'Mit Ende vierzig kehrt der Schriftsteller und Journalist Richard Richter in seine Geburtsstadt Wien zurück. Er entdeckt dort einen Brief, den seine Mutter Paula im Jahr 1941 an einen gewissen Jakob Schneider in Jugoslawien gerichtet hat einen Monat vor Richards Geburt, einen Monat vor ihrem Tod. Aus dem Brief geht hervor, dass Jakob Schneider verschwunden ist und dass die schwangere Paula nicht nach ihm suchen und auch nicht zugeben darf, dass er der Vater ihres ungeborenen Kindes ist denn Jakob ist nicht nur Kommunist, sondern auch Jude. Um sich und das Kind zu schützen, hat Paula inzwischen einen anderen Mann geheiratet; er ist kurz darauf an der Ostfront gefallen. Fünfzig Jahre später tobt mitten in Europa wieder ein Krieg, der Staat Jugoslawien zerfällt. Die Nachricht, dass ein ganz anderer sein leiblicher Vater ist, als bisher geglaubt, und dass dieser Mann noch leben könnte, wirft Richard Richter völlig aus der Bahn. Trotz der Belagerung Sarajewos macht er sich auf den Weg
dorthin, um nach seinem Vater zu suchen. Er wird mitten hineingezogen in die nationalistischen Auseinandersetzungen, erlebt eine leidenschaftliche Liebe und lernt dennoch nicht, die Zeichen seines Schicksals zu lesen, als es beginnt, ihn endgültig herauszufordern.
dorthin, um nach seinem Vater zu suchen. Er wird mitten hineingezogen in die nationalistischen Auseinandersetzungen, erlebt eine leidenschaftliche Liebe und lernt dennoch nicht, die Zeichen seines Schicksals zu lesen, als es beginnt, ihn endgültig herauszufordern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.06.2008Totentanz im Archiv
Crescendo des Unheils: In seinem zweiten Roman schickt der kroatische Autor Igor Stiks seinen Helden nach Sarajevo auf Vatersuche. Er findet den Krieg.
Am 6. April 1992: Der fünfzigjährige Richard Richter befindet sich auf dem Weg von Paris nach Wien. Der Schriftsteller lebt in Scheidung, eine Midlife Crisis macht ihm zu schaffen. Im Zug fällt Richter ein Artikel über einen katholischen Priester auf, der soeben seine verheimlichte jüdische Herkunft entdeckt hat. Auf der Rückseite befindet sich das Bild einer schönen Frau vor Straßenkämpfen in Sarajevo; die Jahre währende Belagerung der bosnischen Stadt hat tags zuvor begonnen. Das Zusammentreffen dieser Umstände wird sich als Menetekel erweisen. "Die Archive der Nacht", der zweite Roman des im Jahre 1977 in Sarajevo geborenen Kroaten Igor Stiks, ist reich an unheilschwangeren Vorzeichen, und es waltet darin ein gnadenloses Schicksal.
Daheim in Wien kriecht Richter erst einmal bei seiner Tante und Ziehmutter unter, einer Schwester der früh verstorbenen Mutter. Doch bald entdeckt er beim Durchbruch einer Mauer einen Brief seiner Mutter an einen gewissen Jakob Schneider. Daraus geht hervor, dass Richters leiblicher Vater ein jugoslawischer Kommunist und Jude war, den seine Mutter in einem "geheimen Zirkel" gegen Hitler kennengelernt hat - und der eines Tages von der Gestapo verhaftet wurde. Da der verschwundene Jakob Schneider aus Sarajevo stammte, lässt sich Richter als Kriegsberichterstatter nach Bosnien entsenden, um den Vater zu suchen.
Dass all das kein gutes Ende nehmen wird, ist bald klar. "Die Archive der Nacht" ist nämlich als Vermächtnis konzipiert. Heißt: Richter hat das Manuskript nach seiner Rückkehr aus Sarajevo kurz vor seinem Selbstmord geschrieben. Die Folge der Retrospektive ist eine Überfülle an Andeutungen. "Heute stehe ich ohnmächtig vor dem dunklen Archiv meines eigenen Lebens, in das sich die Biografien anderer eingesponnen haben, um eben zu jenen Dramen zu werden, aus denen ich hervorgegangen bin." Mit Odysseus- und Ödipus-Vergleichen, Styx und Charon wird die Autorität des antiken Mythos in die Waagschale geworfen. Zahlreich sind die Verweise auf finsteres Getier wie Schlangen und Spinnen. Gegen Ende rieselt Sand durch eine Sanduhr. Garniert wird das Ganze mit rhetorischen Fragen: "Zeichen, Warnungen ... hat es sie gegeben?"
Die Tragödie also nimmt ihren Lauf. In Sarajevo solidarisiert sich Richter - vom Zynismus seiner Journalistenkollegen angewidert - immer mehr mit den Einwohnern. Bei einer Dokumentation über eine Schauspielergruppe lernt er die ebenso schöne wie standhafte junge Alma kennen und lieben. Wiederum menetekelt es, denn ausgerechnet "Homo Faber" soll hier auf die Bühne gebracht werden: In Max Frischs Roman gerät der rationalistische Faber unter die Räder des Schicksals, als er sich ohne sein Wissen ausgerechnet in die eigene Tochter verliebt. Warum die Truppe in der gepeinigten Stadt gerade Frisch inszeniert, versteht man als Leser übrigens trotz Almas ausführlicher Erläuterungen nicht - wohl aber, dass Frischs Sujet Stiks' These eines einzigen Crescendos des Unheils stützt: "Verdammnis" und "Verderben" hier wie dort.
Bei der Vatersuche begegnet Richter auch der geheimnisvolle Jude Simon. Dieser führt ihm das Ende einer Ära der Toleranz und friedlichen Koexistenz in der Vielvölkerstadt vor Augen und erzählt ihm eine Liebesgeschichte aus der Zeit der "Stalinisten"-Verfolgung im Jugoslawien der Nachkriegszeit. Dieser Binnenerzählung gelingt, was im übrigen Roman so wenig glückt: Sie schürzt tatsächlich einmal den Schicksalsknoten, macht ohne mythisches oder rhetorisches Dekor verständlich, warum das Unglück manchmal wie auf Schienen fortzulaufen scheint. Nach vielen Verzögerungen, gehäuftem Sich-Verpassen und Sich-Verfehlen endet "Die Archive der Nacht" tragisch. Was es mit Alma auf sich hat, ob Richter seinen Vater findet - das soll hier nicht verraten werden.
Der in Novi Sad lebende Schriftsteller László Végel hat einmal mit Blick auf die Geschichte Jugoslawiens im zwanzigsten Jahrhundert von einer "Kultur der Massengräber" gesprochen. Gut, dass sich die postjugoslawische Autorengeneration dieser Verwerfungen nun in großangelegten Romanprojekten annimmt. Ähnlich wie dem 1966 gleichfalls in Sarajevo geborenen Miljenko Jergovic mit "Das Walnusshaus" (deutsch 2008), welches eine opulente Familiengeschichte vom Westbalkan quasi im Rückwärtsgang durch das letzte Jahrhundert erzählt, geht es Stiks wohl darum, den Krieg der neunziger Jahre nicht als isoliertes Ereignis stehen zu lassen.
"Die Archive der Nacht" ist der ambitionierte Versuch, die Geschichte(n) von Ost und West, Nationalsozialismus und Bosnien-Krieg miteinander in Beziehung zu setzen. "Man erwartet von Autoren vom Balkan, dass sie auch über den Balkan schreiben", sagte Igor Stiks jüngst bei einer Lesung im Münchner Literaturhaus. "Für mich wäre es ein großer Erfolg, wenn man verstehen würde, dass balkanische Probleme auch europäische sind und umgekehrt." Das ist ein wichtiges Anliegen, nur sollte es unter Verzicht auf Klischees in die Tat umgesetzt werden.
JUDITH LEISTER
Igor Stiks: "Die Archive der Nacht". Aus dem Kroatischen übersetzt von Marica Bodrozic.
Claassen Verlag, Berlin 2008. 379 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Crescendo des Unheils: In seinem zweiten Roman schickt der kroatische Autor Igor Stiks seinen Helden nach Sarajevo auf Vatersuche. Er findet den Krieg.
Am 6. April 1992: Der fünfzigjährige Richard Richter befindet sich auf dem Weg von Paris nach Wien. Der Schriftsteller lebt in Scheidung, eine Midlife Crisis macht ihm zu schaffen. Im Zug fällt Richter ein Artikel über einen katholischen Priester auf, der soeben seine verheimlichte jüdische Herkunft entdeckt hat. Auf der Rückseite befindet sich das Bild einer schönen Frau vor Straßenkämpfen in Sarajevo; die Jahre währende Belagerung der bosnischen Stadt hat tags zuvor begonnen. Das Zusammentreffen dieser Umstände wird sich als Menetekel erweisen. "Die Archive der Nacht", der zweite Roman des im Jahre 1977 in Sarajevo geborenen Kroaten Igor Stiks, ist reich an unheilschwangeren Vorzeichen, und es waltet darin ein gnadenloses Schicksal.
Daheim in Wien kriecht Richter erst einmal bei seiner Tante und Ziehmutter unter, einer Schwester der früh verstorbenen Mutter. Doch bald entdeckt er beim Durchbruch einer Mauer einen Brief seiner Mutter an einen gewissen Jakob Schneider. Daraus geht hervor, dass Richters leiblicher Vater ein jugoslawischer Kommunist und Jude war, den seine Mutter in einem "geheimen Zirkel" gegen Hitler kennengelernt hat - und der eines Tages von der Gestapo verhaftet wurde. Da der verschwundene Jakob Schneider aus Sarajevo stammte, lässt sich Richter als Kriegsberichterstatter nach Bosnien entsenden, um den Vater zu suchen.
Dass all das kein gutes Ende nehmen wird, ist bald klar. "Die Archive der Nacht" ist nämlich als Vermächtnis konzipiert. Heißt: Richter hat das Manuskript nach seiner Rückkehr aus Sarajevo kurz vor seinem Selbstmord geschrieben. Die Folge der Retrospektive ist eine Überfülle an Andeutungen. "Heute stehe ich ohnmächtig vor dem dunklen Archiv meines eigenen Lebens, in das sich die Biografien anderer eingesponnen haben, um eben zu jenen Dramen zu werden, aus denen ich hervorgegangen bin." Mit Odysseus- und Ödipus-Vergleichen, Styx und Charon wird die Autorität des antiken Mythos in die Waagschale geworfen. Zahlreich sind die Verweise auf finsteres Getier wie Schlangen und Spinnen. Gegen Ende rieselt Sand durch eine Sanduhr. Garniert wird das Ganze mit rhetorischen Fragen: "Zeichen, Warnungen ... hat es sie gegeben?"
Die Tragödie also nimmt ihren Lauf. In Sarajevo solidarisiert sich Richter - vom Zynismus seiner Journalistenkollegen angewidert - immer mehr mit den Einwohnern. Bei einer Dokumentation über eine Schauspielergruppe lernt er die ebenso schöne wie standhafte junge Alma kennen und lieben. Wiederum menetekelt es, denn ausgerechnet "Homo Faber" soll hier auf die Bühne gebracht werden: In Max Frischs Roman gerät der rationalistische Faber unter die Räder des Schicksals, als er sich ohne sein Wissen ausgerechnet in die eigene Tochter verliebt. Warum die Truppe in der gepeinigten Stadt gerade Frisch inszeniert, versteht man als Leser übrigens trotz Almas ausführlicher Erläuterungen nicht - wohl aber, dass Frischs Sujet Stiks' These eines einzigen Crescendos des Unheils stützt: "Verdammnis" und "Verderben" hier wie dort.
Bei der Vatersuche begegnet Richter auch der geheimnisvolle Jude Simon. Dieser führt ihm das Ende einer Ära der Toleranz und friedlichen Koexistenz in der Vielvölkerstadt vor Augen und erzählt ihm eine Liebesgeschichte aus der Zeit der "Stalinisten"-Verfolgung im Jugoslawien der Nachkriegszeit. Dieser Binnenerzählung gelingt, was im übrigen Roman so wenig glückt: Sie schürzt tatsächlich einmal den Schicksalsknoten, macht ohne mythisches oder rhetorisches Dekor verständlich, warum das Unglück manchmal wie auf Schienen fortzulaufen scheint. Nach vielen Verzögerungen, gehäuftem Sich-Verpassen und Sich-Verfehlen endet "Die Archive der Nacht" tragisch. Was es mit Alma auf sich hat, ob Richter seinen Vater findet - das soll hier nicht verraten werden.
Der in Novi Sad lebende Schriftsteller László Végel hat einmal mit Blick auf die Geschichte Jugoslawiens im zwanzigsten Jahrhundert von einer "Kultur der Massengräber" gesprochen. Gut, dass sich die postjugoslawische Autorengeneration dieser Verwerfungen nun in großangelegten Romanprojekten annimmt. Ähnlich wie dem 1966 gleichfalls in Sarajevo geborenen Miljenko Jergovic mit "Das Walnusshaus" (deutsch 2008), welches eine opulente Familiengeschichte vom Westbalkan quasi im Rückwärtsgang durch das letzte Jahrhundert erzählt, geht es Stiks wohl darum, den Krieg der neunziger Jahre nicht als isoliertes Ereignis stehen zu lassen.
"Die Archive der Nacht" ist der ambitionierte Versuch, die Geschichte(n) von Ost und West, Nationalsozialismus und Bosnien-Krieg miteinander in Beziehung zu setzen. "Man erwartet von Autoren vom Balkan, dass sie auch über den Balkan schreiben", sagte Igor Stiks jüngst bei einer Lesung im Münchner Literaturhaus. "Für mich wäre es ein großer Erfolg, wenn man verstehen würde, dass balkanische Probleme auch europäische sind und umgekehrt." Das ist ein wichtiges Anliegen, nur sollte es unter Verzicht auf Klischees in die Tat umgesetzt werden.
JUDITH LEISTER
Igor Stiks: "Die Archive der Nacht". Aus dem Kroatischen übersetzt von Marica Bodrozic.
Claassen Verlag, Berlin 2008. 379 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Marion Löhndorf hat diesen Roman von Igor Stiks nur mit Magendrücken genießen können. Die Alarmstufe Rot, die der Autor von Anbeginn und permanent ausruft, wenn er seine Geschichte aus Liebe, Tod, Schuld und Verrat vor der Kulisse des Balkankrieges und des Zweiten Weltkrieges konzertiert, geht der Rezensentin spürbar auf die Nerven. Auch, weil der Plot es will, dass sich ein Kriegskorrespondent auf den Spuren seines verschollenen Vaters ahnungslos in seine Halbschwester verliebt. Des Autors Ehrgeiz dabei lässt Löhndorf allerdings nur eines denken: Melodramatik! Zu groß die Zahl der Zufälle, zu überinstrumentiert jede Situation, zu gering die Freiheit der Figuren, deren Handlungen Löhndorf bloß wie Reflexe in einer "bizarren Verkettung" erscheinen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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