Paris, im Januar 1793: Die Hinrichtung Ludwig XVI. unter der Guillotine steht kurz bevor, ein letzter Versuch zu seiner Befreiung scheitert. Es beginnt die dramatische Phase der Jakobinerherrschaft, der entflammten politischen Leidenschaften, der gegenrevolutionären Verschwörungen und Aufstände. Der Roman erzählt das epochale Ereignis der französischen Revolution aus der Perspektive des gemeinen Volkes, der rebellierenden Frauen und der Sektionen der aufständischen Kommune von Paris.Die Autoren experimentieren dabei mit Stilmitteln des historischen Romans in der Tradition Victor Hugos, Figuren der Commedia dell'arte, der derben Sprache des gemeinen Volkes in der zeitgenössischen Publizistik sowie einer bühnenreifen Komposition in der Art des Théâtre du Soleil von Ariane Mnouchkine.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.04.2020Fünf Autoren mit und ohne Namen
Der Roman "Die Armee der Schlafwandler" des italienischen Quintetts Wu Ming
Aus zweiter Hand nur, aber immerhin aus mehreren Quellen, weshalb man es wohl gelten lassen kann: Der chinesische Ausdruck "Wu Ming" bedeutet je nach Betonung "ohne Namen" oder "fünf Namen". Hinter diesem Pseudonym verbergen sich nicht nur fünf Bologneser, sondern auch allerlei Turbulenzen: Gestartet als literarisches Quartett und da noch mit dem Namen Luther Blissett, landete die Gruppe mit dem Theologiethriller und Reformationsreißer "Q" 1999 einen spektakulären Erfolg. Ein Jahr später erfand sie sich als Wu Ming neu. Inzwischen hat sich das Personenkarussell weitergedreht, der Name aber blieb. Unter dem von Wu Ming sind fünf Romane erschienen, weitere in Kooperation mit anderen.
"Die Armee der Schlafwandler" stammt von 2014, ist jedoch so zeitlos, dass der Verlag Assoziation A seine Wu-Ming-Reihe damit getrost fortsetzen kann. In bewährter Weise greift das Kollektiv auf einen historischen Stoff zurück, diesmal die französische Revolution. Ouvertüre, vier Akte und Epilog, Beginn im Januar 1793, Ende fast exakt zwei Jahre später, noch bevor Napoleon das Ruder an sich reißt. Es geht gleich mit einem rollenden Kopf los, der Hinrichtung von Ludwig XVI., beobachtet von einer aufgeregten Menge: "Ein Milizionär der Nationalgarde hat den Kopf von Louis hochgehalten, aus dem ist noch Blut rausgeflossen, ein paar in der ersten Reihe haben sogar ein paar Spritzer abgekriegt, wahrscheinlich waschen die ihre Klamotten nie wieder, die laufen bis an ihr Lebensende damit rum, als ob das Orden wären."
Unter den anwesenden Royalisten befindet sich auch ein gewisser Laplace, der nach gescheiterter Königsrettung im Irrenhaus Bicêtre untertaucht. Nicht ohne Hintersinn, wie sich rasch zeigt. "Der Mann, der sich Laplace nennen ließ, beobachtete die Szene, die ihm zeigte, dass der Wahnsinn für alle, die Macht ausüben und verstehen wollen, ein unabdingbarer Forschungsgegenstand sein müsste, das Unbekannte, das in jedem Augenblick, in persönlichen wie in kollektiven Angelegenheiten, seinen Einfluss geltend machen konnte."
Es geht hier um eine Theateraufführung mit den Irren in den Rollen der Großen ihrer Zeit. "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade" von Peter Weiss lässt grüßen. Der Roman strotzt natürlich von Anspielungen und Verweisen, doch in erster Linie erzählt er voller Phantasie und in farbenprächtigen Bildern seine eigene Geschichte.
Das Geschehen wird fast durchgängig aus Sicht des sogenannten einfachen Volks wiedergegeben. Der Näherin Marie, des Schauspielers Léo, des Arztes und Mesmerianers D'Amblanc. Sie alle erhoffen sich von der Revolution "Zucker und Freiheit", sie alle werden abgespeist. Verführbarkeit der Massen, ohne diese indes je vorzuführen. Im Gegenteil. Es sind die Figuren, die mit am sympathischsten gezeichnet sind. Wenn dann noch - wie vor allem bei Léo - Kunst und Literatur hochgehalten werden, ist das vielleicht nicht immer authentisch, aber ganz bestimmt kühn gewünscht. Und mit den Bildern, die das Autorenkollektiv für interne Machtkämpfe, für die Unterwanderung einer Gesellschaft mit Spitzeln, für Repression und Wahn findet, unterstreicht es die Universalität dieser Mechanismen.
Das zeigt sich besonders beim Begräbnis von Robespierre, dem Volkshelden und Unbestechlichen. "Marie folgte den anderen und fand sich bald in einem Strom von Menschen wieder, die ohne konkretes Ziel durch die Straßen liefen. Von einer unsichtbaren Strömung getragen, über der der Name des Unbestechlichen schwebte, folgten sie denen, die vor ihnen liefen. Die Gesichter blickten erleichtert und verwirrt zugleich, als sähen sie die Stadt zum ersten Mal, als warteten sie darauf, dass irgendjemand oder irgendetwas sie aus dem Schlaf riss."
Die wahnhafte Verzückung, gepaart mit antiaufklärerischen Ressentiments, führt zu einer Manipulierfähigkeit der Masse, die sich alle Seiten zunutze machen. Laplace begnügt sich längst nicht mehr mit Schlafwandel, sondern möchte eine ganze Armee von roboterhaften Somnambulen heranzüchten. Per Mesmerismus. Das bleibt nicht lange unentdeckt. Daher soll D'Amblanc einige Fälle von animalischem Magnetismus untersuchen, bei denen ein konterrevolutionärer Hintergrund vermutet wird. Tatsächlich kommt er Laplace auf die Spur. Nun muss er einsehen, wie gefährlich diese ganzheitlich verbrämte Scharlatanerie ist. Kurioserweise interessieren sich seine Auftraggeber dann nicht mehr für die Geschichte. Was bleibt, ist ein Showdown in bester Westernmanier, mit Marie und Laplace als Duellanten.
"Erbauliches mit unbedeutenden Charakteren war in Frankreich gerade groß in Mode" - ein Schelm, wer dabei nicht andere Zeiten und Sitten im Blick hat. "Die Armee der Schlafwandler" ist ein raffiniertes Spiel mit allerlei Versatzstücken, mit Fakten und Fiktion, es ist eine temporeiche Geschichte, die viel Stoff zum Nachdenken bietet. Gleichzeitig lädt der Roman zum mäandernden Weiterlesen ein, sei es "Marie Antoinette" von Stefan Zweig oder Egon Friedells "Kulturgeschichte der Neuzeit", die "Psychologie der Massen" von Gustave Le Bon, Umberto Ecos "Foucaultsches Pendel", der "Tambour Leroi" von Lulu von Strauss und Torney oder Uderzos und Goscinnys "Kampf der Häuptlinge". Möglicherweise wartet also eine Armada schlafloser Nächte.
CHRISTIANE PÖHLMANN.
Wu Ming: "Die Armee der Schlafwandler". Roman.
Aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnold. Assoziation A, Berlin 2020. 704 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Roman "Die Armee der Schlafwandler" des italienischen Quintetts Wu Ming
Aus zweiter Hand nur, aber immerhin aus mehreren Quellen, weshalb man es wohl gelten lassen kann: Der chinesische Ausdruck "Wu Ming" bedeutet je nach Betonung "ohne Namen" oder "fünf Namen". Hinter diesem Pseudonym verbergen sich nicht nur fünf Bologneser, sondern auch allerlei Turbulenzen: Gestartet als literarisches Quartett und da noch mit dem Namen Luther Blissett, landete die Gruppe mit dem Theologiethriller und Reformationsreißer "Q" 1999 einen spektakulären Erfolg. Ein Jahr später erfand sie sich als Wu Ming neu. Inzwischen hat sich das Personenkarussell weitergedreht, der Name aber blieb. Unter dem von Wu Ming sind fünf Romane erschienen, weitere in Kooperation mit anderen.
"Die Armee der Schlafwandler" stammt von 2014, ist jedoch so zeitlos, dass der Verlag Assoziation A seine Wu-Ming-Reihe damit getrost fortsetzen kann. In bewährter Weise greift das Kollektiv auf einen historischen Stoff zurück, diesmal die französische Revolution. Ouvertüre, vier Akte und Epilog, Beginn im Januar 1793, Ende fast exakt zwei Jahre später, noch bevor Napoleon das Ruder an sich reißt. Es geht gleich mit einem rollenden Kopf los, der Hinrichtung von Ludwig XVI., beobachtet von einer aufgeregten Menge: "Ein Milizionär der Nationalgarde hat den Kopf von Louis hochgehalten, aus dem ist noch Blut rausgeflossen, ein paar in der ersten Reihe haben sogar ein paar Spritzer abgekriegt, wahrscheinlich waschen die ihre Klamotten nie wieder, die laufen bis an ihr Lebensende damit rum, als ob das Orden wären."
Unter den anwesenden Royalisten befindet sich auch ein gewisser Laplace, der nach gescheiterter Königsrettung im Irrenhaus Bicêtre untertaucht. Nicht ohne Hintersinn, wie sich rasch zeigt. "Der Mann, der sich Laplace nennen ließ, beobachtete die Szene, die ihm zeigte, dass der Wahnsinn für alle, die Macht ausüben und verstehen wollen, ein unabdingbarer Forschungsgegenstand sein müsste, das Unbekannte, das in jedem Augenblick, in persönlichen wie in kollektiven Angelegenheiten, seinen Einfluss geltend machen konnte."
Es geht hier um eine Theateraufführung mit den Irren in den Rollen der Großen ihrer Zeit. "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade" von Peter Weiss lässt grüßen. Der Roman strotzt natürlich von Anspielungen und Verweisen, doch in erster Linie erzählt er voller Phantasie und in farbenprächtigen Bildern seine eigene Geschichte.
Das Geschehen wird fast durchgängig aus Sicht des sogenannten einfachen Volks wiedergegeben. Der Näherin Marie, des Schauspielers Léo, des Arztes und Mesmerianers D'Amblanc. Sie alle erhoffen sich von der Revolution "Zucker und Freiheit", sie alle werden abgespeist. Verführbarkeit der Massen, ohne diese indes je vorzuführen. Im Gegenteil. Es sind die Figuren, die mit am sympathischsten gezeichnet sind. Wenn dann noch - wie vor allem bei Léo - Kunst und Literatur hochgehalten werden, ist das vielleicht nicht immer authentisch, aber ganz bestimmt kühn gewünscht. Und mit den Bildern, die das Autorenkollektiv für interne Machtkämpfe, für die Unterwanderung einer Gesellschaft mit Spitzeln, für Repression und Wahn findet, unterstreicht es die Universalität dieser Mechanismen.
Das zeigt sich besonders beim Begräbnis von Robespierre, dem Volkshelden und Unbestechlichen. "Marie folgte den anderen und fand sich bald in einem Strom von Menschen wieder, die ohne konkretes Ziel durch die Straßen liefen. Von einer unsichtbaren Strömung getragen, über der der Name des Unbestechlichen schwebte, folgten sie denen, die vor ihnen liefen. Die Gesichter blickten erleichtert und verwirrt zugleich, als sähen sie die Stadt zum ersten Mal, als warteten sie darauf, dass irgendjemand oder irgendetwas sie aus dem Schlaf riss."
Die wahnhafte Verzückung, gepaart mit antiaufklärerischen Ressentiments, führt zu einer Manipulierfähigkeit der Masse, die sich alle Seiten zunutze machen. Laplace begnügt sich längst nicht mehr mit Schlafwandel, sondern möchte eine ganze Armee von roboterhaften Somnambulen heranzüchten. Per Mesmerismus. Das bleibt nicht lange unentdeckt. Daher soll D'Amblanc einige Fälle von animalischem Magnetismus untersuchen, bei denen ein konterrevolutionärer Hintergrund vermutet wird. Tatsächlich kommt er Laplace auf die Spur. Nun muss er einsehen, wie gefährlich diese ganzheitlich verbrämte Scharlatanerie ist. Kurioserweise interessieren sich seine Auftraggeber dann nicht mehr für die Geschichte. Was bleibt, ist ein Showdown in bester Westernmanier, mit Marie und Laplace als Duellanten.
"Erbauliches mit unbedeutenden Charakteren war in Frankreich gerade groß in Mode" - ein Schelm, wer dabei nicht andere Zeiten und Sitten im Blick hat. "Die Armee der Schlafwandler" ist ein raffiniertes Spiel mit allerlei Versatzstücken, mit Fakten und Fiktion, es ist eine temporeiche Geschichte, die viel Stoff zum Nachdenken bietet. Gleichzeitig lädt der Roman zum mäandernden Weiterlesen ein, sei es "Marie Antoinette" von Stefan Zweig oder Egon Friedells "Kulturgeschichte der Neuzeit", die "Psychologie der Massen" von Gustave Le Bon, Umberto Ecos "Foucaultsches Pendel", der "Tambour Leroi" von Lulu von Strauss und Torney oder Uderzos und Goscinnys "Kampf der Häuptlinge". Möglicherweise wartet also eine Armada schlafloser Nächte.
CHRISTIANE PÖHLMANN.
Wu Ming: "Die Armee der Schlafwandler". Roman.
Aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnold. Assoziation A, Berlin 2020. 704 S., geb., 28,- [Euro].
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