Produktdetails
- Verlag: Weidle Verlag
- Seitenzahl: 150
- Erscheinungstermin: 6. Mai 2014
- Deutsch
- Abmessung: 205mm x 128mm x 7mm
- Gewicht: 170g
- ISBN-13: 9783938803639
- ISBN-10: 3938803630
- Artikelnr.: 40133212
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Christoph Haacker liest Michel Matveev Erinnerungen an sein Überleben als Jude in Kiew, Odessa und im Moskau der 20er Jahre mit Erstaunen über die große Nüchternheit des Autors. Fast wie aus einem Geheimdienstdossier erscheinen ihm die geschilderten Ereignisse und Erlebnisse, nicht wie propagandistische Heldengeschichten. Auch die psychologische Täteranalyse, die Darlegung der Staatsgewalt und des Antisemitismus kommt eher lakonisch daher, meint Haacker, betont aber auch die große Plastizität der Figuren- und Landschaftsbeschreibungen. Matveevs Bücher sind für den Rezensenten bedeutende Mosaiksteine im Bild des 20. Jahrhunderts.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.2014Bevor das Oktobermanifest in Blut ertränkt wurde
Als die russische Revolution noch dem Volk gehörte: Michel Matveev erzählt von den Ereignissen des Jahres 1905
Eine durcheinanderlaufende Menge springt eine scheinbar endlose Treppe hinunter, ein Junge liegt auf dem Boden, ein Kinderwagen rollt einsam die Stufen hinab, während von oben, in geschlossener Linie, die Gewehre angelegt, eine Phalanx von Soldaten nachrückt. Die russische Revolution von 1905 ist ins kollektive Gedächtnis vor allem durch diese Bilder aus Sergei Eisensteins Stummfilm "Panzerkreuzer Potemkin" eingegangen. Mit Michel Matveevs Buch "Die Armee der namenlosen Revolutionäre" ist jetzt eine schriftliche Chronik des turbulenten russischen Jahres 1905 in deutscher Sprache erschienen.
Diese erste Revolution, die noch dem Volk gehörte, die noch improvisiert, ungebrochen optimistisch und moralisch weitgehend ungetrübt war, wird von Matveev aus der Sicht ebenjener kleinen Darsteller erzählt. Wer hofft, sich einen historischen Überblick zu verschaffen, liegt hier falsch. Der Leser erlebt die Ereignisse aus der Froschperspektive, er erfährt ebenso wenig über die großen weltgeschichtlichen Linien wie die kleinen Revolutionäre. Dafür lernt er den Metallarbeiter Ossip mit seinem knochigen Boxerprofil kennen, den erregten Schuster Taleev mit seinem zitternden roten Bärtchen oder den mageren Tischler Daniel mit seinen vor Zorn geballten Fäusten.
Der Autor war im Jahr 1905 etwa dreizehn Jahre alt. Eigentlich hieß er Joseph Constantinovsky, entstammte einer jüdischen Familie und wuchs in der Ukraine auf. Er war Augenzeuge der Ereignisse, sein Vater wurde sogar wegen revolutionärer Umtriebe verhaftet. Später, im Jahr 1919, wurden Matveevs Vater und Bruder bei einem Pogrom getötet, und er begann seine Flucht von Ägypten über Tel Aviv bis nach Paris, wo er 1923 ankam und blieb. Unter dem Namen Joseph Constant widmete er sich in einem Atelier auf dem Montparnasse der Bildhauerei. Dieses künstlerische Interesse merkt man seinem Stil an, wenn er etwa das dreckige Gelb im Gefängnis beschreibt oder das "Schwarz der Menschen, das aus den Fabriktoren verrinnt". Zum Schriftsteller wird der Exilant, wie er selbst schreibt, "eher aus Zufall, und um ein bisschen Geld zu verdienen". Unter seinem zweiten Pseudonym Michel Matveev veröffentlichte er 1929 seinen Revolutionsbericht.
Diese Chronik beginnt lange vor dem Generalstreik: mit den kleinen Gängen, den kleinen Gesprächen, den geheimen Treffen an Straßenecken, die den großen Bildern vorausgehen. Wir befinden uns in einer namenlosen Kreisstadt. Matveev stellt dem Leser die kleinen Statisten der Weltgeschichte vor, die Arbeiter, die Studenten, die Handwerker, die argwöhnischen Bauern, die erst mit List von ihrem eigenen Elend überzeugt werden müssen, die Soldaten, die Drucker im Untergrund, die Sommerferien-Gelegenheitspropagandisten, die adeligen Desperados, die Verräter. Er erklärt die Gravitationsgesetze, nach denen Menschen zusammenkommen, und beobachtet kleine Veränderungen im Selbstvertrauen, die am Ende die Weltveränderung ausmachen.
Im Frühling 1905, als die erbitterten Soldaten aus dem verlorenen Russisch-Japanischen Krieg zurückkehren, wird die Stimmung fiebriger, "alles wird Demonstration". Matveevs Leser sind immer dabei: auf der Straße, in den Zügen, in den geheimen Druckereien, wo die Lettern auf Zigarettenpapier gewalzt werden, bis dann doch die Polizei filzt. Man erfährt von Ausreden, von kleinen Tragödien und davon, wie sich aus binnen einer Stunde auffindbarem Material eine neue Druckmaschine basteln lässt.
"Sie sind verhaftet" - manchmal adressiert Matveev den Leser direkt. Der zweite Teil seiner Chronik spielt im Gefängnis. Diese Berichte lesen sich ein bisschen wie später die von Warlam Schalamov aus dem sibirischen GULag, mit dem Unterschied, dass Matveevs Gefangene die Hoffnung noch nicht verloren haben. Man erfährt von Fluchtmöglichkeiten und dass die Repression nach hinten losgeht, weil die politischen Häftlinge die Zeit in Haft nutzen, um sich weiterzubilden. Aus dem Gefängnis kommen alphabetisierte Bauern und marxistische Philosophen.
Und dann der Herbst, mit dem Generalstreik, der alles lahmlegt und den Zaren Nikolaus II. zu seinem Oktobermanifest nötigt, in dem er bürgerliche Grundrechte und eine angeblich demokratische Verfassung verspricht. Nun scheiden sich die Geister: Die einen sind euphorisch, die anderen skeptisch. Die Partei verändert sich, Berufsrevolutionäre treten auf, die Untergrundkämpfer werden ausrangiert. Auch hier legt Matveev den Finger in die Wunde und beschreibt die fast existentialistische Sinnkrise der frühen Revolutionäre, die ihr kostbarstes Gut, das Gefühl, gebraucht zu werden, verlieren, was manche bis in den Selbstmord treibt.
Die revolutionäre Geschichte Russlands endet nicht mit dem Jahr 1905. "Das Jahr 1906, da ist die Revolution auf dem Weg", schreibt Matveev. Aber es ist jetzt schon eine andere Revolution. Die Fronten haben sich zugespitzt, der Traum einer friedlichen Lösung ist geplatzt, der Terror der Schwarzhundertschaften entlädt sich an den Minderheiten - über das Schicksal der Juden schrieb der selbst betroffene Matveev später seinen Roman "Die Gehetzten".
In der Stimme des Erzählers, dessen genaue Identität bis zum Ende rätselhaft bleibt, schwingt dabei schon ein bisschen von der späteren Avantgarde mit. Er schaut den namenlosen Revolutionären über die Schulter, aber seine Kommentare sind unerbittlich, Verräter müssen vernichtet werden, das Oktobermanifest wird im Blut ertränkt. Manchmal scheint es, als spreche die schaurige Stimme der Revolution selbst.
In Frankreich ist Matveev bekannt für seine späteren Romane, die vor mehr als achtzig Jahren erschienene Revolutionschronik ist dagegen nahezu vergessen. Er wisse nicht, ob es davon überhaupt noch Exemplare gebe, sagt Stefan Weidle. Der auf Exilliteratur spezialisierte Verleger, der schon "Die Gehetzten" veröffentlicht hat, ist mit dem Übersetzer Rudolf von Bittner zufällig in einem Nachlass auf das Buch gestoßen. Eine Gelegenheit, die Revolution von 1905, über die es in deutscher Sprache kaum Literatur gibt, nicht unbedingt zu überblicken, aber zu erleben.
LUISA MARIE SCHULZ.
Michel Matveev: "Die Armee der namenlosen Revolutionäre". Russland 1905.
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Rudolf von Bittner. Weidle Verlag, Bonn 2014. 150 S., br., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als die russische Revolution noch dem Volk gehörte: Michel Matveev erzählt von den Ereignissen des Jahres 1905
Eine durcheinanderlaufende Menge springt eine scheinbar endlose Treppe hinunter, ein Junge liegt auf dem Boden, ein Kinderwagen rollt einsam die Stufen hinab, während von oben, in geschlossener Linie, die Gewehre angelegt, eine Phalanx von Soldaten nachrückt. Die russische Revolution von 1905 ist ins kollektive Gedächtnis vor allem durch diese Bilder aus Sergei Eisensteins Stummfilm "Panzerkreuzer Potemkin" eingegangen. Mit Michel Matveevs Buch "Die Armee der namenlosen Revolutionäre" ist jetzt eine schriftliche Chronik des turbulenten russischen Jahres 1905 in deutscher Sprache erschienen.
Diese erste Revolution, die noch dem Volk gehörte, die noch improvisiert, ungebrochen optimistisch und moralisch weitgehend ungetrübt war, wird von Matveev aus der Sicht ebenjener kleinen Darsteller erzählt. Wer hofft, sich einen historischen Überblick zu verschaffen, liegt hier falsch. Der Leser erlebt die Ereignisse aus der Froschperspektive, er erfährt ebenso wenig über die großen weltgeschichtlichen Linien wie die kleinen Revolutionäre. Dafür lernt er den Metallarbeiter Ossip mit seinem knochigen Boxerprofil kennen, den erregten Schuster Taleev mit seinem zitternden roten Bärtchen oder den mageren Tischler Daniel mit seinen vor Zorn geballten Fäusten.
Der Autor war im Jahr 1905 etwa dreizehn Jahre alt. Eigentlich hieß er Joseph Constantinovsky, entstammte einer jüdischen Familie und wuchs in der Ukraine auf. Er war Augenzeuge der Ereignisse, sein Vater wurde sogar wegen revolutionärer Umtriebe verhaftet. Später, im Jahr 1919, wurden Matveevs Vater und Bruder bei einem Pogrom getötet, und er begann seine Flucht von Ägypten über Tel Aviv bis nach Paris, wo er 1923 ankam und blieb. Unter dem Namen Joseph Constant widmete er sich in einem Atelier auf dem Montparnasse der Bildhauerei. Dieses künstlerische Interesse merkt man seinem Stil an, wenn er etwa das dreckige Gelb im Gefängnis beschreibt oder das "Schwarz der Menschen, das aus den Fabriktoren verrinnt". Zum Schriftsteller wird der Exilant, wie er selbst schreibt, "eher aus Zufall, und um ein bisschen Geld zu verdienen". Unter seinem zweiten Pseudonym Michel Matveev veröffentlichte er 1929 seinen Revolutionsbericht.
Diese Chronik beginnt lange vor dem Generalstreik: mit den kleinen Gängen, den kleinen Gesprächen, den geheimen Treffen an Straßenecken, die den großen Bildern vorausgehen. Wir befinden uns in einer namenlosen Kreisstadt. Matveev stellt dem Leser die kleinen Statisten der Weltgeschichte vor, die Arbeiter, die Studenten, die Handwerker, die argwöhnischen Bauern, die erst mit List von ihrem eigenen Elend überzeugt werden müssen, die Soldaten, die Drucker im Untergrund, die Sommerferien-Gelegenheitspropagandisten, die adeligen Desperados, die Verräter. Er erklärt die Gravitationsgesetze, nach denen Menschen zusammenkommen, und beobachtet kleine Veränderungen im Selbstvertrauen, die am Ende die Weltveränderung ausmachen.
Im Frühling 1905, als die erbitterten Soldaten aus dem verlorenen Russisch-Japanischen Krieg zurückkehren, wird die Stimmung fiebriger, "alles wird Demonstration". Matveevs Leser sind immer dabei: auf der Straße, in den Zügen, in den geheimen Druckereien, wo die Lettern auf Zigarettenpapier gewalzt werden, bis dann doch die Polizei filzt. Man erfährt von Ausreden, von kleinen Tragödien und davon, wie sich aus binnen einer Stunde auffindbarem Material eine neue Druckmaschine basteln lässt.
"Sie sind verhaftet" - manchmal adressiert Matveev den Leser direkt. Der zweite Teil seiner Chronik spielt im Gefängnis. Diese Berichte lesen sich ein bisschen wie später die von Warlam Schalamov aus dem sibirischen GULag, mit dem Unterschied, dass Matveevs Gefangene die Hoffnung noch nicht verloren haben. Man erfährt von Fluchtmöglichkeiten und dass die Repression nach hinten losgeht, weil die politischen Häftlinge die Zeit in Haft nutzen, um sich weiterzubilden. Aus dem Gefängnis kommen alphabetisierte Bauern und marxistische Philosophen.
Und dann der Herbst, mit dem Generalstreik, der alles lahmlegt und den Zaren Nikolaus II. zu seinem Oktobermanifest nötigt, in dem er bürgerliche Grundrechte und eine angeblich demokratische Verfassung verspricht. Nun scheiden sich die Geister: Die einen sind euphorisch, die anderen skeptisch. Die Partei verändert sich, Berufsrevolutionäre treten auf, die Untergrundkämpfer werden ausrangiert. Auch hier legt Matveev den Finger in die Wunde und beschreibt die fast existentialistische Sinnkrise der frühen Revolutionäre, die ihr kostbarstes Gut, das Gefühl, gebraucht zu werden, verlieren, was manche bis in den Selbstmord treibt.
Die revolutionäre Geschichte Russlands endet nicht mit dem Jahr 1905. "Das Jahr 1906, da ist die Revolution auf dem Weg", schreibt Matveev. Aber es ist jetzt schon eine andere Revolution. Die Fronten haben sich zugespitzt, der Traum einer friedlichen Lösung ist geplatzt, der Terror der Schwarzhundertschaften entlädt sich an den Minderheiten - über das Schicksal der Juden schrieb der selbst betroffene Matveev später seinen Roman "Die Gehetzten".
In der Stimme des Erzählers, dessen genaue Identität bis zum Ende rätselhaft bleibt, schwingt dabei schon ein bisschen von der späteren Avantgarde mit. Er schaut den namenlosen Revolutionären über die Schulter, aber seine Kommentare sind unerbittlich, Verräter müssen vernichtet werden, das Oktobermanifest wird im Blut ertränkt. Manchmal scheint es, als spreche die schaurige Stimme der Revolution selbst.
In Frankreich ist Matveev bekannt für seine späteren Romane, die vor mehr als achtzig Jahren erschienene Revolutionschronik ist dagegen nahezu vergessen. Er wisse nicht, ob es davon überhaupt noch Exemplare gebe, sagt Stefan Weidle. Der auf Exilliteratur spezialisierte Verleger, der schon "Die Gehetzten" veröffentlicht hat, ist mit dem Übersetzer Rudolf von Bittner zufällig in einem Nachlass auf das Buch gestoßen. Eine Gelegenheit, die Revolution von 1905, über die es in deutscher Sprache kaum Literatur gibt, nicht unbedingt zu überblicken, aber zu erleben.
LUISA MARIE SCHULZ.
Michel Matveev: "Die Armee der namenlosen Revolutionäre". Russland 1905.
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Rudolf von Bittner. Weidle Verlag, Bonn 2014. 150 S., br., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main