zu treffen, um ihm die Relativitätstheorie zu erklären. Nach der Ankunft, so berichtet Stuart Firestein, war Weizmann überzeugt, Einstein habe die Relativitätstheorie verstanden.
Wenn Sie eine interessante Antwort haben möchten, fragen Sie einen Wissenschaftler nicht nach seinen Ergebnissen, empfiehlt Firestein, selbst Neurowissenschaftler und engagierter Berater für public understanding of science. Fragen Sie lieber, auf welche Fragen er keine Antwort hat oder welche Experimente nicht funktionieren. Denn was die Wissenschaft antreibt, so Firesteins Credo, ist das Nichtwissen (er nennt es missverständlich Ignoranz). In der Öffentlichkeit kommt für Firestein dieser Zug der Wissenschaft zu kurz. In Publikationen, Pressemitteilungen, Preisverleihungen und Förderanträgen gehe es fast ausschließlich um Ergebnisse: "die Wissenschaft hat festgestellt". Firestein lädt seit einiger Zeit Forscher ein, vor seinen Studenten darüber zu sprechen, was sie gerne wissen würden. Einige ihrer Geschichten hat er in sein Buch aufgenommen.
Sie sollen belegen, dass gute wissenschaftliche Antworten Forschungsfelder mit noch mehr Fragen eröffnen. Wissen hingegen, vor allem vermeintliches oder unvollständiges Wissen, kann den Erkenntnisfortschritt behindern. So etwa die bis heute in den Lehrbüchern zu findenden Karten, auf denen die Bereiche der Zunge eingezeichnet sind, die für das Schmecken bestimmter Geschmäcker zuständig sind. Angeblich. Tatsächlich, so Firestein, verdanken sich diese Karten einem Übersetzungsfehler und der Tatsache, dass sie lange nicht hinterfragt wurde. Ähnlich hinderlich seien Hypothesen und Prioritätenlisten mit den wichtigsten Fragen. Wer nicht hypothesengeleitet forsche, sei doch nur auf einem Angelausflug, lästern manche Kollegen. Doch Firestein hält dagegen: Wer glaubt, nicht auf einem Angelausflug zu sein, mache sich etwas vor.
Wir erfahren wenig über die Wissenschaft, wenn wir nur auf ihre Ergebnisse schauen, da ist sich Firestein mit dem Wissenschaftsforscher Christoph Hoffmann einig. Doch Hoffmanns Buch bietet die radikalere Perspektive. Denn Hoffmann fragt, ob einer durch den Vergleich mit einem Anglerausflug doch ein gutes Stück entzauberten Wissenschaft zu Recht die Autorität zukommt, die sie genießt. Etwas verstehen wollen heißt heute automatisch, es wissenschaftlich verstehen zu wollen, so Hoffmann, und niemand frage, ob das immer angemessen sei.
Spontane Philosophie der Wissenschaft nennt Hoffmann diese Einstellung: Was wissenschaftlich begründet ist, hat Wahrheitsanspruch, die Ergebnisse der Wissenschaft haben Wert an sich. Grund für diese Autorität sei die wissenschaftliche Methode. Am Beispiel der Forschung Gregor Mendels und einiger Astronomen erläutert Hoffmann, dass in der Wissenschaft längst nicht alles so geradlinig und ideal läuft, wie der Mythos von der stets effizient kommunizierenden Wissenschaftlergemeinde glauben macht. Da können Entdeckungen durchaus jahrzehntelang unbekannt bleiben, weil niemand sie zur Kenntnis nimmt oder nicht versteht, was er vor sich hat. Der Normalfall sei nicht der gelesene, sondern bestenfalls der überflogene Artikel.
Wissenschaft ist weder ein zielgerichteter noch ein geordneter Prozess, diese basale Einsicht teilen die Autoren. Firestein nimmt sie als Beschreibung einer sympathischen Eigenschaft und betont das Vergnügen am Messen, Tüfteln und Rätseln. Hoffmann betont zwar, das alles sei nicht wissenschaftskritisch gemeint und diene nur dem besseren Verständnis der Rolle von Wissenschaft. Doch er fragt zugleich, warum wissenschaftliches Wissen eigentlich wissenswert sei. Es sei gar nicht gesagt, dass es in allen Fällen für einen Fortschritt steht.
Und während Hoffmann beklagt, dass es in den meisten Fällen keinen Maßstab gibt, um diese Frage zu beantworten, lädt Firestein dazu ein, die Naturwissenschaften einfach zu genießen, wie Malerei oder Musik. Wobei der Laie eben gut daran tue, den Einstieg über das nicht Gewusste zu suchen. Hätte er dies beherzigt, würde Weizmann seine Seereise mit Einstein vielleicht noch mehr genossen haben.
MANUELA LENZEN
Christoph Hoffmann: "Die Arbeit der Wissenschaften".
Diaphanes Verlag, Zürich, Berlin 2013. 174 S., br., 16,95 [Euro].
Stuart Firestein: "Ignoranz". Die Triebfeder der Wissenschaft.
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Verlag Hans Huber, Bern 2013. 164 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei Bücher widmen sich auf recht unterschiedliche Weise der Rolle wissenschaftlicher Methodik
Chaim Weizmann, der erste Präsident Israels, nutzte die einmalige Gelegenheit: Als er feststellte, dass auch Albert Einstein auf dem Schiff war, mit dem er den Atlantik überquerte, bat er ihn, sich jeden Morgen für zwei Stunden mit ihm an Deck zu treffen, um ihm die Relativitätstheorie zu erklären. Nach der Ankunft, so berichtet Stuart Firestein, war Weizmann überzeugt, Einstein habe die Relativitätstheorie verstanden.
Wenn Sie eine interessante Antwort haben möchten, fragen Sie einen Wissenschaftler nicht nach seinen Ergebnissen, empfiehlt Firestein, selbst Neurowissenschaftler und engagierter Berater für public understanding of science. Fragen Sie lieber, auf welche Fragen er keine Antwort hat oder welche Experimente nicht funktionieren. Denn was die Wissenschaft antreibt, so Firesteins Credo, ist das Nichtwissen (er nennt es missverständlich Ignoranz). In der Öffentlichkeit kommt für Firestein dieser Zug der Wissenschaft zu kurz. In Publikationen, Pressemitteilungen, Preisverleihungen und Förderanträgen gehe es fast ausschließlich um Ergebnisse: "die Wissenschaft hat festgestellt". Firestein lädt seit einiger Zeit Forscher ein, vor seinen Studenten darüber zu sprechen, was sie gerne wissen würden. Einige ihrer Geschichten hat er in sein Buch aufgenommen.
Sie sollen belegen, dass gute wissenschaftliche Antworten Forschungsfelder mit noch mehr Fragen eröffnen. Wissen hingegen, vor allem vermeintliches oder unvollständiges Wissen, kann den Erkenntnisfortschritt behindern. So etwa die bis heute in den Lehrbüchern zu findenden Karten, auf denen die Bereiche der Zunge eingezeichnet sind, die für das Schmecken bestimmter Geschmäcker zuständig sind. Angeblich. Tatsächlich, so Firestein, verdanken sich diese Karten einem Übersetzungsfehler und der Tatsache, dass sie lange nicht hinterfragt wurde. Ähnlich hinderlich seien Hypothesen und Prioritätenlisten mit den wichtigsten Fragen. Wer nicht hypothesengeleitet forsche, sei doch nur auf einem Angelausflug, lästern manche Kollegen. Doch Firestein hält dagegen: Wer glaubt, nicht auf einem Angelausflug zu sein, mache sich etwas vor.
Wir erfahren wenig über die Wissenschaft, wenn wir nur auf ihre Ergebnisse schauen, da ist sich Firestein mit dem Wissenschaftsforscher Christoph Hoffmann einig. Doch Hoffmanns Buch bietet die radikalere Perspektive. Denn Hoffmann fragt, ob einer durch den Vergleich mit einem Anglerausflug doch ein gutes Stück entzauberten Wissenschaft zu Recht die Autorität zukommt, die sie genießt. Etwas verstehen wollen heißt heute automatisch, es wissenschaftlich verstehen zu wollen, so Hoffmann, und niemand frage, ob das immer angemessen sei.
Spontane Philosophie der Wissenschaft nennt Hoffmann diese Einstellung: Was wissenschaftlich begründet ist, hat Wahrheitsanspruch, die Ergebnisse der Wissenschaft haben Wert an sich. Grund für diese Autorität sei die wissenschaftliche Methode. Am Beispiel der Forschung Gregor Mendels und einiger Astronomen erläutert Hoffmann, dass in der Wissenschaft längst nicht alles so geradlinig und ideal läuft, wie der Mythos von der stets effizient kommunizierenden Wissenschaftlergemeinde glauben macht. Da können Entdeckungen durchaus jahrzehntelang unbekannt bleiben, weil niemand sie zur Kenntnis nimmt oder nicht versteht, was er vor sich hat. Der Normalfall sei nicht der gelesene, sondern bestenfalls der überflogene Artikel.
Wissenschaft ist weder ein zielgerichteter noch ein geordneter Prozess, diese basale Einsicht teilen die Autoren. Firestein nimmt sie als Beschreibung einer sympathischen Eigenschaft und betont das Vergnügen am Messen, Tüfteln und Rätseln. Hoffmann betont zwar, das alles sei nicht wissenschaftskritisch gemeint und diene nur dem besseren Verständnis der Rolle von Wissenschaft. Doch er fragt zugleich, warum wissenschaftliches Wissen eigentlich wissenswert sei. Es sei gar nicht gesagt, dass es in allen Fällen für einen Fortschritt steht.
Und während Hoffmann beklagt, dass es in den meisten Fällen keinen Maßstab gibt, um diese Frage zu beantworten, lädt Firestein dazu ein, die Naturwissenschaften einfach zu genießen, wie Malerei oder Musik. Wobei der Laie eben gut daran tue, den Einstieg über das nicht Gewusste zu suchen. Hätte er dies beherzigt, würde Weizmann seine Seereise mit Einstein vielleicht noch mehr genossen haben.
MANUELA LENZEN
Christoph Hoffmann: "Die Arbeit der Wissenschaften".
Diaphanes Verlag, Zürich, Berlin 2013. 174 S., br., 16,95 [Euro].
Stuart Firestein: "Ignoranz". Die Triebfeder der Wissenschaft.
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Verlag Hans Huber, Bern 2013. 164 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nicht ganz neu, aber in seiner Radikalität und Nüchternheit erstaunlich und bedenkenswert findet Urs Hafner den Essay des Wissenschaftsforschers Christoph Hoffmann über die Arbeit der Wissenschaften und ihren Nutzen. Das Tabu, Momente des Scheiterns in der Forschung aufzuzeigen, bricht der Autor scheinbar mit Schmackes, anders, als etwa Bruno Latour, der dem Scheitern laut Hafner schließlich doch stets Anteil am Fortschritt einräumt. Wenn Hoffmann den Erkenntnisfortschritt durchweg als Illusion bezeichnet, schießt er für Hafner allerdings übers Ziel hinaus. Mangel an Differenzierungswillen, konstatiert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Kein Internet, kein Wetterbericht, kein Speiseapfel ohne Wissenschaft. So selbstverständlich ist ihr Werk, dass man ganz vergisst, wie denn eigentlich geforscht wird. Diesen Prozess beschreibt Hoffmann in seiner kleinen Schrift ungeschönt und räumt mit dem Vorurteil auf, dass wissenschaftliche Erkenntnis geradlinig verlaufe.« Philosophie Magazin